Harmonie im Endstadium – Erinnerungen an eine Studentenkarre
02.12.2022
Ein Citroën AX sollte es sein. Nicht weil meine Grossmutter einmal einen fuhr, sondern vor allem, weil er im Nachbarort gerade rumstand: ein Sondermodell namens "Harmonie" im eleganten Metallicfarbton Birma-Blau für studentenfreundliche 250 Euro. Aus zweiter Hand, ohne TÜV und mit 100'000 Kilometern. Einen Satz Winterreifen gab es dazu – ohne Felgen.
Der B-Säulenfuss war auf beiden Seiten schon verdächtig rostig, die Oberseite des Motors verdächtig ölig und die Heckklappe liess sich nur noch über einen selbstgebauten Seilzug mit einem Weinkorken am Ende öffnen. Alle vier Räder hatten unterschiedliche Farben, die Antriebswellen klopften eifrig in jeder Kurve und die Passgenauigkeit des ersetzten Auspuffmittelrohrs war so schlecht, dass man es eigentlich auch hätte weglassen können.
Trotzdem schaffte es der AX irgendwie ohne Schmiergelder über den TÜV und zurück auf die Strasse – die er trotz jugendlichen Leichtsinns hinter dem Lenkrad nie unbeabsichtigt verliess. Obwohl man sich mit der Kombination aus 45 PS, 135er-Reifen und nicht einmal 700 Kilogramm Leergewicht auf deutschen Landstrassen auch bei völlig legalen Geschwindigkeiten stets an der Grenze des physikalisch Machbaren bewegte. Der AX flog durch Kurven mit der Leichtigkeit eines Lotus Elise und der Seitenneigung einer Pappel bei Orkanstärke Zehn. Dabei röhrte er wie ein alter Rallye-Escort. Was für eine herrliche kleine Mistkarre!
Nur ein bisschen wasserscheu war sie. Nach einer spontanen Rallycross-Einlage mit spritzenden Schlammlöchern und radnabentiefen Flussdurchfahrten irgendwo im Rheinland gab der geschundene TU-Motor erst eine Weile von selbst Vollgas, starb dann ab und liess sich danach nicht mehr Starten. Feuchtigkeit und Steuergeräte vertragen sich anscheinend nicht so gut. Aber kaum dass ein Polo Steilheck, ein Helfer und ein Abschleppseil organisiert waren, sprang der Vierzylinder an, als wäre nichts gewesen.
Ein kleinwenig nachtragend war der Citroën indes wohl doch. Denn das Spiel wiederholte sich fortan nach jedem Waschstrassenbesuch. Mit dem frisch gewaschenen Auto direkt wieder in den Dreck der Strasse zurück? Das ist doch nur etwas für Hektiker! Der AX wollte zunächst für innere Harmonie bei sich und seinem Besitzer sorgen. Und deshalb nahm er sich immer Zeit zum Trocknen und gab mir grosszügig Gelegenheit, an der Tankstelle noch einen Automatenkaffe und ein aufgebackenes Croissant zu verzehren.
Bis er dann frisch ausgeruht wieder fröhlich losröhrte und mich dem nächsten ausserplanmässigen Abenteuer ein Stück näherbrachte. Dabei war er stets sparsam und bemerkenswert komfortabel. Selbst der bleiernste Fuss trieb seinen Durst nie über sieben Liter Super auf 100 Kilometern. Die Sitze mit dem veloursartigen Stoffbezug gehören bis heute zu den besten, auf denen ich je platznehmen durfte. Und das Vierganggetriebe klackte so präzise durch die Kulisse wie das einer Corvette Sting Ray – was ich damals freilich noch nicht wusste.
Natürlich war an einem damals 19 Jahre alten französischen Kleinwagen nicht alles perfekt. Bei heftigen Bodenwellen sprang die CD im Radio immer ein kleines Stück voran. Das Relais des Interwallwischers klackte so laut wie das des Blinkers. Und jenseits von 130 km/h fing es immer an, ein wenig verkohlt aus der Lüftung zu riechen. Doch der AX machte alles, was wenig Kontakt mit Wasser enthielt, klaglos mit. Er half bei Lagerräumungen, schleppte Kühlschränke und zog einmal sogar zwei festgefahrene SUV aus einer Morastwiese.
Was wohl der örtliche Maserati-Händler davon hielt, dass ich seine Kennzeichenrahmen spazieren fuhr? Wahrscheinlich hat er es nicht einmal bemerkt. Und wenn, wäre er wohl neidisch geworden. Denn kein Maserati hätte eine derartige Behandlung überlebt. Doch auch der AX musste schliesslich sterben. Keinen spektakulären Rennfahrertod kopfüber in einem Kartoffelacker und auch durch keinen lautstarken Zylinderdurchschuss auf der A6 bei gnadenlos überdrehten 160 km/h. Nach zwei Jahren verloren seine Rostblasen einfach das Duell gegen die Schraubendreher-Stichproben des TÜV-Prüfers.
Seit fünf Jahren ist mein AX nun schon ein komprimierter Würfel. Und auch wenn ich inzwischen automobil aufgestiegen bin und einen komfortablen Sechszylinder hege und pflege – manchmal sehne mich doch wieder nach ein wenig Harmonie in meinem Leben.