Ab 1995 fuhr McLaren mit Mercedes-Benz-Motoren, 1998 und 1999 gewann Mika Häkkinen im McLaren-Mercedes die F1-Weltmeisterschaft und 1998 durfte Mercedes-Benz auch als Nummer 1 in der FIA-GT-Meisterschaft bei den Sportwagen abschliessen. Soviel Rennsporterfolg musste gefeiert werden, zumal Mercedes-Benz ja auch auf eine reichhaltige Rennhistorie aufzuweisen hat. Was lag näher, als mit McLaren zusammen einen Supersportwagen im Stile des 300 SLR der Fünfzigerjahre zu bauen?
Mit der Tradition verwurzelt
Während also bei Volkswagen schrittweise der Bugatti Veyron mit Mittelmotor entstand, zeichneten die Designer unter Bruno Sacco und Nachfolger Peter Pfeiffer einen klassischen Sportwagen mit unendlich langer Motorhaube, Formel-1-Nase und einem V8-Motor hinter der Vorderachse. Pfeiffer liess sich dazu zitieren: “Wir wollten an unsere große Vergangenheit anknüpfen, ohne in das Retro-Design zu gehen; wenn wir ein neues Auto bringen, muss es auch ein Blick in die Zukunft sein - und das ist im Rennsport die Formel 1”. Dem Design und diesen Vorgaben folgend, war der Frontmittelmotor bereits gesetzt.
Gezeigt wurde der neue SLR erstmals am Autosalon von Detroit im Januar 1999, doch bereits im Dezember 1998 zuvor hatte die Automobil Revue über den Neuankömmling berichtet. Gleich zweimal schaffte es die Studie auf das Titelblatt von “Auto Motor und Sport”.
Flügeltüren, 558 PS, 700 Nm, 4,6 Meter Länge, 320 km/h Spitze und 1400 kg wurden als Eckdaten genannt, Kohlefaser wurde als primärer Werkstoff angekündigt, Formel-1-Technik sollte sich unter der Haut wiederfinden. Eine Besonderheit der SLR Vision war ein oben abgeflachtes Lenkrad, an dessen Oberende man als Pilot auf die Armaturen blickte. Ein Schaltstock fehlte, dafür gab’s einen Joystick.
Zu jenem Zeitpunkt war nicht gesetzt, dass es dieses Auto je in die Serie schaffen würde. Als Hindernis galt insbesondere die teure Bauweise.
Startschuss zur Serie
Auf die IAA im September 1999 wurde dem Coupé eine Roadster-Studie zur Seite gestellt.
Schon deutlich früher, nämlich im Juli 1999 hatte Mercedes-Benz den Startschuss zum Bau des Supersportwagens gegeben. Man kündigte eine Markteinführung per 2003 an und nannte Entwicklungskosten von rund DM 400 Millionen. Zudem kommunizierte man, dass die Autos bei F1-Partner McLaren in Grossbritannien gebaut werden sollten, etwa 500 Stück pro Jahr, was 20 Prozent Marktanteil im Supersportwagen-Segment entsprach gemäss damaliger Berechnungen.
An den Spezifikationen hatte sich wenig geändert, es blieb bei der Kohlefaser-Monocoque-Konstruktion und einem V8-Motor mit Kompressor, der von AMG kommen sollte.
Malte Jürgens durfte für ams hinter dem ungewöhnlich geformten Lenkrad Platz nehmen, einen ausfahrbaren Heckspoiler hatte die Studie noch nicht, dem Motor fehlte noch der Kompressor, dafür waren die Keramik-Bremsscheiben mit Achtkolben-Zangen bereits an Bord, eine Art komfortable Rennbremse, die wartungsfrei 100’000 km überstehen sollte.
“Der SLR schnürt bei der ersten Probefahrt über die Alleen wie ein junger, silberner Panther, hinter dem die Blätter wirbeln und der nachdrücklich Anspruch auf Respekt erhebt wie ein Alpha-Männchen im Rudel”, schrieb Jürgens nach seiner Probefahrt und meinte zudem: “Die Kunden, die sich bereits eine Option auf das Coupé oder die gerade auf der IAA vorgestellte Roadster-Version gesichert haben, dürfen sich getrost zurücklehnen und die Vorfreude bis 2003 genießen. Uneingeschränkt.”
