Fundstücke und Aberglaube
Manchmal sind es einfach die Umstände, die einen zu einer Autofahrt bewegen. Im Herbst beispielsweise ist es im Voralpenraum oft der zwischen den Hügelzügen festhängende Nebel, der einen in die Flucht treibt. Also setzt man sich an einem trüben Wochenende ins Auto und fährt los, in der Hoffnung, oberhalb der Nebelgrenze – also irgendwo oberhalb von 800 bis 1300 Metern über Meer – auf die Sonne zu stossen. Das lässt, so muss ich mir eingestehen, manchmal auch einige Fragen offen. Etwa ob ich solch einer Fahrt noch einen weiteren Sinn hinzufügen kann. Das wäre etwa der Besuch eines Ortes, das Besorgen eines schon seit Langem vermissten Ersatzteils oder ein Treffen mit Freunden, die man schon lange nicht mehr gesehen hat. Somit ist nicht nur der Weg, sondern auch das Ziel – nun – das Ziel!
Neulich war es wieder soweit: Nebel bereits am Freitag. Dann ist dies aber nicht weiter schlimm, ausser dass sich die Fahrradfahrer in Zürich am Abend in der Dunkelheit noch schlechter ausmachen lassen. Doch auch der Samstag war grau und trüb. Der Zürichsee lag kaum sichtbar zwischen Zimmerberg und Pfannenstil eingebettet, und bei mir brannte die Lust, meinen erst vor kurzem etwas von seinen Leiden wie Klappern und Poltern befreiten Jaguar XJ12 ordentlich auszufahren. Die Kiste – eigentlich ein Irrsinn, aber gerade darum so reizvoll. Selbst der legendäre Jaguar-Testfahrer Norman Dewis soll einst gemeint haben: "The Jaguar V12 wasn't really necessary." – sollte etwas Bewegung erhalten und mein Besuch (ein Freund aus Holland) derweil eine kleine Lektion Kunst- und Kulturgeschichte mit abbekommen. Unser Ziel hiess Einsiedeln. Hätte der Freund mir nicht verraten, dass er am Vortag den Klosterbezirk samt Bibliothek von St. Gallen besucht habe, wäre ich vielleicht anderswo hingefahren. Doch vor uns lag also das Klosterdorf mit der imposantesten Barockkulisse der Schweiz.
Gut ist es, wenn den Besuchern einer Touristendestination das geboten wird, was sie als erstes suchen: Parkplätze! Einsiedeln lässt sich in diesem Punkt nicht lumpen. Meist ist ein freier Platz direkt auf dem Klosterplatz zu finden. Zwischen all den modernen SUVs wirkt der XJ, trotz seiner stolzen Länge jenseits der fünf Meter – eine Kanada-Version mit US-Stossstangen – wie ein Kleinwagen. Ein MG F (per Zufall gleich daneben und für sich auch schon ein Klassiker) ist genauso hoch – respektive niedrig.
Einsiedeln bietet naturgemäss als wohl wichtigster Pilgerort der Schweiz eine reiche Auswahl an Gaststätten. Also galt es als erstes, einen Kaffee zu trinken. Dann folgte der Gang durch die Hauptgasse. Leider hatte die berühmte Bäckerei Goldapfel an ihrem Ursprungsstandort – es gibt auch ein modernes Ladengeschäft am Hauptplatz – noch zu, also blieb etwas Zeit für Umwege. Diese führten uns durch die Pferdestallungen des Klosters, durch die reich verzierte Klosterkirche und danach in einen Devotionalienladen mit Statuen, Kruzifixen, Plaketten, religiöser Literatur, Ex-Voto-Tafeln – und Krippenfiguren.
