Edi Wyss erinnert sich an Jo Siffert
24.10.2021
Es gibt Ereignisse, da steht die Zeit still. Und alle können sich später noch genau an den Moment erinnern. Der 24. Oktober 1971 war so ein Datum. Die (Schweizer-) Rennsportwelt hielt den Atem an und verstummte: Am Sonntag Nachmittag verunglückte Jo „Seppi“ Siffert bei einem nicht zur WM zählenden Formel-1-Rennen in Brands Hatch tödlich – ausgerechnet auf jenem Kurs, auf dem er drei Jahre zuvor seinen ersten, ganz grossen Sieg feiern konnte.
Auf zwischengas.com wurden bereits mehrere Berichte über Jo Siffert publiziert, die sein Leben und seine Leistungen umfangreich beleuchten:
- Jo Siffert, das Schweizer Ausnahmetalent
- Jo Siffert - Tod auf dem Karrierehöhepunkt
- Mario Illien, Prof. Dr. Ferdinand Piëch, Klaus Bischof, Jacques Deschenaux und Paul Blancpain über Jo Siffert
Sonntag Morgen am 24. Oktober 1971 in Culver City, einem Stadtteil von Los Angeles – dort ist die CanAm-Homebase von Jo Siffert mit Edi Wyss und Hugo Schibler. Im Holiday-Inn, in dem beide logieren, läutet das Telefon. Wyss nimmt den Hörer ab und hört die teilnahmslose Stimme von Vince Granatelli, dem Sohn von STP-Boss Andy, durch den Hörer: «Jo hatte in Brands Hatch einen schweren Unfall, er hat es nicht überlebt». 50 Jahre danach erinnert sich Wyss noch genau an diesen Augenblick – wie wenn es erst gestern gewesen wäre!
Innert Sekunden zerschlugen sich alle Pläne und Projekte, die Wyss mit Siffert für die kommende Zeit vereinbart hatte: Der Umbau des Porsche 917/10-CanAm-Spiders für das 9 Stunden-Rennen in Kyalami wird gestoppt, die Vorbereitung für die Saison 1972 ebenso. In die Schockstarre ruft Siffert’s Manager Paul Blancpain (1943 – 2019) Edi Wyss an und bestätigt Granatellis Telefongespräch. «Es ist so, inventarisiert alles, dann kommt ihr zurück in die Schweiz», weist er die beiden an.
Nach Bruce McLaren erlebt Wyss innerhalb von 16 Monaten mit Siffert zum zweiten Mal, wie der Rennfahrertod zuschlägt. «Es war eine wilde Zeit mit unglaublichen ‘Sicherheitsstandards’. Es gab nichts, keine sicheren Tanks, zerbrechliche Chassis, unsichere Strecken ohne Leitplanken – meist noch gesäumt von Bäumen, Streckenposten, deren Feuerlöscher, wenn’s drauf ankam, sicher nicht funktionierten! Man kann sich das alles heute gar nicht mehr vorstellen», blickt Edi Wyss zurück. Und doch möchte er diese Zeit nicht missen: «Es waren verrückte und intensive Zeiten, in einem faszinierenden Sport, ständig am Limit», charakterisiert er diesen Lebensabschnitt.
Der Zürcher hatte Siffert’s Karriere von Anfang an aus der Ferne verfolgt. Richtig aufgefallen ist Jo Siffert dem jungen Automobil-Ingenieur Edi Wyss 1968 bei der «Daily-Express-Trophy», einem nicht zur WM zählenden Formel-1-Rennen in Silverstone: «Nach dem Abschluss meines Ingenieurs-Studiums ging ich nach England, um Englisch zu lernen, leistete mir den Besuch dieses Rennens und war völlig fasziniert. Es war mein Schlüsselerlebnis, für mich klar war – da will ich bleiben». Er schaute im Fahrerlager beim Team von Siffert vorbei und bekundete sein Interesse an einem Job in der Formel-1-Szene. Der Fribourger Rennfahrer konnte ihm nichts anbieten und riet ihm «wie ein Stör-Schuhmacher», wie sich Wyss erinnert, von Team zu Team zu gehen und für einen Job nachzufragen. Er landete schliesslich via dem Privat-Team von Joakim Bonnier ein halbes Jahr später bei McLaren.