Vorgestellt wurde die Serienversion als Coupé dann wiederum auf der IAA im September 2003. Vorstandsvorsitzender Jürgen Erich Schrempp präsentierte den schnellen Sportwagen mit Stolz.
Auslieferungen ab 2004
Ein bisschen länger mussten die Ungeduldigen dann doch noch warten, denn erst im Jahr 2004 wurden die ersten Mercedes-Benz SLR McLaren Coupés ausgeliefert. Dafür war die Leistung auf 626 PS angestiegen und die Spitzengeschwindigkeit auf 334 km/h. Geändert hatte sich allerdings auch das Gewicht, denn dieses betrug nun 1747 kg (leer) bei einer maximalen Zuladung von 186 kg. Da blieben dann nicht mehr viele Kilogramm für den 272 Liter (und zwei Golftaschen) fassenden Kofferraum übrig, wenn zwei Personen an Bord waren.
Auch optisch hatte sich noch einiges geändert, die Hecklinie wurde mit einem ausfahrbaren Spoiler höher gelegt, das Interieur orientierte sich an konventionelleren Standards als die Studie, erinnerte stärker an den SL und bot damit eine gewohnte Umgebung für Mercedes-Stammkunden.
Auch das Lenkrad war nun rund und liess den Blick auf die Instrumente zwischen den Speichen und Airbag frei.
Der richtige Kompromiss?
“Proportionen wie im Zerrspiegel”, notierte Wolfgang König anlässlich seines Tests für “Auto Motor und Sport”. An Vorwärtsdynamik fehlte es dem jungen Sportwagen aus Woking nicht, 3,8 Sekunden reichten, um von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen, mit abgeschalteter Steuerelektronik notabene. 200 km/h waren aus dem Stand in 11,3 Sekunden erreicht und die Keramikscheiben verzögerten den SLR aus 190 km/h über 121 Meter wieder auf 0 km/h. Das war mehr als nur beeindruckend und vermutlich für manchen Beifahrer zuviel des Guten. Aber der Mercedes konnte auch deutlich zahmer fahren, schliesslich gab’s ja eine klassische Wandler-Automatik mit fünf Gängen an Bord, die dabei half, den Vortrieb zu dosieren.
Dass es trotz höherer Motorleistung nicht noch dynamischer ging, hatte mit dem gestiegenen Gewicht zu tun, das primär den Mercedes-Komfort-Ansprüchen geschuldet war. Rund 200 kg schwer war die “Verwöhnausstattung”, die sich aus elektrisch verstellbaren Sitzen, GPS, Bose-Sound, einer Armada von Airbags und einer links und rechts getrennt regelbaren Klimaautomatik zusammensetzte.
Nicht unerheblich wirkte sich auch der Antriebsstrang auf das Gewicht aus, obschon man den Motor aus dem SL 55 umfangreich umgebaut hatte. 780 Newtonmeter stemmte das mit Trockensumpf ausgerüstete Triebwerk mit 5439 cm3, zwei obenliegenden Nockenwellen und ladeluftgekühltem Kompressor nun auf die fünffach gelagerte Kurbelwelle. Diese Kraft musste die Automatik erst einmal aushalten.
Beim Fahrwerk griff man zu bewährter Sportwagentechnik, klassische Doppelquerlenker rundum führten die Räder, auf aktive Federung oder Dämpfung wurde verzichtet. Die Servolenkung konnte man aus der A-Klasse übernehmen, die Bremsen hatten sich inzwischen im SL bewährt, kamen im SLR aber mit grösseren Keramikscheiben daher.
Gestartet wurde der Motor über einen mit Klappe geschützten Knopf auf dem Automatik-Schalthebel (007 und sein Schleudersitz im DB5 lassen grüssen). Die Abgase entwichen nicht mehr am Heck wie bei der 1999 gezeigten Studie, sondern beidseitig seitlich vor den Türen. Dafür war sogar eine Sondergenehmigung nötig. Aber mit dieser Finesse wurde auch die Nähe zum 300 SLR betont, genauso wie mit den Luftauslässen und anderen Designdetails.
