Vor zwei Jahren war die "Retro Classics" in Stuttgart eine der letzten Messen gewesen, die vor der Pandemie noch knapp stattfinden konnten. Nach der beinahe obligatorischen Pause im Jahr 2021 konnte die selbsternannte "Messe für Fahrkultur" nun von 21. bis 24. April 2022 wieder stattfinden.
Vier Messen zum Preis von einer
Das Publikum hatte den Anlass im vergangenen Jahr wohl vermisst, denn mit 80'000 Besuchern an vier Tagen verkaufte man rund ein Drittel mehr Eintrittskarten als 2020. So mancher Oldtimer-Fan, der seinen Rundgang auf der "falschen" Seite begann, rieb sich allerdings verwundert die Augen, als er statt von altem Blech von jungem Gemüse empfangen wurde. Von den zehn Messehallen wurden nämlich nur fünf von der "Retro Classics" in Anspruch genommen. In den Hallen 2 und 4 war "Der Markt des guten Geschmacks" – eine Messe für "Slow Food" – einquartiert, die sich um regionale und nachhaltige Lebensmittel drehte. Halle 6 war der Messe "Garten" vorbehalten, deren Name relativ selbsterklärend ist. Halle 8 enthielt die Messe "i-MobIlity", die sich nur mit Elektromobilität in allen Formen beschäftigte. Halle 9 wurde in diesem Jahr nicht bespielt.
Wer auf der "richtigen" Seite begann, fand in Halle 1 eine grosse Menge internationaler Oldtimer-Händler vor. Standort-bedingt dominierten Mercedes-Benz und Porsche das Angebot. Gefühlt konnte man sich wie früher beim Händler jedes Modell in jeder Farbe mit jedem Motor aussuchen. Nur bei den Sonderausstattungen hatte man nicht mehr ganz so viel Freiheit wie damals. Porsche feierte auf seinem Stand das 40-jährige Jubiläum der Gruppe C und hatte hierfür fünf 956 und 962 auf seinem Stand versammelt.
Auf der umlaufenden Galerie waren wie gewohnt die privaten Fahrzeug-Verkäufer untergebracht, die auch dieses Jahr wieder ein höchst abwechslungsreiches Angebot vom Ford-Transit-Pritschenwagen der ersten Generation bis zum BMW 635 CSi auffuhren. Besonders schön war ein ungeschweisster Citroën DS 19 im nur 1968 angebotenen Farbton "Bleu Angora". Das hellblaue Erstlackauto wollte mit 43'990 Euro aber auch gut bezahlt sein. Nicht weit davon entfernt suchte das erste von 13 Piecha-Cabrios auf Basis des Opel Calibra für 18'500 Euro einen neuen Besitzer.
Niedriger Altersdurchschnitt – aber nicht bei den Besuchern
Gewisse Blickwinkel liessen einen jedoch hin und wieder vergessen, dass man auf einer Oldtimer-Messe war. Die "Sonderschau Mustang" in Halle 1 bestand zu zwei Dritteln aus Neuwagen, die die erste Reihe belegen durften. Die Klassiker vom Schlage eines wunderbar originalen 1969er Cobra Jet in "Silver Jade" und eines 1980er Mustang Turbo mit rotem Häkel-Interieur wurden in die zweite Reihe unter die Empore verbannt. Generell war der Anteil an fabrikneuen Autos und "jungen Gebrauchten" gefühlt so hoch wie nie zuvor. Lamborghini Urus und Mercedes-AMG GT teilten sich die Stände mit Miura und 450 SLC. Im Atrium, wo vor zwei Jahren noch eine beeindruckende Sammlung von 40 überwiegend historischen Gulf-Rennwagen die Besucher begrüsste, befand sich nun ein Alfa-Romeo- und Jeep-Autohaus, das neben 17 Neuwagen noch zwei Oldtimer am Rand parkiert hatte. In Halle 5 "Neo Classics" wurden ganz bewusst moderne Autos als "Klassiker der Zukunft" angeboten.
Ebenfalls in Halle 5 wurden 100 Jahre Moto Guzzi gefeiert. Eigentlich wäre das Jubiläum schon vergangenes Jahr fällig gewesen, aber da die Messe ausfiel, hat man die Feierlichkeiten kurzerhand um ein Jahr verschoben. Das Warten hatte sich für Freude der italienischen Zweiräder aber definitiv gelohnt. Über 70 Maschinen deckten fast das komplette Guzzi-Programm eines Jahrhunderts ab, gekrönt von historischen Rennmaschinen und dem passenden Fiat 1100 Familiare als Renntransporter. Lino Tontis Meisterwerk namens V7 Sport bildete mit insgesamt zehn Exemplaren beider Rahmenfarben (Rot und Schwarz) den Mittelpunkt der Sonderschau.
Mehr Abwechslung abseits der grossen Händler
Die Autos abseits des Massengeschmacks wie Mitsubishi Sapporo und Goggomobil Dart waren nur in den seltensten Fällen zu verkaufen und fanden sich meist auf den Ständen der Markenclubs in den Hallen 5 und 7, die gewohnt liebevoll dekoriert waren. Ebenfalls ungewöhnlich und deswegen erfreulich war die Sonderschau der historischen Reisebusse in Halle 3 mit teils skurrilen Mobilen wie dem Citroën N 350 mit Heuliez-Aufbau. BMW liess es sich nicht nehmen, im Revier des schwäbischen Konkurrenten zu wildern und stellte in Halle 7 nicht nur Oldtimer, sondern auch die neuesten Modelle aus dem aktuellen Programm aus.
In Halle 10 fand sich die Verkaufsfläche für Händler und Autos ausserhalb des Hochpreis-Segments – oder für Autos, die zwar das richtige Preisschild, aber das falsche Emblem haben wie der Opel Diplomat V8 Coupé für 230'000 Euro. Damit war das nur 347-mal bei Karmann gebaute, tunisbeige Dickschiff teurer als der viperngrüne Porsche 911 T daneben. Dennoch wird wohl der eine oder andere Betrachter eine versehentliche Null zu viel vermutet haben.
Ein paar Reihen dahinter wartete ein sehr gepflegter, teilrestaurierter Renault 9 GTX mit gerade einmal 51'000 Kilometern Laufleistung auf einen neuen Besitzer. Der musste gerade einmal 6200 Euro dabei haben, um mit der dunkelblauen Limousine von 1984 nach Hause fahren zu können. Noch günstiger kamen Interessenten bei einem Fiat Tipo für 5900 Euro weg. Der kleine Italiener mit den grossen Borbet-Rädern hatte gerade einmal 21'000 Kilometer zurückgelegt.
Wenig Teile, viel Zubehör
In der anderen Hälfte von Halle 10 wurden Automobilia, alte und neue Modellautos sowie sonstige Sammlerstücke feilgeboten. Das Angebot an Ersatzteilen war abgesehen von den beiden Stuttgarter Hausmarken eher bescheiden. Wer Kleinkram für seinen Renault 4 benötigte, ging leer aus. Dafür fand sich aber sonst alles, was heute so zum Oldtimer-Hobby dazugehört: Acrylgemälde von Porsche-Klassikern, Konterfeis von Steve McQueen, Sofas und jede Menge Kleidung mit Gulf- oder Martini-Dekor.
Veranstalter und Aussteller zeigten sich zufrieden mit der diesjährigen Retro Classics. Ein Termin für nächstes Jahr wurde noch nicht genannt. Die Retro Classics Bavaria in Nürnberg wird von 1. bis 4. Dezember 2022 stattfinden.
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