Die Jahre 1958–1978 waren die zwei kreativsten Jahrzehnte der Renntechnikgeschichte. Diese Serie porträtiert die innovativsten, zukunftsweisendsten wie auch exotischsten Konstruktionen der Formel 1, der Indy Cars, der Sportwagen und der Can-Am und zeichnet so zugleich die bis heute nachwirkenden, grossen Entwicklungslinien nach. Die Serie startete mit Lotus, einem der wichtigsten Innovationstreiber dieser zwei Jahrzehnte. Und mit Lotus wird die Serie auch ins Ziel kommen. Dieses Mal erinnern wir an die erfolglosen Versuche, die Zahl der Antriebsräder zu verdoppeln.
1969 wurde für die weitere Entwicklung der Formel 1 zu einem Schlüsseljahr: Es ist das Jahr, in dem nach den heftigen Barcelona-Unfällen die hohen Abtriebsflügel verboten wurden. Gleichzeitig ist es das Jahr, in dem die als Plan B für mehr Bodenhaftung kreierten 4x4-Formel-1-Wagen scheiterten. So blieben künftig neben den Flügeln und Spoilern direkt am Fahrzeug nur zwei Wege für mehr Abtrieb übrig. Erstens: Den Fahrzeugkörper selbst an der Oberseite auf Abtrieb zu trimmen, was ab 1970 – eingeleitet vom Lotus 72 – die dann weit verbreitete Keilform hervorbrachte. Zweitens: Ab 1977 neu die Unterseite des Wagens (Unterboden und Seitenkästen) in Bodennähe so gestalten, dass Abtrieb nach dem aerodynamischen Venturi-Prinzip erzeugt wird. Heutige Rennwagen kombinieren diese beiden Wege zu einem hochkomplexen, dreidimensionalen Gebilde, das über und unter dem Fahrzeug die Luft dazu zwingt, bei möglichst wenig Luftwiderstand möglichst viel Abtrieb zu produzieren.
Apropos "hochkomplex": Auch der Allradantrieb war es, wenn auch im mechanischen Bereich. Vorreiter im Rennwagenbau gab es seit 1902 (!) einige. Wir erwähnen hier nur den zweitjüngsten der Formel 1 vor 1969, den Ferguson P 99 von 1961. Dazu kamen 1967 und 1968 die beiden Gasturbinen-Indycars, der STP-Paxton und der Keilform-Pionier Lotus 56. 1969 waren es nun gleich vier Hersteller, die sich an diese aufwendige Technik wagten: Lotus mit dem 63, Matra mit dem MS 84, McLaren mit dem M9A und Cosworth erstmals mit einem eigenen Fahrzeugprojekt.
Im Grundsatz eine gute Idee
Was spricht für den Allradantrieb im Rennwagen? Da die Kraft auf alle Räder geht, kann die Leistung besser verteilt werden. Die Räder können dann kleiner und schmaler sein, was der Aerodynamik zu Gute kommt. Bei rutschiger Fahrbahn (lies: Regen) ist das Fahrzeug im Prinzip besser beherrschbar. Ein wirklicher Vorteil ergibt sich vor allem beim Beschleunigen bis etwa 130 km/h, wo man ohne Durchdrehen der Räder 1 g erreichte. Aber das kam nur auf wenigen Kursen zum Tragen wie etwa Monaco.
Die Nachteile sind die technische Komplexität mit zusätzlichen Ausfallrisiken, Leistungsverluste durch mehr Reibung, eine anstrengendere Lenkung und ein tendenziell untersteuerndes Fahrverhalten, was im Alltagsauto sicherheitsfördernd ist, beim Rennfahrer aber unerwünscht. Ein Problem war auch das Zusatzgewicht. McLaren hatte im Antriebsbereich mit 16 kg noch das niedrigste. Dazu kam auch noch ein höheres Chassisgewicht. Aus heutiger Sicht scheint es klar: Die Nachteile überwiegen. Aber damals hoffte man auf Weiterentwicklungen, die nach und nach die Nachteile reduziert hätten. Mit dem Allradantrieb erfolgreich waren in den Sechzigerjahren etliche Fahrer einzig bei Bergrennen.
Lotus
"Unsere Aufgabe ist es, laufend Fortschritte zu machen. Abzuwarten, wie sich Ideen der anderen entwickeln, ist nicht meine Art. Gewinnen ist nicht alles. Es kommt darauf an wie. Aber Innovationen sind für mich auch nicht ein Selbstzweck."