Der Heckflügel fuhr bei 100 km/h aus und wechselte seinen Winkel abhängig von der Fahrsituation zwischen 10 und 65 Grad, um das Heck bei hohen Geschwindigkeiten und Bremsmanövern ruhig zu halten. Die Bremsanlage überzeugte mit ihrer Wirkung im Test, nicht aber mit ihrer Dosierbarkeit. Das Getriebe konnte überzeugen, schliesslich konnte man ja die Schaltgeschwindigkeiten auch noch in drei Stufen verstellen und das Hoch- oder Rundschalten mit Tasten am Lenkrad anfordern.
Das Fahrverhalten auf einer glatten Rennstrecke konnte überzeugen, abseits davon allerdings führte es laut König durchaus zu Kritik:
“Weniger begeistern dagegen die Eindrücke abseits jener gut ausgebauten Straßen, die dem SLR auf den Leib geschneidert sind. Für enge, kurvenreiche Strecken ist er zu ausladend und zu unübersichtlich. Die lange Haube entzieht sich weitgehend den Blicken des Fahrers, aber auch die ausgeprägte Neigung, bei Fahrbahnunebenheiten den Kurs zu wechseln, macht die Sache nicht leichter. Erschwerend kommt hinzu, dass die Lenkung Direktheit mit Nervosität verbindet, und obendrein den optimalen Fahrbahnkontakt vermissen lässt. Überraschend angenehm dafür der Komfort: Den harten Bolzen markiert der SLR nur bei niedrigem Tempo, ansonsten bleibt man von heftigen Schlägen verschont …”
Das Schlussfazit lautete:
“Zu wenig des Guten? Es kommt auf den Standpunkt an. Schließlich gehörte bie den Supersportwagen Perfektion noch nie zu den Gepflogenheiten. Aufregend müssen sie sein und teuer. So gesehen ist der SLR ein Volltreffer.”
Ob dies genug war, um sich gegen die Konkurrenz wie Porsche Carrera GT oder Ferrari Enzo durchzusetzen? Auf dem Papier schon, denn deutlich schneller rennen konnten die beiden Konkurrenten jedenfalls nicht, sie waren allerdings beide deutlich leichter und kompromissloser gebaut. Das sahen auch die Herren von Top Gear so, die beim SLR irgendwie die klare Ausrichtung – Komfort oder Sport – vermissten.
Ziemlich teure Sache
Die Erst-Käufer des SLR waren Unternehmer, Entscheidungsträger, Meinungsführer, Gentleman-Fahrer und Kenner, zumindest sind das jene Leute, die der eigens gegründete SLR-Club heute als Mitglieder listet. Sie mussten mindestens EUR 435’000 investieren, um in den Besitz des Coupés zu gelangen. Der Preis konnte aber schnell höher klettern, wenn etwa die 19-Zoll-Räder (EUR 9860) oder die Lederausstattung “Silver Arrow Leather 300 SL” (EUR 10’440) dazubestellt wurde. Und wenn man nicht früh bestellte, stieg der Preis Jahr für Jahr weiter an, 2007 betrug der Grundpreis bereits EUR 452’200.
Noch exklusiver: 722
Es ging aber noch teurer, wenn man die ab 2006 verfügbare und auf 150 Exemplare limitierte 722 Edition (C 199 E 55 ML) bestellte. Diese kostete nämlich EUR 464’000 und enthielt mehr als 300 veränderte Teile und eine auf 650 PS erhöhte Leistung. Teil des Pakets waren neben einer gut sichtbaren Beschriftung eine dynamischere Fahrwerksabstimmung, eine optimierte Aerodynamik und eine betont sportlich aufgemachte Innenausstattung.
Die Zahl “722” nahm Bezug auf den Erfolg von Stirling Moss und Denis Jenkinson, die im offenen 300 SLR 1955 die Mille Miglia mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 157,6 km/h gewannen. Als Startnummer trugen sie die Zahl 722 und entsprechend starteten sie auch um 07:22 im Morgen, um dann um 17:28 nach 1600 km über italienische Landstrassen wieder zurück am Ziel zu sein.