Vor einiger Zeit bin ich von meiner Patin – sie ist im Alter von 99 Jahren gestorben – mit einer italienischen Weihnachtskrippe der 1950er-Jahre beerbt worden. Darin enthalten sind einige Figuren, solche aus Holz, aber auch solche aus einer Art Plastik. Vielleicht ist es dieselbe Masse auf Basis von Leinöl, aus der einst Linoleumböden oder die historischen Figuren von – kein Zufall, der ähnliche Name – "Lineol" hergestellt wurden. Vielleicht war es ein Zufall (oder Glück) oder der italienische Hersteller hat einst Millionen davon in aller Welt abgesetzt, doch ich fand einen kompletten Satz identischer Figuren als NOS – also "New Old Stock", alte Lagerware – in besagtem Laden. Die Verkäuferin bestätigte, dass sich diese Schachtel wohl schon seit Urzeiten im Fundus befinden müsse und ergänzte, dass sie sich gewundert habe, dass einer diese überhaupt gefunden habe. Die ehrliche Haut! Auf der Jagd nach Altertümern gehöre ich somit zu den seltsameren Kunden. Damit kann ich leben.
Nun ist also meine Krippentruppe wieder vollständig, und die Freude war entsprechend gross. Weihnachten kann kommen; ich bin bereit. Die Freude wurde an diesem Tag aber noch gesteigert durch den Besuch des kleinen Goldapfel-Museums hinter dem historischen Ladenlokal und dem Kauf einiger "Häliböcke" (einem Honiggebäck) und gefüllten, hellen und braunen Krapfen – fantastisch zu Kaffee! Einen Kirschenlikör aus der Region gab es zum Probieren, und der Service dort ist ausgezeichnet!
Und der Jaguar lief danach völlig problemlos. Dies hat mich dennoch nicht davon abgehalten, ihm eines der wichtigsten und nachhaltigsten Ersatzteile überhaupt zu gönnen. Das Wunderlichste daran: Es stammt ebenfalls aus besagtem Devotionalienladen. Wie? Nein, natürlich waren das nicht die Krippenfiguren. Das wäre ja völliger Quatsch. Es ist die Plakette des heiligen Christophorus. Sie trägt das Bildnis desselben Schutzheiligen der Reisenden, der wohl auch für die Namensgebung der Porsche-Hauszeitung hinzugezogen worden ist. Nun, Christophorus prangt jetzt mit dem kleinen Christus-Bübchen auf dem Buckel im Motorraum auf dem Kühlerrahmen, gleich neben der dort montierten Zündspule. Ich denke, das hilft.
Seit ich Auto fahre, hat es mir stets geholfen, eine solche Plakette im Auto zu haben. Beim VW-Transporter bedeckte sie das Loch, wo einst der Schalter für das Blaulicht meines ehemaligen Ambulanzwagens sass. Im Caterham hielt der heilige Christoph magnetisch die Parktickets bis zum Verlassen der Tiefgarage. Und im Jaguar beweist er nun, dass es bei diesem Beispiel britischer Komplexität und zum Teil lausiger Teilequalität durchaus ratsam sein kann, auf die guten "Vibes", die wohlgesinnten Geister oder eben die Hilfe "von oben", oder zumindest der Helfer dessen von oben zu hoffen.
Kennen Sie das? Trägt ihr Auto auch irgendeinen Talisman, ein Symbol des Glücks? Und begleitet ihre Fahrt im Klassiker manchmal auch der Ausruf nach allen Heiligen und die Fürbitte an den Allmächtigen, selbst wenn Sie womöglich (so wie ich) kaum wirklich religiös sind?
Die wahre Absicht an jenem Samstag – dem Nebel zu entfliehen – haben wir nicht geschafft. Auch weiter oben, auf der Sattelegg kroch der Nebel über die Passhöhe. Die Leberli mit Rösti mussten wir draussen in Decken gehüllt geniessen, von Sonne keine Spur. Die Runde mit dem Auto aber, das während der gesamten Ausfahrt absolut klaglos funktionierte – ausser dass es einem mit seinem Durst zum Bettler macht, aber da bin ich nun wirklich selber schuld. Gewarnt wurde ich oft genug von den Abgründen eines Jaguar-Zwölfzylinders der 1980er-Jahre – die kam einer kleinen Reise zur Essenz des Klassikerfahrens gleich: Man kann es auch ohne wirklichen Grund tun. An guten Vorwänden fehlt es einem selten und wenn man erstmal losgefahren ist, dann begegnet man allerlei Dingen, über die man womöglich sonst keinen einzigen Gedanken verschwendet hätte – wie an Krippenfiguren oder Christophorus-Plaketten beispielsweise. Und meinem Gast hat die Fahrt gefallen.





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