«Bei den beiden Grand-Prix in Kanada und den USA 1968 habe ich Siffert wieder getroffen», erzählt Wyss. An den Rennen bildete sich jeweils eine kleine Schweizer Kolonie mit den Journalisten Adriano Cimarosti, Ernst Graf und Siffert – in dessen Schlepptau immer auch sein Mechaniker Jean-Pierre Oberson und der Künstler Jean Tinguely aufkreuzten – und eben Edi Wyss. Die Begegnungen intensivierten sich.
Siffert fuhr in der Saison 1969 und 1970 für Porsche einige CanAm Rennen in Übersee, Wyss half mit bei der Betreuung der McLaren-CanAm-Autos für Bruce McLaren, Denis Hulme und Peter Revson. An der Targa Florio im Mai 1971 fragte Siffert den Zürcher Autoingenieur, der mittlerweile für den Lola T210 und den Ferrari 512 M von David Weir unterwegs war, ob er nicht im Sommer mit ihm in die USA kommen würde, um seinen neuen Porsche 917/10 in der CanAm einzusetzen. Sie verabredeten, sich in Le Mans im Juni nochmals über dieses Thema zu unterhalten. Dort eröffnete Siffert Wyss seinen Deal mit Porsche: Er hätte einen Vorvertrag mit Ferdinand Piech ausgehandelt. Falls er in Le Mans kein Verschulden an einem möglichen Ausfall tragen würde, könne er für 65'000 US-Dollars einen Porsche 917/10 (Rolling Chassis) erwerben und in der CanAm einsetzen. Den Einsatz müsse er selbst bezahlen, Porsche-Audi USA würde die Spesen des Teams übernehmen. Prompt fiel er dann «unschuldig» mit einem Kurbelwellenschaden an seinem 917er aus – der Deal mit Porsche war perfekt!
Wyss freute sich auf die Einsätze mit dem Schweizer. «Siffert war in diesen Jahren bereits ein Star. Er gehörte weltweit sicher zu den absoluten ‘Top-Five-Rennfahrern’ – dies nachdem er unglaubliche persönliche Opfer gebracht hatte, um überhaupt so weit zu kommen», erinnert sich Wyss und fährt weiter: «Er war ein Racer, immer schnell, egal in welchem Auto er sass. Wenn etwas nicht richtig funktionierte oder Motorleistung fehlte, fuhr er auch mal mit dem Messer zwischen den Zähnen…».
In Sifferts kleinem CanAm-Team lernte Wyss den Schweizer Rennfahrer richtig gut kennen. Eine Woche nach den 24-Stunden von Le Mans unterzeichneten Siffert und Wyss den Arbeitsvertrag für die CanAm-Saison 1971. Geplant waren Testfahrten in Hockenheim mit einem Porsche 917/10 Spyder, dann der erste Renneinsatz beim zweiten oder dritten Saison-Rennen in Mont Tremblant oder in Road Atlanta. Siffert hatte vorgespurt, Sponsorverträge unterschrieben und in Kansas City bei Art Bunker und später in Los Angeles bei Richie Ginther gleich zwei Stützpunkte eingerichtet, damit in den grossen USA nicht noch längere Wege zurückzulegen waren. Alles war sehr professionell vorbereitet und organisiert!
Ende Juni 1971 schickte Siffert Edi Wyss nach Stuttgart mit dem Auftrag, «den CanAm-Porsche abzuholen». Als er dort eintraf, war von einem Rennwagen nichts zu sehen! Er hatte die vornehme Aufgabe, den Porsche selbst aufzubauen und dies möglichst schnell! «Es warteten drei Wochen harte Arbeit auf mich und die Helfer von Porsche, bis das Rohrrahmenchassis zusammen geschweisst war. Dann stand der noch weisse und mit den Stickers der Sponsorfirmen provisorisch beklebte 917/10 für Testfahrten in Hockenheim bereit – mit einigen Wochen Verspätung erfolgte die Verschiffung nach Übersee. Anstatt bereits beim zweiten Saison-Rennen in die CanAm einzusteigen, debütierte das Team erst beim vierten Lauf in Watkins Glen,» erzählt Wyss.
Bis es soweit war, mussten Siffert, Schibler und Wyss aber nochmals bangen. «Am Hotel-Pool in Boston haben wir tagelang darauf gewartet, dass der Porsche endlich eintrifft. Erst am Nachmittag vor dem ersten Training zum mittlerweile vierten Rennen war es soweit. Wir haben den Rennwagen abgeholt, sind die ganze Nacht durchgefahren und am Morgen übermüdet, aber rechtzeitig zum ersten Training in Watkins Glen eingetroffen», schildert Wyss den CanAm-Auftakt des Schweizer Teams. Es klappte noch nicht alles, Siffert beklagte sich über das Handling, es reichte nur für den neunten Starplatz, zuvorderst stand zur Überraschung der erfolgsverwöhnten McLaren-Crew Jackie Stewart mit dem Lola-Chevrolet des Haas-Teams.
