„Klausenrennen 1929“ ist mit spitzer Feder auf dem Foto eingekritzelt. Hoch über der Strasse ein Band. „Start“ steht drauf und „Scintilla“, die führende Marke für Zündmagneten. Darunter eine Bretterbude für Zeitnehmer und ihre Uhren. Sie soll vor Nässe aber auch Hitze schützen. An einer Stange ist unübersehbar die Tafel genagelt: „Hausieren untersagt“. Rennwagen, hintereinander aufgereiht, warten auf ihre Startzeit und mit ihnen die Fahrer, die Mechaniker, Fotografen und Journalisten.
Ein Mercedes, zwei Bugatti, ein Maserati und direkt an der Startlinie der Alfa Romeo. Am Steuer, ein Italiener, den Blick starr in die Ferne gerichtet. Nebelschwaden verhüllen die Startkurve. Ihr Charakter lässt sich nur erahnen: Zuerst scharf rechts, dann sofort links. Pflastersteine. Schleudergefahr! Schwach sind Umrisse einer Mauer erkennbar. Zuschauer umsäumen die ersten Meter der 21 Kilometer langen Strecke. Hunderte! Männer in modischer Sportkleidung mit Dächlikappen, Knickerbockers, Spazierstock, in Leder verpackte Motorradfahrer, Frauen mit „Bubikopf-Frisur“. An der Startlinie steht ein Sportkommissar: Gross, spindeldürr, in hellen Hosen, weissem Stehkragen, mit Gilet samt Uhrenkette und einem rabenschwarzen, fast bis zum Knie reichenden Gehrock. Ein Schlapphut verdeckt seine rechte Stirnhälfte, die linke wird selbstbewusst freigegeben.
Ein Mechaniker startet den 8-Zylindermotor des Alfa Romeos. Eine energische Drehung an der Kurbel genügt. Der Motor erwacht, zuerst widerwillig, stotternd, dann brummt er ruhig vor sich hin. Noch versperrt der Kommissar mit dem Schlapphut den Weg ins Ziel. Jetzt zählt er die letzten Sekunden. Noch zehn, noch neun. Der junge Italiener tritt das Gaspedal nieder, die acht Zylinder brüllen auf. Der ganze Wagen vibriert, zittert und mit ihm die Strasse, die Zuschauer. Ein Gasstoss löst den andern ab. Ein infernalisches Stakkato. Fünf, vier, drei, - der Fahrer rückt den ersten Gang ein – zwei, eins, los! Der Spindeldürre hält den Schlapphut fest, weicht einen Schritt zurück und gibt die Strecke frei. Die Kupplung packt zu. Wild drehen die Antriebsräder auf dem lockeren Schotter durch.
Doch der Alfa Romeo kommt nicht von der Stelle. Es ist, als ob ein Unsichtbarer dem wild gewordenen Grand Prix-Rennwagen die Finger ins Heck krallt, die spindeldürren Beine in den Strassenstaub stemmt und ihm die Fahrt in den dichten Nebel verhindern will. Jetzt – er lässt los, ein Ruck und wie von der Sehne geschnellt, stürzt sich der Wagen wild schleudernd auf die Startgerade. Erschreckt weichen Zuschauer zurück. 200 PS hetzen den Alfa Romeo auf die Nebelwand zu. Schon wird er von ihr verschluckt. Zurück bleibt der süssliche Geruch von verbranntem Rizinusöl.
Aus dem Nebel hallt das ohrenbetäubende Gekreische des Kompressors - vielfach verstärkt durch die Linthal einkesselnden Kalkwände. Die erste Kurve scheint gemeistert zu sein.
Da reisst der Ton ab. Schlagartig. Für einen Moment herrscht Totenstille. Gelähmt starren die Zuschauer nach dem verschwundenen Rennwagen. Doch der Nebel gibt nichts preis. Nichts! Hat er Schrei und Weh erstickt? Da springen erste Zuschauer auf, rennen über die Strasse, wollen helfen, retten. Sie rufen nach Sanitätern, nach dem Arzt. Das Rennen wird gestoppt. Die Motoren verstummen. Eine Ambulanz rast los. Eine zweite. Und plötzlich sind sie da. Wie aus dem Nichts, die nach Sensationen geifernden Gaffer. Sie behindern die Retter, versperren ihnen den Weg.
Der spindeldürre Sportkommissar mit dem fast bis zum Knie reichenden Gehrock rückt seinen Schlapphut tief in die Stirne, duckt sich, späht nach links, nach rechts und verschwindet mit weichen Tritten lautlos in der Zuschauermenge….
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