Archive sind viel mehr als nur "nice to have"
Es ist einige Jahre her, da wurde ich nach Turin eingeladen. Der Zweck war die Eröffnung des FCA Heritage-Hub, eines Kompetenzzentrums von Stellantis (damals war es eben noch FCA) für die Marken Fiat, Lancia, Abarth und – etwas weniger ausgeprägt da bereits in Arese sein Langem ein Museum mit Archiv existiert – Alfa Romeo.
Umfassende Lancia-Sammlung ohne viel Museums-Zugemüse.
Der damalige FCA-Präsident John Elkann war da, auch Roberto Giolito, der Direktor der Heritage-Hub und ehemaliger Fiat-Chefdesigner. Auf sein Konto gehen Geniestreiche wie der aktuelle (Verbrenner)-Fiat 500 oder so kontroverse Würfe wie der Fiat Multipla.
Wirklich grossartig im Heritage Hub ist die Fülle der in einer alte Halle des Mirafiori-Werks untergebrachten Lancia-Modelle. Im Prinzip stehen dort alle relevanten Typen und darüber hinaus natürlich noch einige mehr. Ebenso stehen hier zahlreiche Fiat, darunter Erstlinge und Prototypen aber auch manches Exemplar, das eine Serie abgeschlossen hat und als letztes vom Band gerollt ist.
Als Museum ist der Heritage-Hub relativ spärlich mit didaktisch-museumspädagogischem Zugemüse verunstaltet. Die Autos dürfen zu weiten Teilen für sich selbst sprechen. Zudem, so damals versprochen, würden künftig auch sämtliche Unterlagen zu den bei Fiat und Lancia gebauten Modelle hier gelagert.
Fiat, darunter viele Exemplare, die als letzte vom Band gelaufen sind, und Prototypen.
Neulich suchte ein Bekannter Informationen zu seinem Lancia Y. Recht überschwänglich riet ich ihm, sich auf der Website des Heritage-Hubs umzusehen. Und tatsächlich, ein Link verweist hier auf eine Eingabemaske, wo die wichtigsten Fahrzeugdaten erfasst werden können, dies zur Anforderung eines Build-Sheets, der Geburtsurkunde eines Autos. Die geforderten Angaben waren schnell eingetippt, eine Antwort kam umgehend: "…we are very sorry to inform you that this service is temporarily suspended…".
Toll gemacht! Über die Gründe oder die Zeitdauer, bis der Service wieder eingerichtet sein wird, herrscht Stillschweigen.
Aktuell sind sämtliche Anfragen zu Lancia-Modellen suspendiert. Wann der Service wieder erhältlich sein wird, ist unbekannt. Eine Anfrage des Build-Sheets für einen Lancia Y10 Turbo ist gescheitert.
Ist dies ein Grund zur Panik? Wir wissen es nicht. Beim Chrysler-Archiv in Detroit scheint man hingegen weiterhin Unterlagen für alle Marken unter diesem Dach zur Verfügung zu stellen. Die Verantwortliche Danielle Szostak-Viers – E-Mail: [email protected] – bearbeitet entsprechende Anfragen, wie der Blick in verschiedene Foren bestätigt und von meiner eigenen Erfahrung gestützt wird.
Dasselbe gilt für Peugeot und Citroën, wo unter [email protected] verschiedenste Unterlagen zu den entsprechenden Fahrzeugen nachgefragt werden können, darunter auch die Geburtsurkunde eines Autos.
Bei Opel scheint die Anfrage über die Verbindung der Alt-Opel-IG zur Classic-Abteilung der Rüsselsheimer zu klappen, ein entsprechender Link führt zum Anfrageformular.
Wenn man allerdings bedenkt, wie komplex die Produktionsprozesse mancher Autos sind, diese aber trotzdem gebaut werden können, so wundert man sich darüber, warum in einem Konzern denn ein an sich einfaches Thema so fürchterlich unterschiedlich gehandhabt wird. Aber will man das überhaupt? Denn es ist ja auch erfreulich, dass bei Stellantis gewisse Informationen sehr nahe an den ursprünglichen Quellen gelagert werden und abrufbar sind. Denn oft sind die Menschen, die damals an der Entstehung der Produkte beteiligt waren, noch immer in irgend einer Form bei ihrer Firma engagiert, manchmal gar als Volontäre für "ihr" Archiv. Bei einer zentralisierten Anfrage oder gar dem Zusamenlegen der verschiedenen Archive ginge ziemlich sicher sehr viel Information verloren.
Porsches heiliger Archivschrank mit den Fahrzeugkarten der ersten rund 30 Produktionsjahre. Bei einer einst so kleinen Firma ist die Archivhaltung wesentlich einfacher. Doch die Firmenkultur im Umgang mit der Vergangenheit spielt eine ebenso wichtige Rolle, ob später auch einen umfassenden Bestand zurückgegriffen werden kann. Porsche ist in dieser Hinsicht mustergültig. Die Fahrzeugkarten können jedoch aus Sicherheitsgründen (Fälschungen!) nicht mehr umfassend im Original eingesehen werden.
Waren Archive nicht schon immer in Gefahr?
Und eine dezentrale Lagerung ist manchmal ein Vorteil. zum Beispiel aus Sicherheitsgründen. Eine Anekdote am Rande: Nach dem verheerenden Feuer an der Browns Lane in Coventry – der Jaguar-Fabrik – im Februar 1957, als eine Fabrikationshalle, die Entwicklungsabteilung und mehrere hundert Autos (darunter auch einige XKSS) ein Raub der Flammen wurden, pflegte Chefkonstrukteur William "Bill" Heynes die Originalpläne im Doppel mit nach Hause zu nehmen – aufgrund der Gedanken, die sich sein Chef Lyons und er selber gemacht hatten nach dem Glück im Unglück. Als ich vor einigen Jahren bei Clive Chapman von Classic Team Lotus einen Besuch abstattete – damals noch in der alten Werkstatt – war ich mehr als erstaunt, dass der historische Rennstall sämtliche Originalpläne der Lotus-Rennwagen, genauso wie die Ordner mit den Daten aller Rennen von Team Lotus, in einem Holzkorpus neben der Werkstatt respektive in einer Schrankwand im Büro nebenan lagerte, unweit entfernt von da, wo ab und zu auch geschweisst wurde. Mit dem neuen Gebäude werden die Pläne und Unterlagen nun ordnungsgemäss aufbewahrt und digitalisiert.
Doch zurück zu den Volumenherstellern: Angesichts der erforderlichen Grösse liefe die zentrale Lagerung von Archivalien Gefahr, von einem übereifrigen Manager bei einer nächsten Sparübung weggefegt zu werden. Oft hat sich gezeigt, dass dezentrale, kleinere Archive grössere Chancen haben, dem Übereifer sparwütiger Manager und Rediteoptimierer paroli zu bieten. Nur ist es dann umso schwieriger, an die entsprechenden Informationen zu gelangen.
Es ist zu hoffen, dass der bereits erfolgte Marktstart mancher chinesischen Automarke ohne jegliche Vergangenheit die etablierten Hersteller dazu bewegt, mit ihrem Asset, den garantiert niemand einfach so kopieren kann, etwas sorgsamer umzugehen: ihrer Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund warten wir dann gerne noch etwas länger, bis gewisse Services bei einigen Marken wieder aktiviert werden.






