Zusammen mit dem Porsche-Ingenieur Helmut Flegl, den Siffert extra für das Auftaktrennen engagiert hatte, wurde für Abhilfe gesorgt. Flegl und Wyss suchten sich am Samstag Nachmittag (!) nach dem Abschlusstraining eine mechanische Werkstatt in Watkins Glen und wurden fündig. «Das Inventar von ‘Frost-Engineering’ erinnerte mehr an ein Museum, denn an eine gebrauchstaugliche Werkstatt. Flegl fand eine uralte Drehbank, ‘Frosty’ – der Inhaber, zentrierte gekonnt die Stossdämpfer, machte den Einstich – und fertig. Ich hätte viel, viel länger gebraucht», bewundert Wyss noch heute das handwerkliche Geschick des alten Firmenbesitzers, derweil er mit dem Schneidbrenner die Titan-Federn kürzte. Siffert reagierte positiv auf die Änderungen. Die McLaren-Piloten Revson und Hulme feierten den erwarteten Doppelsieg, Siffert stieg als Dritter mit ihnen auf das Siegespodium!
Siffert musste in Watkins Glen noch ein weiteres Problem lösen: Sein weisser CanAm-Porsche sollte zwischen Training und Rennen das spezielle STP-Leuchtend-Rot seines Hauptsponsors verpasst erhalten. «Wir glaubten nie daran, dass es klappen würde», lacht Wyss. Sie hatten alle nicht mit der Abgebrühtheit von Nat Reeder gerechnet. Der STP-Mann holte am Samstag Abend die Karosserieteile des Porsche 917/10 ab, suchte sich in Watkins Glen eine Autolackierwerkstatt und kreuzte am andern Morgen tatsächlich mit den leuchtend roten Teilen wieder auf dem Rennplatz auf! Siffert sorgte persönlich dafür, dass alle Sponsor-Aufschriften in der richtigen Grösse am richtigen Ort aufgeklebt wurden.
Das durchgehende, leuchtende Rot wurde bei andern Rennen dann ab und an mit einem Blau ergänzt. «Wir hatten nur eine Haube. Wenn Siffert bei kleinen Ausritten die Haube beschädigte, konnten wir nicht auf das originale STP-Rot zurückgreifen. Dies war dem offiziellen STP-Mann Nat Reeder vorbehalten. Da musste halt das Blau aus dem erst besten verfügbaren Farbtopf herhalten», schmunzelt Wyss.
«Siffert vertraute Hugo Schibler, mit dem ich zusammen den Porsche betreute, und mir alles. Von Porsche-Audi USA erhielt der Fribourger jeweils eine Audi-Limousine oder einen Porsche 911. Angekommen auf dem Rennplatz wollte er genau wissen, was wir alles vorbereitet hatten und ob alles in Ordnung sei. Er hatte eine absolut professionelle Einstellung und verlangte dies auch von seinem Umfeld», resümiert Wyss. Selten verlor er die Contenance. Wyss kann sich nur gerade an einen Vorfall erinnern, an dem ausgerechnet er die Schuld trug: «Beim Rennen in Minneapolis berechnete ich den Benzinverbrauch nicht richtig. Siffert lag kurz vor Rennende auf dem dritten Platz hinter den unschlagbaren McLaren von Revson und Hulme. Hugo und ich freuten uns schon auf die Preisgeldbeteiligung. In der letzten Runde ging Siffert das Benzin aus, aus dem dritten wurde schlussendlich ein fünfter Rang». Siffert kam nach der Zieldurchfahrt in die Boxen, fluchend mit «Nom de Dieu, M…rde, eh bien, j’ai dit!». Nach kurzer Zeit war der Zorn verraucht…».
