Auf Nebenstrassen durch die Automobilgeschichte (4): Chinesischer Automarkt vor 100 Jahren
Es ist doch so: Die schönsten, interessantesten und manchmal auch schrägsten Entdeckungen macht man auf Nebenstrassen. Das gilt auch für Nebenstrassen der Automobil- Geschichte. Diese Serie bringt Überraschendes aus früheren Zeiten zu Technik, Design und Leben mit dem Auto.
       
    
1921 veröffentlichte das französische Büro für Aussenhandel eine Studie zum chinesischen Automarkt, um die französische Industrie zum Export zu motivieren. Das offizielle Bulletin des Verbandes der französischen Automobil- Industrie publizierte daraus einige interessante Fakten.
Peking
    
Aktuell zirkulieren in Peking etwas mehr als 900 Autos aller Kategorien und Marken. Die Amerikaner sind dominierend (Ford, Overland, Oakland, Buick, Chevrolet und King), wegen ihrer relativ niedrigen Prise und den Zahlungserleichterungen für die Kunden.
Die französischen Marken sind nur schwach vertreten (Brasier, Clément Bayard, Renault), und das mit Vorkriegsmodellen.
Die Verkaufspreise liegen zwischen 1500 und 5000 Dollars. Es handelt sich wegen der strengen Winter und der starken Winde ausschliesslich um geschlossene Fahrzeuge (Limousinen).
Die Karosserie wird oft vor Ort gebaut oder in Teilen geliefert. Die innerstädtischen Strassen sind für Automobile befahrbar. In Pekings Umgebung sind ungefähr 50 Kilometer fahrbar. Eine Strasse zwischen Peking und Tientsin (ca. 83 km) ist im Bau. Mit dem Auto erreichbar ist bereits Tungchow (13 km). Automobil-Fahrdienste gibt es zwischen Kalgan und Ourga (550 Meilen) in der Region der Wüste Gobi. Die heikelste Passage ist der Kalgan-Pass nach Hanaba, in ca. 15 Meilen Entfernung von Kalgan. Betrieben wird der Service von der «Ta Chen Autobus». Jeder Wagen fasst 4 Passagiere mit einem Gepäck von je 14 kg. Der Preis: 120 Dollar.
Für die französische Industrie wäre es interessant, einen Wagen für diesen Dienst zu bauen, für diese Region zu adaptieren und der Firma zu verkaufen. In Peking betreiben die Herren Gebrüder Boixo und Chaperon Autohandel. Zahlreiche chinesische Garagen vermieten Autos. Und gemäss Polizeiangaben zirkulieren in Peking ungefähr 40'000 Rischkas mit Luftreifen.
Tientsin
    
Die Verbindungsstrasse mit Peking ist im Bau. Die Region ist meist eben, Steigungen liegen zwischen 4 bis 5%, einzig nahe Peking 10- 12 %. Viele Strassen sind gepflastert und für den Autoverkehr geeignet. Die Brücke tragen bis 6 Tonnen. In der Provinz gibt es zahlreiche unbefestigte Pisten.
Die jährlichen Steuern: 2 Dollar pro Auto und Konzession, 7 Konzessionen in Tientsin.
Medien für Werbung: Journal de Péking (französisch), Peking & Tientsin Times (englisch) sowie North China Star (amerikanisch).
Autotypen, die Interesse finden könnten: Voiturettes 10 HP Torpedo 2 und 4 plätzig; 18 HP Torpedo und Limousine.
Die Kundschaft ist anspruchsvoller als in Europa. Nachgefragt werden gepflegte Wagen mit geräumiger und gut ausgestatteter Karosserie
Shanghai
    
Wenige Strassen, aber in gutem Zustand. Keine Steigungen, Rundfahrten um die Stadt, keine brauchbaren Pisten.
Zoll: 5% auf den Fahrzeug-Wert, nächstes Jahr eventuell 10% zur Unterstützung der Hungernden im Norden.Aktuell zirkulierende Autos: 2522 Personenwagen, 290 Lastwagen.
Nachgefragte Wagen- Typen: Voiturettes für die Händler, schöne Limousine für die Privaten.
Provinz Kouang-tong
Strassenverkehr: Nur in der Stadt Kanton, wo seit anderthalb Jahren 30 km Boulevard asphaltiert wurden, bei einer Breite von 30-150 englischen Fuss.
Betriebsstoffkosten: Benzin 4 Dollars pro 4,8 Gallonen, Motoröl 6,3 Dollars für 4,8 Gallonen.Importe: 1920 60 Personenwagen, 2 Autobusse und 2 Camions, alle aus Amerika. Man erwartet auch einige französische Wagen.
Medien für Werbung: Lokale Zeitungen in Chinesisch. Canton Times ist die einzige lokale englische Publikation.
Nachgefragte Wagen: Keine speziellen Angaben. Autobusse sollten mit den städtischen Tram-Installationen kompatibel sein. Geplant ist ein Ankauf von Camions für die Kehrichtabfuhr.
       
    
Kommentar
Eine interessante Faktensammlung. Ein paar Dinge fallen besonders auf: Schon damalswar der chinesische Käufer anspruchsvoll. Der Bau von asphaltierten Strassen steckte in den Anfängen und beschränkte sich auf Städte. Informationen über Steigungen waren relevant.
Zeitungen (für die Werbung) erschienen auch in französisch und englisch. Importiert wurden Chassis. Karosserien wurden vor Ort gebaut oder aus importierten Teilen zusammengesetzt. Und ebenfalls auffallend: Schon damals boten die Amerikaner Zahlungserleichterungen an.
Das waren also Chinas Anfänge mit dem Automobil. Damals hätten sich die Europäer nicht träumen lassen, dass sie sich 100 Jahre später von chinesischen Elektroautos bedrängt sehen würden. 2023 war ein Wendejahr: Da verlor VW seine Marktführerschaft in China an BYD. BYD? Dieser chinesische Hersteller baut nicht nur Elektro-Autos sondern auch Batterien. Und BYD ist die Abkürzung für Build Your Dreams. BYD statt BMW? Traumfabrik statt Motorenwerke? Und werden in 100 Jahren an Oldtimerauktionen BYDs zu Bieterschlachten führen? Fragen über Fragen...

































