Im Jahr 1964 stellte die italienische Karosseriebaufirma Bertone zum ersten Mal ihre Künste am Pariser Autosalon vor. Hätte nicht Ferrari den nagelneuen 275 GTB erstmals der Welt gezeigt, der Alfa Romeo Canguro wäre wohl die Sensation der Pariser Messe im Parc des Exposition an der Porte de Versailles gewesen.
Vorstellung mit Känguruh
Für die kurz vor dem Pariser Salon stattfindende Pressevorstellung in Turin hatte man sogar ein lebendes Känguruh herbeigeschafft, wohl um die Namensfindung eindrücklich zu bestätigen.
Ganz nachvollziehen liess sich der Name aber trotzdem nicht, denn der flache Sportwagen hatte optisch kaum etwas mit dem australischen Beuteltier zu tun. Immerhin waren die Räder vorne und hinten unterschiedlich gross und der Gran Turismo sah auch im Stand so aus, als ob er ständig auf dem Sprung sein würde.
Elegante Schöpfung
Giorgetto Giugaro hatte ihn Diensten von Bertone seinen Stift geschwungen und auf der technischen Basis des Alfa Romeo Giulia 1600 Tubolare Zagato (kurz TZ) ein elegantes zweisitziges Coupé entworfen, das sowohl auf der Rennstrecke als auch im Alltagsverkehr eine gute Falle machen sollte.
Über den Rohrrahmen wölbte sich eine nur 106 cm hohe Aluminiumkarosserie, die auf Aerodynamik getrimmt und mit innovativen Lösungsansätzen aufwartete.
So waren die Front- und Seitenscheiben ohne Gummiumfassung in die Karosserie eingeklebt, um ungünstige Luftverwirbelungen zu verhindern. Das Alfa-Kleeblatt in der C-Säule diente gleichzeitig als Entlüftung. Die ganze Motorhaube konnte wie beim Jaguar E-Type abgekippt werden, ihre hintere Fuge führte direkt in die Seitentüre über.
Grösser, aber nicht schwerer
3,9 Meter lang war das “Känguruh”, 1,6 Meter breit und dank leichtgewichtiger Aluminiumkarosserie gerade eimal 660 kg schwer war der Prototyp. Dank verringerter Querschnittsfläche erhoffte man sich bessere Fahrleistungen.
Die Besatzung musste dafür in halb liegender Stellung Platz im Innern finden, das Lenkrad konnte mittels Zwischenstücken axial an die Fahrergrösse angepasst werden. Sogar Platz für einen Sturzhelm auf dem Kopf des Fahrers sollte der deutlich komfortabler ausgestattete Alfa bieten.
Öffentliche Premiere in Paris
Die Vorstellung des Alfa Romeo Canguro im Herbst 1964 in Paris fand grosse Beachtung. Die Automobil Revue schrieb:
“Besonders grosses Aufsehen erregte in Paris der ultraniedrige und die Bezeichnung «Känguruh» tragende Gran Turismo Alfa Romeo Giulia Tubolare von Bertone,welcher die bisherige Ausführung von Zagato ersetzt. Dieses knallrote Ausstellungsobjekt vermag durch seine auffallend gut gelungene Linie oder auf Grund der riesigen Front- und Heckscheibe ganz besonders zu gefallen und der aufmerksame Salonbesucher findet an dieser «Rakete» allerhand an interessanten Konstruktionselementen, wie die gegossenen Rahmen für die Glasflächen, die bis ins Dach hineingreifenden Türen mit in die Glasfläche miteinbezogenem Ventilationsfenster oder die körpergerecht gestalteten «Liegestühle».”
Auch H. U. Wieselmann kommentierte den Canguro im Messebericht der Zeitschrift “Auto Motor und Sport” ausführlich:
“Als Rennsport-Gran Turismo reinster Zweckform präsentierte sich Bertones Känguruh, ein ganz niedriges Coupé auf Alfa-Romeo-Tubolare-Chassis, so genannt wegen seiner vorn und hinten unterschiedlich grossen 13-Zoll-Räder. Die Dachhöhe beträgt nur 1,06 m, und Frontscheibe und Fenster , der Wölbung des Daches exakt folgend, sind ohne Gummileisten mit einem neuen MMM-Produkt fugenlos ins Metall eingeklebt .... Sicherlich hat Nuccio Bertone, heute gewiss der dynamischste der Turiner Karosseure, dessen Fabrik mit Serienaufträgen voll ausgelastet ist, das Känguruh nur gebaut, um zu zeigen, dass er etwas Funktionelleres als Zagato auf die Räder stellen kann. Alfa Romeo wird an diesem Entwurf für seinen sieggewohnten Tubolare nicht vorbeigehen können, so dass anzunehmen ist, dass ein Auftrag über die für die Homologation erforderlichen 100 Exemplare erteilt wird.”
