Ganz besondere Frauen verdienen auch ganz besondere Geschenke. Problematisch wird es nur, wenn diese ganz besondere Frau nicht die ist, mit der der Schenkende verheiratet ist. Umso erstaunlicher, wenn die hintergangene Gattin danach nicht den Ehemann, sondern das Geschenk in die Wüste schickt.
Italienischer Karosseriebau in der Schweiz
Mitte der Fünfziger gab der Schweizer Geschäftsmann Tell Umiker aus Lugano bei Ghia-Aigle eine Spezialkarosserie für einen Alfa Romeo 1900 C in Auftrag. Kurz zuvor erst war die Schweizer Dependance der italienischen Karosserieschmiede aus dem namensgebenden Örtchen in der Westschweiz an den Luganersee umgezogen. Wobei die Carrozzeria Ghia aus Turin wohl nur wenig mehr mit Ghia-Aigle verband als ein Lizenzvertrag, der es den Schweizern gestattete, ab 1948 Karosserien nach Ghia-Entwurf von Mario Felice Boano zu fertigen und ihren Namen zu nutzen.
Mit der Zeit emanzipierte sich das von Paul Genet, Edouard Monney und Pierre-Paul Filippi gegründete Unternehmen immer mehr von den Italienern und bot zunehmend Eigenkreationen an. Für die Gestaltung der Ghia-Karosserien aus Aigle war ab 1951 Giovanni Michelotti zuständig, der allerdings nicht ausschliesslich für die Schweizer arbeitete, sondern auch für andere Karossiers zeichnete.
Zu Wasser und zu Land
Michelotti hatte von Umiker die Vorgabe erhalten, ein Auto im Stil eines Motorboots zu bauen, das der Auftraggeber dann seiner Geliebten schenken wolle. Welchen Bezug die zu Beschenkende zur Seefahrt hatte oder warum Umiker gerade diese recht ungewöhnliche Stilistik wünschte, ist leider nicht mehr in Erfahrung zu bringen. Der Formgestalter indes setzte den Auftrag wunschgemäss um: mit dem hohen Bug, der stark abfallenden Seitenlinie und dem langen, niedrigen und glattflächigen Heck erinnert der "Spider Razza" (Razza = ital. "Rochen", aber auch "Rasse" oder "Radspeiche"), tatsächlich ein wenig an ein Schnellboot auf hoher See.
Vom subjektiven Standpunkt gesehen, der auch so etwas banales wie Schönheit von einer Sonderkarosserie erwartet, weiss die Barchetta allerdings nicht vollends zu befriedigen. Der orange Alfa Romeo wirkt ein wenig, als habe jemand versucht, einen Lancia Aurelia Spider aus dem Gedächtnis nachzubauen, obwohl er ihn zuvor nur ein einziges Mal flüchtig gesehen hat. Vor allem die Front, die irgendwo zwischen Dual-Ghia und Delahaye umherirrt, wirkt etwas unbeholfen. Die Nase ist platt; die Scheinwerfer sitzen zu weit unten. Dafür ragt der Kühlergrill zu weit in die Höhe.
Die Seitenlinie und vor allem das Heck besitzen in ihrer glattflächigen Schlichtheit jedoch durchaus eine gewisse Eleganz. Um den Einstieg zu erleichtern, sind die Seitenwände neben dem Cockpit tief ausgeschnitten, was dem Alfa ein wenig die Anmutung eines Karussellautos verleiht. Auch konstruktiv dem Boots-Vorbild folgend, sucht man Türen und Kofferraumklappe an der Schweizer Ghia-Karosserie nämlich vergebens. Damit der Raum im Heck nicht vollends verschwendet ist, befindet sich hinter den Sitzen eine Klappe mit Zugang zu einem kleinen Gepäckabteil.
Spitzen-Motor kaum genutzt
Als technische Basis wählte Ghia-Aigle für seine Alfa-Romeo-1900-Umbauten grundsätzlich die 115 PS starke Super-Sprint-Version des Coupés, die dem regulären 1900 Super einen Vergaser und 25 PS voraus hatte. Da der im Oktober 1950 vorgestellte "Millenove" (das "Cento" liess man umgangssprachlich-elegant weg) erstmals in der Geschichte von Alfa Romeo eine selbsttragende Karosserie hatte, boten die Mailänder ab 1951 ein speziell für Sonderaufbauten entwickeltes 1900-Fahrgestell mit Plattformrahmen an. Zwischen 1955 und 1958 sollen 15 davon zu Ghia-Aigle nach Lugano gegangen sein.
