Reichweitenangst – kein wirklich neues Phänomen
05.01.2023
Vor wenigen Wochen durfte ich zum ersten Mal eine längere Strecke in einem Elektroauto zurückgelegen. Zwar nur als Beifahrer, dennoch wurde ich sogleich Zeuge eines Phänomens, das scheinbar vorwiegend unter Nutzern von batterieelektrischen Personenwagen zu beobachten ist: die Reichweitenangst. Meiner Pilotin wurde nämlich gleich nach Fahrtantritt etwas mulmig, als ihr Wagen ihr vorrechnete, dass er die gut 300 Kilometer lange Strecke mit einem Überschuss von weniger als zehn Kilometern absolvieren würde – Tendenz fallend.
Laut einer Nutzer-Umfrage auf der Internet-Seite von auto motor und sport teilt sie die Sorge der ungewissen Ankunft mit 58 Prozent der E-Auto-Nutzer. Auf meine neugierige Frage, was denn passieren würde, wenn uns unterwegs der Saft ausginge, folgten Schauergeschichten aus dem Bekanntenkreis: Einen Tesla dürfe man auf keinen Fall bis auf null Prozent leerfahren, da auch die Türen elektrisch geöffnet würden. Einem Freund von ihr wäre das 'mal passiert, und der hätte dann eine Scheibe einschlagen müssen. Sicherheitshalber sollten wir zwischendrin nachladen.
Spontan denke ich an jene Zeit zurück, als nur der Fahrer für die Kalkulation des Aktionsradius zuständig war und seine Sorglosigkeit somit selbst in der Hand hatte. Allerdings blieb auch dabei stets ein gewisses Restrisiko, denn selbst die besten Kopfrechenkünste waren kein Garant für eine unterbrechungsfreie Fahrt. Als Fahrer eines englischen Klassikers kenne ich das Problem nur allzu gut: nur weil die Benzinuhr noch einen 25-prozentigen Füllstand anzeigt, heisst das nicht, dass der Inhalt des Tanks auch wirklich noch zu einem Viertel aus Kraftstoff besteht.
Selig, wer nach Tageskilometerzähler fährt. Aber auch der schützt nicht vor unfreiwilligen Pausen wegen Ebbe im Tank. So zeigte mir mein Nasenbär-Passat einmal auf einer längeren Autobahnfahrt noch ein verbliebenes Achtel der Ursprünglich 70 Liter Super an – genug führ eine entspannte Fahrt bis zur nächsten Dorftankstelle. Und gerade, als das dreistellige Zählwerk wieder "nullte" und ich mich über die ungewöhnliche Sparsamkeit wunderte, begann der Motor zu husten, sodass aus der Fahrt zur Dorftankstelle eine Wanderung wurde.
Das geht natürlich auch in die andere Richtung: etwa dann, wenn die (wie ich jetzt weiss sehr präzise) Benzinuhr im Opel Rekord P1 ohne das kleinste Zucken unveränderlich auf "L" steht, die letzte Füllung des 40-Liter-Tanks aber erst 200 Kilometer her ist. Da man selbstverständlich sein Auto besser kennt als es sich selbst, ignoriert man das Signal – bis sich der Opel bewegungsunfähig am Strassenrand wiederfindet. Durch einen undichten Benzinschlauch hatte sich der Kraftstoffverbrauch nämlich nahezu verdoppelt – und das Kombiinstrument lag leider richtig.
Am schlimmsten sind aber jene Momente, in denen sowohl Kilometerzähler als auch Tankuhr sofortigen Handlungsbedarf signalisieren – und mitten in der Einöde natürlich keine Tankstelle 98-Oktan-Benzin anbietet. Dann muss man sich auch als Betreiber einer Verbrennungskraftmaschine entscheiden, was das kleinere Übel ist: zu hohe oder gar keine Zündwilligkeit mehr, Klopffestigkeitssorge oder Reichweitenangst. Eine Miskalkulation kann zwar auch hier einen längeren Fussmarsch nach sich ziehen. Aber wenigstens blieben dabei alle Fenster heil.