Serienherstellung vorgesehen
Tatsächlich hatte Bertone eine Serienfertigung ins Auge gefasst. Deshalb wurden so viele Standard-Komponenten aus der Giulia verwendet wie möglich (gemäss Road & Track stammten 90% der mechanischem Komponenten aus der Giulia TI) und für die Produktionsfahrzeuge wollte man die Karosserie statt aus Aluminium aus Kunststoff fertigen und weiteres Gewicht (man sprach von 25% im Vergleich zur Aluminium-Variante) einsparen. Die Aluräder hatte übrigens Campagnolo extra gemäss den Vorgaben von Bertone für den Canguro gegossen.
Das Interieur mit dem auf Schulterhöhe sitzenden Schalthebel war mit anatomisch optimierten Kunststoff-Sitzschalen ausgestattet und elegant gepolstert. Sogar an eine gewisse Geräuschisolierung hatten die Bertone-Mannen gedacht. Ob allerdings der auf der Beifahrerseite angebrachte Tachometer wirklich praktisch war, darf in Frage gestellt werden.
Keine Zeit bei Alfa Romeo
Doch die Beobachter irrten sich. Zwar brachte Bertone nach der Vorstellung den Prototyp im Dezember 1964 nach Mailand zu Alfa Romeo in der Hoffnung, dass sich bei Testfahrten zeigen würde, dass die Canguro schneller lief als die Zagato-Variante und damit eine Serienproduktions ins Auge gefasst werden könnte.
Doch, gemäss einem Bericht aus der Zeitschrift Road & Track, der Mitte 1965 erschien, war zu entnehmen, dass der Prototyp zu jenem Zeitpunkt noch kein Rad aus eigener Kraft gedreht hatte.
Tatsächlich drängte es nicht, den TZ zu ersetzen, denn der war zu jener Zeit der Massstab auf der Rennstrecke in seiner Klasse. Zudem war Alfa Romeo sehr damit beschäftigt, die bereits eingeführten Familienlimousinen breiter und konsequenter zu vermarkten und eine Nischenproduktion für Sportwagenkunden passte somit nicht so ganz in die Strategie.
So wurde aus der Serienproduktion nichts und der TZ später durch den TZ2 (mit Kunststoff-Karosserie) aus dem Hause Zagato ersetzt.
Den Beweis der besseren Aerodynamik gegenüber dem TZ konnte der Canguro nie antreten. Mit den 114 PS des 1570 cm3 grossen Doppelnockenwellenmotors hätten sich annähernd 200 km/h erreichen lassen müssen.
Zerstört und wiederhergestellt
Die Cangura-Geschichte fand bei einer Testfahrt eines Journalisten vorerst ihr Ende. Beim Unfall wurde der Wagen weitgehend zerstört. Doch Gary Schmidt, ein deutscher Journalist, konnte den Wagen 1971 kaufen mit der Absicht, ihn zu restaurieren. Das Projekt erwies sich aber also zu komplex und der Wagen ging vergessen.
In den Neunzigerjahren konnte ein japanischer Sammler das Wrack kaufen und liess es in aller Stille neu aufbauen. Am Concorso d’Eleganza Villa d’Este des Jahres 2005 wurde der Canguro der Öffentlichkeit nach rund 40 Jahren wieder gezeigt und er erhielt zurecht den “Best of Show”-Preis.
Hätte Bertone tatsächlich den Wagen in einer kleinen Serie produzierten dürfen, dann würde der Canguro heute wohl zu den gesuchtesten Klassikern gehören und hohe Preise erreichen. Der Prototyp selber dürfte einen Wert von mehreren Millionen haben, was angesichts der Auswirkungen auf die Autoindustrie (z.B. die eingeklebten Scheiben) und viele der folgenden Bertone-Schöpfungen, sicher gerechtfertigt wäre ...
Übrigens stellte auch Pininfarina einen Sportwagen auf Giulia-Basis vor, doch blieb auch das 1965 in Turin präsentierte Giulia 1600 Sport Coupé ein Prototyp. Es sei dem geneigten Leser überlassen, zu entscheiden, welche Schöpfung die höheren ästhetischen Weihen erhalten sollte.
Weitere Informationen
- AR-Zeitung Nr. 40 / 1964 vom 17.Sep.1964 - Seite 43: Der Alfa Romeo Tubolare von Bertone
- AR-Zeitung Nr. 43 / 1964 vom 08.Okt.1964 - Seite 17: Pariser Salon als Auftakt zum Modelljahr 1965
- Auto Motor und Sport Heft 22/1964, ab Seite 24: Autosalon Paris
- AR-Zeitung Nr. 42 / 1964 vom 01.Okt.1964 - Seite 21: Känguruh - der neue Alfa Romeo von Bertone
- Road & Track Issue 6/1965, ab Seite 53: Alfa Romeo Canguro
Dann melden Sie sich an (Login).