Der unsichtbare Dritte
16.04.2022
Gelegentlich stösst man beim Stöbern im Archiv auf alte Werbefotografien für Autos und fragt sich, welche Botschaft sie wohl einst vermitteln sollten. Auch auf diesem Renault-Motiv von 1956 wirkt zunächst alles ganz normal: Zwei junge Frauen im Badeanzug und hinter ihnen am Strand das zu bewerbende Auto ergeben ein Motiv voll sommerlicher Leichtigkeit, das den Wunsch weckt, den nächsten Mittelmeer-Urlaub unbedingt in der Dauphine unter die Räder zu nehmen.
Bis man den Typen mit der Rolleiflex und dem verschlagenen Gesichtsausdruck unter dem Sonnenschirm entdeckt und sich fragt: Was hat der denn hier zu suchen? Warum schaut er nicht durch den Sucher? Wissen die beiden Damen überhaupt, dass er dort sitzt? Seine Haltung wirkt nicht wie die eines fröhlichen Urlaubs-Schnappschuss-Fotografen. Viel mehr hat es den Anschein, als wolle er den Fotoapparat so gut es geht verstecken. Und plötzlich ändert sich der Film im Kopf. Statt einer seichten Komödie spielt sich nun ein Psychothriller ab. Vielleicht gehört die Limousine in "bleu méditerranée" auch dem Kameramann und die Mädels sind lange vorher zu Fuss gekommen. Noch scheint es jedenfalls, als hätten sie ihren Beobachter nicht bemerkt.
So seltsam das Motiv auch anmuten mag – irgend etwas wird sich der Werbefotograf sicher dabei gedacht haben. Und sei es auch nur der absurd-spezifische Wunsch, den Redaktor eines Züricher Oldtimer-Magazins exakt 66 Jahre später ins Grübeln zu bringen.