Auch die Geschäftstüchtigkeit von Jo Siffert hat Edi Wyss hautnah miterlebt: «Beim Rennen in Elkhart Lake, Siffert holte vor allen andern McLaren hinter Peter Revson den zweiten Platz, hatte er Sponsorverhandlungen mit Ölfirmen. Von Porsche war vorgeschrieben, Shell zu nehmen. Ob auf dem Rennwagen eine andere Firma ihren Badge aufklebte, war den Stuttgartern egal. In seinem Camper empfing Seppi gleichzeitig Firmenvertreter von zwei unterschiedlichen Öl-Herstellern. Er gab ihnen klar zu verstehen: ‘Mit demjenigen, der mehr zu zahlen bereit ist, schliesse ich den Deal ab!’».
Die Stimmung der kleinen Schweizer-Delegation, die bei einigen CanAm-Rennen von Siffert-Fans besucht wurde, war hervorragend. «Siffert war ein Racer. Immer versucht, das Maximum herauszuholen und zu gewinnen. Er war mutig, aber nie übermütig. Er hatte ein grosses technisches Verständnis, vielleicht nicht ein so extrem Grosses wie damals Bruce McLaren, aber der war absolut ‘out-standing’. Siffert setzte professionelle, seriöse Arbeit von jedem Einzelnen voraus, genauso, wie er im Cockpit alles gab. Und er war immer umgänglich und korrekt. Wir alle wären für ihn durchs Feuer gegangen!», schildert Wyss.
Am 17. Oktober fuhr Jo Siffert in Laguna Seca sein letztes CanAm-Rennen. Er holte den fünften Rang heraus. Man verabschiedete sich, freute sich auf den letzten Meisterschaftslauf am 29. Oktober in Riverside, quasi ein Heimrennen und nur gerade 60 Meilen von der Homebase entfernt. Zwischen den CanAm-Rennen war noch das schicksalshafte Formel-1-Rennen in Brands Hatch am 24. Oktober eingeplant. Anstatt in Riverside war Edi Wyss am 29. Oktober in Fribourg einer der Sargträger an der Beerdigung seines Fahrers Jo «Seppi» Siffert…
In diesen Tagen erreichte Wyss ein Telefonanruf von Tyler Alexander von McLaren – der Schweizer kehrte im folgenden Jahr mit den Kiwis an die Rennstrecken der Indy-Cars nach Nord-Amerika zurück.
Keiner ahnte, dass der Abschied in Laguna Seca am 17. Oktober 1971 ein Abschied für immer sein würde.
Steckbrief Edi Wyss
Man sieht es ihm nicht an: Im 2022 wird Edi Wyss 80 Jahre alt: Topfit, schlank und gestählt von unzähligen Rennrad-Kilometern jedes Jahr, meist in Begleitung von Mary, seiner Partnerin. Nach einer Feinmechaniker-Lehre studierte er in Biel und schloss als dipl. Automobil-Ingenieur ab. Mit 25 Jahren dockte er, nach einem kleinen Umweg über das Privat-Team von Joakim Bonnier, bei seinem Wunschteam McLaren an. Dort betreute er 1969 den Formel-1-Rennwagen von Denny Hulme und musste ein Jahr später dann zum McLaren-Alfa-Romeo von Andrea de Adamich wechseln. «You are continental and your tools are metric“, begründete Bruce McLaren. «Ausserdem war ich der italienischen Sprache mächtig», schmunzelt Wyss.
Er betreute für Jo Siffert 1971 für eine Saison den Porsche 917/10, kehrte zu McLaren zurück, stellte für Tecno einen Formel 1 auf die Beine respektive auf die Räder, gab ein kurzes Gastspiel bei Herbert Müller für den Umbau des Ferrari 512 zum CanAm-Ferrari-Spider, konstruierte für Peter Sauber mit dem C4 den ersten Sauber mit einem Monocoque-Chassis und hatte dann genug von der Rennerei.
Er konzentrierte sich auf die Restauration von Ferraris, zuerst als Geheimtipp in der Szene. Heute ist er der Spezialist für die Marke mit dem springenden Pferd. Seine Firma in Hermatswil (Pfäffikon ZH) hat er verkauft, ist trotzdem noch regelmässig dort anzutreffen, schliesslich liegt die Werkstatt auch nur gerade einen Steinwurf von seinem Wohndomizil entfernt.
Momentan konzentriert er sich auf seine Abarths (eine seiner «Lebenslieben») und sorgt dafür, dass der Ferrari 365 GT4 2+2 für seine Mary endlich wieder auf die Strasse kommt.
Wer mehr über Edi Wyss erfahren möchte, der sei auf das spannende Buch "The Swiss Wiz: Edi Wyss - Ein Leben mit Renn- und Sportwagen” verwiesen.