Das orangefarbene Bootmobil mit Chassisnummer 10098 lief im Oktober 1956 vom Stapel und wurde gleich auf dem 13. Concorso d'Eleganza Autovettura in Campione d'Italia präsentiert. Angeblich soll der Wagen dort sogar einen Preis gewonnen haben. Warum der Alfa allerdings erst im September 1958 für den Strassenverkehr zugelassen wurde, ist leider ebenso unbekannt wie das, was in der Zwischenzeit mit ihm passiert ist. Viel kann es indes nicht gewesen sein, denn der Wegstreckenzähler im ebenso wunderschönen wie miserabel abzulesenden Veglia-Tacho zeigt erst gute 12'000 Kilometer. Was auch immer der Alfa in diesen knapp zwei Jahren erlebt haben mag – danach erlebte er noch weniger.
Auf Nimmerwiedersehen
Der Legende nach flog die Affäre mit der selbstgemachten Alfa-Fahrerin nämlich schon ziemlich bald auf, woraufhin Frau Umiker den Wagen nie wieder zu Gesicht bekommen wollte. Warum sie derart über den Wagen verfügen konnte, wo er doch angeblich der Geliebten gehört hatte, ist ungewiss. Vielleicht stellte Herr Umiker seiner Gespielin den Alfa aber auch einfach nur für die Dauer ihrer Affäre zur Verfügung, blieb aber offiziell der Eigentümer. Auf einer handvoll Fotos, die beim Schönheitswettbewerb in der italienischen Enklave aufgenommen wurden, sitzt jedenfalls ausschliesslich ein Herr am Steuer, während eine dunkelharige junge Frau rechts hinter ihm auf dem Cockpitrand posiert.
Wie auch immer – da der Spider zum Verschrotten zu wertvoll war (Ghia-Aigle verlangte damals um 35'000 Franken für seine Kreationen auf Alfa-Romeo-Basis), wurde er stattdessen in einem Schuppen weggesperrt. Erst Ende der Achtzigerjahre wurde er wiederentdeckt und gelangte Anfang 1989 schliesslich über mehrere Händler in die Hände des Belgiers Michel Kuch. Kuch liess den Michelotti-Spider mit der Autonummer OBD-978 regulär für den Strassenverkehr zu und präsentierte ihn im April 2001 beim Concorso d'Eleganza an der Villa d'Este.
Danach ging der Alfa Romeo mit der Boots-Karosserie noch durch mehrere Hände, präsentiert sich jedoch bis heute in unrestauriertem Originalzustand und im ersten Lack. Eine Schönheit ist er noch immer nicht. Doch die kuriose, wenn auch lückenhafte und nur spärlich belegte Geschichte verleiht dem "Spider Razza" seinen ganz eigenen Reiz. Die ersten 30 Jahre seines Lebens blieb er nahezu unsichtbar; verborgen erst vor der Ehefrau und dann vor der ganzen Welt. Selbst nach ihrer Wiederentdeckung gehört die Barchetta zu den unbekannteren Sonderkarosserien sowohl von Alfa-Romeo als auch von Ghia-Aigle und Giovanni Michelotti.
Die einzelnen Stationen im zweiten Leben der Barchetta hat Stefan Dierkes auf seiner Internetseite zu Ghia-Aigle aufgelistet.
Am 3. Juli 2022 wird Bonhams den einzigartigen Alfa im Palace Hotel Gstaad versteigern . Der Schätzpreis liegt zwischen 300'000 und 400'000 Franken. Falls sich ein Käufer findet, weiss hoffentlich seine Frau davon.
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Der Wagen besticht nicht nur durch seine Lienienführung und die Tasache, dass er unrestauriert in einem sehr guten Zustand erhalten ist, sondern vor allem auch dadurch, dass die Karosserie wie aus einem Guß gefertigt ist. Der Alfa scheint völlig frei von überflüssigem Schnickschnack , selbst Türgriffe, Schaniere oder irgend welche Fugen die die Linie stören könnten sucht man hier vergebens.