Die 722 Edition war um 44 kg leichter als die Normalversion und sie verfügte auch über eine andere Abstimmung der Automatik, so dass der Spurt von 0 auf 100 km/h gemäss Werksangaben in 3,6 anstatt 3,8 Sekunden absolviert und die Spitzengeschwindigkeit von 334 auf 337 km/h angehoben wurde.
Geschlossen oder offen
Wie bereits als Prototyp erhielt der SLR auch in der Serie eine Roadsterversion zur Seite gestellt und auch den 722 gab es ab 2008 in Roadster-Konfiguration.
Für die offene Variante waren einige Änderungen am Fahrzeug nötig, die Flügeltüren blieben ihm aber trotzdem erhalten.
Und noch etwas weniger für mehr
Als letzte Modellvariante präsentierte Mercedes-Benz 2009 den SLR Stirling Moss, bei dem nicht nur das Dach, sondern auch noch die Windschutzscheibe fehlte. Die Stückzahl dieser Extremversion war auf 75 Exemplare limitiert und sie bildete auch den Schlusspunkt der SLR-Fertigung, die im Dezember 2009 eingestellt wurde.
2157 SLR waren gebaut worden, 1412 davon trugen die Coupé-Karosserie. 150 Exemplare waren von der offenen und geschlossenen 722-er-Variante entstanden. Ein exklusives Vergnügen!
Fast 20 Jahre später
Schon in Kürze werden die ersten SLR ins Youngtimer-Alter kommen (Perspektive: 2022). Die letztproduzierten SLR warten darauf noch sieben Jahre. Grosse Kilometerleistungen dürfte kaum eines dieser Fahrzeuge aufweisen, trotz der angepeilten Alltagstauglichkeit.
Heute wirken diese Fahrzeuge zwar optisch immer noch extrem, wer aber die technischen Daten genauer betrachtet, findet Werte, die in der Neuzeit von manchem SUV übertroffen werden. Auch die Dimensionen (Länge 4656 mm, Breite 1908 mm, Höhe 1251/1261 mm) schrecken nicht mehr, mancher Nachfolger ist deutlich breiter und schwerer.
Die Wartungskosten orientieren sich am einstigen Verkaufspreis, günstige Unterhaltsdienste – für einen Wechsel der Kerzen muss der Motor ausgebaut werden – sollte man also bei einem SLR nicht erwarten. Dass der SLR aber wenig im Strassenverkehr auftaucht, dürfte auch daran liegen, dass dieser Sportwagen kein Musterbeispiel für gute Übersichtlichkeit ist und dass ein Besuch in einem Parkhaus für schweissdurchnässte Hemden beim Fahrer sorgen dürfte. Dagegen lässt ein Verbrauch von 15 bis 20 Litern pro 100 km niemanden vom Kauf abschrecken, selbst bei den heutigen Treibstoffkosten nicht.
So ist der Mercedes-Benz SLR McLaren denn vor allem ein Sammlerstück und als Design-Statement zu sehen, das man vielleicht lieber in der Garage streichelt, als es dem hektischen Alltagsverkehr von heute auszusetzen. Und für die schnelle Runde auf der Rennstrecke gibt es heute agilere und bessere geeignete Sportwagen. Aber eben, man gönnt sich ja sonst nichts. Und die Geschmäcker sind offenbar verschieden. Der Markt scheint heute die Supersportwagen von Ferrari und Porsche zu favorisieren, aber auch die raren 722-Editionen des SLR können stolze Notierungen erzielen.
Der für diesen Artikel fotografierte Mercedes-Benz SLR McLaren “722” aus dem Jahr 2007 wird am 28. Mai 2022 von der Oldtimer Galerie anlässlich der Auktion an der Swiss Classic World in Luzern versteigert werden.
Weitere Informationen
- Auto Motor und Sport Heft 10/2004, ab Seite 20: Einzeltest Mercedes-Benz SLR McLaren
- Auto Motor und Sport Heft 12/2004, ab Seite 92: Vergleich Mercedes-Benz SLR McLaren mit Ferrari Enzo, Porsche Carrera GT und anderen