Colin Chapman
Der Lotus 63 basierte auf dem erfolglosen Indycar Typ 64 mit Ford-Turbomotor des Vorjahres. Grundkonzept war der Keil, allerdings etwas verwässert durch einen Frontkühler. Das Monocoque-Chassis wurde vorne und hinten durch eine Käfigkonstruktion ergänzt. Der Radstand von 249 cm entsprach dem des Typ 49. Wegen der flachen Silhouette wirkt der Wagen optisch allerdings länger. Der Cosworth-Motor wurde um 180 Grad gedreht, so dass der Fahrer direkt vor dem Hewland-Schaltgetriebe und dem Verteilergetriebe von ZF zu sitzen kam. Dann ging der Kraftfluss weiter über ein links liegendes Zentraldifferential, welches auch für die Verteilung nach hinten (ca. 70%) und nach vorne zu den jeweiligen Achsdifferentialen zuständig war. Konstrukteur des Allradantriebs war Derek Gardner, der auch den Lotus 56 gebaut hatte und später bei Tyrrell unter anderem den sechsrädrigen P34 entwickeln sollte).
Die Bremsen lagen innen, also im Bereich der gefederten Massen. Die Aufhängungen waren unabhängig mit innenliegenden Federeinheiten, die vorne und hinten über schrägliegende Kipphebel betätigt wurden. Auffallend ist das Fehlen von Längslenkern. Dafür sind die Querlenker deutlich robuster und vorne und hinten sehr ähnlich, wenn auch nicht ganz identisch. Die Pedale lagen vor der Antriebsachse und diese über den Beinen, was mit dazu beitrug, dass die Fahrer von dem Wagen gar nicht begeistert waren. Die Lenkung war wegen des niedrigen vorderen Chassiskäfigs ein komplexes geometrisches Gebilde, bei dem sich die Lenksäule je nach Einschlag hob und senkte, was die Fahrer ebenfalls störte. Diese beklagten sich, auch bei den andern vierradgetriebenen Wagen, zudem immer wieder über unangenehme Antriebseinflüsse in der Lenkung.
Das Gewicht lag bei 620 kg. Andere Quellen sprechen von 550 kg. Ungewöhnlich: Ein dritter Treibstofftank lag hinter dem Motor. Bei Chassis 63/1 wurden die Auspuffrohre zuerst über die Hinterachse geführt, bei Chassis 63/2 darunter. Bei letzterem wurde zudem ein grosser Heckspoiler montiert. Später erhielten dann beide Chassis einen festverbundenen Heckflügel.
Chapman war aber überzeugt, dass der 63 schneller sein würde als der 49, doch die Resultate waren enttäuschend. Die Zeiten lagen meist weit über denen des 49 und der Konkurrenz, so etwa in Holland. Jochen Rindt fuhr mit dem 49 mit einer Zeit von 1:20,85 Minuten auf Pole. Graham Hill kam mit dem 63 aber nur auf 1:28,30 Minuten, während Jackie Stewart im Allrad-Matra MS84 immerhin eine 1:26,68 fuhr. Deshalb wechselten Hill und Stewart noch in der Qaulifikation auf die hinterradgetriebenen Typen 49B beziehungsweise MS80. Das beste Resultat, welches der Lotus 63 einfuhr, war ein zweiter Platz von Jochen Rindt in einem nicht zur WM zählenden Rennen in Oulton Park 1969. Aber Rindt lehnte den Wagen ab, und in Zandvoort stellte er eine Tafel auf den Wagen, die er bei einer VW-Garage mitgenommen hatte: "Günstig zu verkaufen".
Zwei verschenkte Weltmeisterschaften
"Statt Allradantrieb einzubauen, kannst du genuso gut 100 kg Ballast nehmen und dazu noch die Motorleistung reduzieren."
Tony Rudd, der bei BRM den (erfolglosen) Allrad-Typ P67 gebaut hatte
Angesichts des Widerstands seiner Stammfahrer Rindt und Hill schlug Chapman zwei Wege ein. Zum einen setzte er bewusst Fahrer in den Wagen, die wenig oder keine Erfahrung mit Formel-1-Wagen hatten. Dazu gehörte Mario Andretti (erfahrener Indycar-Pilot und künftiger Formel-1-Weltmeister 1978), der monierte, die Motorleistung müsste deutlich höher sein, damit der Allradantrieb sich lohnen könnte. Es zeigte sich, dass diese Fahrer teilweise etwas bessere (aber noch immer ungenügende) Zeiten fuhren, weil sie sich weniger umgewöhnen mussten als die langjährigen Formel-1-Profis.
