Wer gerne mit seiner ganzen Sippschaft offen fahren möchte, hatte in den Sechzigerjahren (und auch danach) nie allzu viel Auswahl. Dies war auch im August 1961 nicht anders, als Mercedes den 220 SE als offene Variante präsentierte, eine trotz oder wegen des hohen Preises fast schon konkurrenzlose Offerte.
Die Limousine im Jahr 1959 als grosser Wurf
Im Sommer 1959 präsentierte Mercedes neue Sechszylinder-Limousinen-Modelle, intern W 111 genannt. Diese setzten sich vor allem karosserietechnisch und optisch vom Vorgänger ab, verfügten sie doch über mehr Fensterflächen, stehende Scheinwerfer vorne und Flossen am Heck. Doch auch unter dem Blech hatte sich viel gewandelt, vor allem in das Fahrwerk und die passive Sicherheit hatte viel investiert. Der neue “Benz” war so gut geworden, dass die Lieferfristen schon bald mehrere Monate betrugen und dies trotz ansehnlicher Preisen.
Die Autozeitschriften überboten sich gegenseitig mit Superlativen, für einige war mit dem Mercedes-Benz 220 SE (mit Einspritzmotor) gar das “Auto der Zukunft” geschaffen. Knautschzonen, umfangreiche Massnahmen für die innere Sicherheit, ein durchdachtes Belüftungskonzept, bequeme Sitze, aber vor allem ein komfortables und fahrsicheres Fahrwerk wurden als wichtige Fortschritte gefeiert.
Das Coupé als Zukunftsbote im Jahr 1961
Für die sportlicheren Varianten liess sich Mercedes dann fast zwei Jahre Zeit und präsentierte im Februar 1961 zunächst das Coupé 220 SE. Dieses übernahm die komplette Rahmen-Bodengruppe der Limousine, welche wegen der wegfallenden B-Säulen aber verstärkt werden musste.
Optisch setzte sich das Coupé allerdings deutlich von der Limousine ab. Bei gleicher Grundfläche war die Karosserie acht Zentimeter flacher und das Heck komplett neu gezeichnet worden. Die Flossen waren entfallen, die Heckleuchten filigraner geworden. Alles wirkte eleganter und fliessender.
Das Interieur hatte man ebenfalls neu gestaltet, um den hohen Ansprüchen der Kundschaft gerecht zu werden. Viel Holz und Leder bescherten ein exklusives Ambiente im Innern, das für fünf Personen eingerichtet war.
Die offene Variante kurz danach
Im August 1961 stellte man rechtzeitig vor der IAA dem Coupé eine offene Variante beiseite. Technik und Karosserie konnten direkt übernommen werden, das geschlossene Dach wich einer stabilen Stoffbedeckung, das Gewicht stieg wegen Verstärkungsmassnahmen immerhin um 90 Kilogramm.
Preislich lag das Cabriolet noch einmal rund 2000 DM oder 3000 Franken teurer als das bereits teure Coupé, gegenüber der Limousine musste für die offene Variante fast das Doppelte angelegt werden. DM 25’500 oder CHF 36’800 standen in der Preisliste, Servolenkung, Radio und andere Annehmlichkeiten wollten zusätzlich bezahlt werden.
Durchdachte Konstruktion
Auch Coupé und Cabriolet der Baureihe W111 waren sorgfältig konstruierte Autos, dies konnte der Kunde für das viele Geld ja auch erwarten. Die Zeitschrift Auto Motor und Sport prüfte im Frühling 1961 das neue Coupé. Reinhard Seiffert hiess der Mann hinter dem Lenkrad und er konnte kaum ein Haar in der Suppe finden, so perfekt zeigte sich der neue Wagen.
Als negative Punkte wurde die grosse Verkehrsfläche, der nicht sehr bequeme Einstieg nach hinten (2 Türen) und die nicht optimal ablesbaren Instrumente erwähnt, als Vorzüge aber das gleichzeitig komfortable und sichere Fahrwerk, der äusserst flexible und leistungsfähige Motor und die insgesamt hohe Qualität, die sich gerade auch im Interieur zeigte.
Auch die Fahrleistungen stimmten, 14 Sekunden benötigte das Coupé für den Spurt von 0 auf 100 km/h, als Spitzengeschwindigkeit wurden 171,4 km/h notiert, die wohl damals nur auf den wenigen Autobahnen erreicht werden konnten. Selbst mit dem Testverbrauch von 15,7 Liter pro 100 km durfte man sich zufrieden geben.
Eine wichtige Neuerung beim Coupé waren die serienmässigen vorderen Scheibenbremsen von Girling (mit Servobetätigung von Teves), die viel Lob von den Testfahrern erhielten.
Edles Interieur
“Innen nichts gespart” schrieb Seiffert in seinem Testbericht. Im Gegensatz zur Limousine verfügte das Coupé nicht über eine Lenkrad-, sondern eine sportlichere Mittelschaltung. Der Kardantunnel war deutlicher ausgeprägt, die Sitzposition tiefer. Dank niedriger Gürtellinie fühlte sich die Besatzung aber nicht eingemauert, sondern profitierte von einer dank Panoramascheiben fast uneingeschränkten Rundumsicht.
Viel Handarbeit floss in die Verlegung von weichem (bei den Sitzen perforiertem) Leder, den (vakuum-geformten) Holzverkleidungen und den edlen Teppichbesätzen.