Um seinen Stammfahrern den Umstieg zu "erleichtern", verkaufte Chapman 1969 obendrein die Wagen vom Typ 49 an Privatfahrer. Weil Rindt und Hill sich aber weiterhin weigerten, den sperrigen und sehr unzuverlässigen Lotus 63 zu fahren, musste Chapman schliesslich einige abgetretene 49er, die immer noch konkurrenzfähig waren, sogar wieder zurückkaufen. Andern Quellen zufolge habe er den Verkauf lediglich angedroht. Sei es wie es sei. Resultat des Lotus-internen Hin-und-Hers: Weltmeister wurde Jackie Stewart auf Matra. Aus einem ähnlichen Grund verlor Lotus auch die Fahrer-WM 1971, als Chapman den Gasturbinenwagen 56B durchsetzen wollte, statt sich auf das zweite Jahr des erfolgreichen Typs 72 zu konzentrieren. Und wer wurde stattdessen Weltmeister? Wieder Stewart, diesmal auf Tyrrell.
So gesehen war Chapman durchaus ein Geistesverwandter des andern grossen Innovators dieser Jahre, Jim Hall (Chaparral), der einmal sagte: "Ich bin im Grunde weniger an Renn-Siegen interessiert als an der Renn-Technologie." Es ist natürlich immer leicht, im Nachhinein zu sagen, man hätte den Misserfolg doch voraussehen können. Jedoch: Innovationen sind nun einmal per se ein Risiko für sofortigen Erfolg. Zugleich sind sie aber die unabdingbaren Treiber des mittel- und langfristigen Fortschritts sowie künftiger Erfolge. Sie können allerdings auch in eine Sackgasse führen. Im Voraus kann das niemand wissen. Wer dagegen weniger Risiken eingeht, auf Bewährtes und Zuverlässigkeit setzt, kann eine Zeit lang Erfolg haben, wird aber irgendwann überholt. Im schlimmsten Fall ist es für ein Aufholen dann schon zu spät.
McLaren, Matra und Cosworth
"Den Allrad-Typ zu fahren war wie der Versuch, etwas zu unterschreiben, während dir jemand gegen den Ellbogen stösst."
Bruce McLaren
Lotus war 1969 mit seinem Allrad-Wagen im Scheitern nicht allein. Seine drei Konkurrenten hatten ebenfalls keinen Erfolg: McLaren, Matra und – erstmals mit einem eigenen Wagen – Cosworth.
Der Allrad-McLaren war vom Schweizer Ingenieur Jo Marquart konzipiert worden. Bruce McLaren testete mit diesem M9A einmal, was bei strömendem Regen in einer langsamen Kurve bei plötzlichem Vollgasgeben mit gleichzeitigem Verreissen der Lenkung passieren würde: Der Wagen zog wie auf Schienen aus der Kurve. Mit Hinterradantrieb hätte das Manöver in wilden Drehern geendet. Das liess aber leider nicht den Schluss zu, dass der Allradantrieb generell überlegen war.
Motorenhersteller Cosworth hatte mit seinem Projekt am frühesten begonnen: schon Anfang 1968, also noch bevor klar wurde, dass die aerodynamischen Hilfen stark eingeschränkt würden. Keith Duckworth, Mike Costin und Robin Herd entwickelten dieses exotische Konzept gemeinsam. Der Wagen hatte einen sehr kurzen Radstand (nur 228 cm, wie der Bugatti 251-02 von 1956) und eine futuristische Interpretation des Keil- Themas. Er wurde nicht weiterentwickelt; unter anderem auch, weil Cosworth als Motoren-Lieferant für viele Teams nicht als Fahrzeugkonkurrent auftreten wollte.
Bilanz
Mit Ausnahme des skeptischen Fahrer-Ingenieurs Paul Frère prophezeiten viele zeitgenössische Experten 1969, der Allradantrieb werde sich ab 1970 durchsetzen. Man munkelte zum Beispiel, auch Ferrari und Honda arbeiteten an einem solchen Konzept. Aber daraus wurde nichts. Die Wagen waren chronische Untersteurer. Und ab jetzt war die Aerodynamik der Königsweg zu mehr Abtrieb bei immer mehr Motorleistung. In einem Interview sagte Keith Duckworth 1973 zum Thema: "Durch die Reifenentwicklung und die Aerodynamik ist es heute möglich, die Kraft auch über zwei Räder voll auf die Fahrbahn zu übertragen. Zudem hätte der Vierradantrieb bei den Mitteln, die wir damals zur Verfügung hatten, so oder so nicht funktioniert. Zum Glück fanden wir schnell genug heraus, was an der Sache falsch war, und wir sahen auch ein, dass es besser gewesen wäre, gar nicht damit anzufangen."
Mit den heutigen Simulationsmöglichkeiten wäre der Allradantrieb wohl von vornherein aussortiert worden. Seien wir deshalb froh, dass diese Möglichkeiten in den Sechzigerjahren noch nicht existierten. Andernfalls wären diese vier technisch faszinierenden Rennwagen wohl gar nicht erst gebaut worden.