Für den Fahrer hatte man eine neue Instrumenten-Anordnung mit grossen Rundinstrumenten für Drehzahl und Geschwindigkeit und kleinen vertikalen Anzeigen für die übrigen Überwachungsfunktionen vorgesehen.
Wer wollte konnte auch Schalensitze bestellen oder eine Stoffpolsterung ordern. Wie bei der Limousine wurde auch beim Coupé viel Gewicht auf eine wirksame Heizungs- und Lüftungsanlage gelegt.
Stetige Weiterentwicklung, langes Leben
Bereits im März 1963 erschien mit dem 300 SE eine deutlich erstarkte Variante, 1965 wurden zwar die Limousinen-Modelle der Baureihe W111 ersetzt, Coupé und Cabriolet aber praktisch unverändert beibehalten. Sie erhielten aber nun den 150 PS starken 2,5-Liter-Motor und grössere 14-Zoll-Räder, wie sie auch die 300 SE-Modelle hatten.
Im Januar 1968 ersetzte der 280 SE den 250 SE, grössere Anpassungen zeigten sich ansonsten aber unnötig.
Ein Jahr später im September 1969 wurde dann mit der V8-Variante 280 SE 3.5 der Leistungsgipfel erreicht. Die Front passte man dem Zeitgeschmack an, der Kühler wurde dabei flacher, die Motorhaube niedriger. Die Stossstangen erhielten Gummileisten.
Bis in den Sommer 1971 dauerte die Produktion der Coupés und Cabriolets der Baureihen W111 und W112, insgesamt entstanden 28’918 geschlossene und 7013 offene Varianten.
Vom 220 SE Cabriolet wurden 2729 Exemplare gebaut, die übrigen Motorversionen waren noch seltener.
Einen direkten Nachfolger erhielten die grossen Cabriolets nicht, erst Jahrzehnte später gab es wieder familientaugliche Offenvarianten im Modellprogramm von Mercedes.
Ein fortschrittliches Auto
Wer schon zuvor selbst einen zwanzig oder dreissig Jahre jüngeren Mercedes gefahren ist, wird sich auch im 220 SE Cabriolet des Jahres 1961 wohl und heimisch führen. Die Instrumente kennt man bereits aus der Pagode, das knochige Schaltgefühl des Vierganggetriebes mit klassischem “H” genauso. Gestartet wird über das Zündschloss und dank Einspritzung sind keine Fussübungen nötig, um den Motor am Leben zu halten. Der Klang ist überraschend kernig bei wohltönender Note. Auch Lenkung und Pedalerie fühlen sich kaum anders an als bei deutlich neueren Autos.
Die Rundumsicht ist hervorragend und man rekelt sich zufrieden in den gut gepolsterten Clubsesseln mit edlem Lederüberzug.
Hektik kommt keine auf, ein Sportwagen will der 220 SE als Cabriolet nicht sein, obschon die gebotenen 120 PS mit den 1420 kg Leergewicht aus dem Mercedes sicherlich kein Verkehrshindernis machen. Für Landstrassengeschwindigkeiten ist man perfekt gerüstet und dort ist das edle Cabriolet auch bestens aufgehoben. Dort lernt man auch die Elastizität des Motors und den hohen Fahrkomfort schätzen. Um mit der Familie zum Landgasthof zu fahren, gibt es kaum ein besser geeignetes Fahrzeug.
Wir danken der Galerie Fischer, die den Wagen am 28. Mai 2016 anlässlich der Swiss Classic World in Luzern versteigert , für die Gelegenheit zur Fotosession.
Weitere Informationen
- ADAC Motorwelt Nr. 10 vom 1. Oktober 1959 - Seite 690: Wir testen den Mercedes 220 S
- AR-Zeitung Nr. 29 / 1960 vom 30.Jun.1960 - Seite 17: Langstreckentest Mercedes-Benz 220, 220S, 220 SE
- AR-Zeitung Nr. 9 / 1961 vom 02.Mrz.1961 - Seite 3: Vorstellung Mercedes-Benz 220 SE Coupé
- AR-Zeitung Nr. 11 / 1962 vom 15.Mrz.1962 - Seite 7: Vorstellung Mercedes 300 SE Cabriolet und Coupé
- Auto Motor und Sport Heft 8/1961, ab Seite 22: Test Mercedes-Benz 220 SE Coupé
Information
Kostenlos anmelden und mitreden!
Mit einem Gratis-Login auf Zwischengas können Sie nicht nur mitreden, sondern Sie profitieren sofort von etlichen Vorteilen:
Vorteile für eingeloggte Besucher
Mir gefällt übrigens das Coupé formal noch besser als das Cabriolet und da dieses ja ein Hardtopcoupé ist und a.W. ein sehr großes SSD bietet, ergibt das ein tolles, halboffenes Fahren in seiner schönsten Form. Leider sind diese W111-C./C. heute als Oldtimer ziemlich häufig, von einer Rarität kann wahrlich nicht gesprochen werden. Trotzdem sind sie für mich die letzten echten MB-Klassiker. Da können die 70er und 80er Jahre Youngtimer nicht mithalten....
Danke für diesen Bericht, schöne Publikation, denn in letzter Zeit ist wenig vom W111-Cabriolet/Coupé zu sehen!
Dann melden Sie sich an (Login).