Natürlich kann man die Türe öffnen, um in die Cabriolet-Version des Lancia Aurelia zu gelangen, aber Vittorio Gassmann schien dies im Film “Il Sorpasso” nicht zu kümmern. Fast konsequent setzte er sein Bein über die niedrige Gürtellinie, um den Wagen zu entern. Überhaupt spielte der helle B24S mit Jahrgang 1958 im Film eine grosse Rolle während des Zwei-Tages-Roadtrips, der so sinnigerweise auf der Via Aurelia seinen Anfang nimmt.
Der Wagen hätte kaum besser ausgewählt worden sein.
Fortschrittliche Konstruktion
Die Lancia Aurelia kann als eine Gemeinschaftskonstruktion von Vittorio Jano und Francesco De Virgilio gesehen werden. Bereits vor dem zweiten Weltkrieg liefen erste Prototypen, doch erst nach dem kriegsbedingten Unterbruch nahm die Limousine, die 1950 präsentiert wurde, ihre endgültige Gestalt in Form und Technik an.
Es war, für einen Lancia selbstverständlich, ein sehr individuelles und gleichzeitig fortschrittliches Auto. Tatsächlich hatten Jano und De Virgilio den ersten V6-Serienmotor (mit 60 Grad-Winkel) entwickelt und in eine Transaxle-Limousine mit gegenläufigen Türen ohne B-Säule eingebaut. Die Vorderradaufhängung orientierte sich an den Lancia-Konstruktionen aus der Vorkriegszeit, hinten sorgte eine neu konstruierte Einzelradaufhängung für optimale Fahreigenschaften. Und tatsächlich war eine Aurelia durchaus in der Lage, auch mit sechs Personen an Bord, manchem Sportwagen auf kurviger Strecke Paroli zu bieten und dies trotz nur 57 PS und immerhin 1080 kg Leergewicht.
1951 folgte dann ein von Pininfarina eingekleidetes Coupé auf die Limousine, die berühmte Aurelia B20 GT. Gleichzeitig stieg die Leistung des noch längst nicht ausgereizten V6-Motors mit halbkugelförmigen Brennräumen und zentraler Nockenwelle. Bereits 1953 erhöhte man den Hubraum auf 2451 cm3, die Leistung auf 116 PS. Damit lief das Coupé nun über 180 km/h. Und war auch für Rennerfolge, etwa an der Mille Miglia, gut!
Offen mit und ohne Panoramascheibe
Die formale Sensation aber offenbarte sich mit dem ebenfalls von Pininfarina eingekleideten “ Spider America ”, einem Wagen, der wie auch das Coupé und die Limousine die bei der Modellpflege eingeführte DeDion-Hinterachse erhielt. Der Radstand aber wurde um rund 20 Zentimeter gekürzt und der Motor für die Amerikaner etwas elastischer ausgelegt. Den Schalthebel positionierte man sportlich über der Kardanwelle.
Atemberaubend geriet die Form, die an den legendären D24 erinnerte und mit der Panoramascheibe überaus elegant wirkte.
Im Januar 1955 wurde der Spyder America in Brüssel, in März in Genf gezeigt. Besonders komfortabel war die offenen Variante nicht, die Ausrüstung erinnerte mit den Steckscheiben eher an einen klassischen englischen Roadster. Damalige Kritiker äusserten, er sähe nicht so teuer aus, wie er sei.
Bereits im April 1956 wurde für den 38. Turiner Autosalon der Nachfolger des 240 Mal gebauten Spyder America angekündigt. Dort fand er allerdings angesichts der Überraschungs-Premiere des Lancia Flaminia kaum Beachtung. Wer trotzdem hinschaute erkannte als sichtbarstes Erkennungszeichen war eine neugestaltete Frontscheibe. Doch die Unterschiede gingen deutlich weiter.
Fast komplett neu
Der “Convertibile” war im Prinzip ein fast komplett neues Auto, zumindest was die Karosserie betraf. Kaum ein Blechteil konnte vom Vorgänger übernommen werden. Die Türausschnitten reichten nun deutlich tiefer hinunter, um einen bequemeren Einstieg zu ermöglichen. Die Steckscheiben des America wichen herkömmlichen versenkbaren Seitenscheiben, das Cabriolet-Dach war versenkbar und einfacher zu bedienen. Dach Heck wurde neu gestaltet, die Motorhaube ebenfalls. Die Stossstangen hinten und vorne waren nun durchgängig.
Im Innern machte ein neu gestaltetes Armaturenbrett auf sich aufmerksam und insgesamt wurde auf deutlich mehr Langstreckenkomfort geachtet.
Die Komfortmassnahmen schlugen sich in einem rund 150 kg höheren Fahrzeuggewicht nieder, das mit 1215 kg (trocken) angegeben wurde. Die Aussenlänge hatte um drei Zentimeter zugenommen, während die Fahrzeughöhe um einen Zentimeter schrumpfte.
Zusammen mit der von 118 auf 110 PS gesunkenen Motorleistung erwies sich das Cabriolet als doch etwas weniger sportlich, was sich schon alleine am Leistungsgewicht von nunmehr 10,8 anstatt 9 kg pro PS ablesen lies. Die Höchstgeschwindigkeit gemäss Werk betrug nun 175 anstatt 185 km/h.
Selten und schön
Mit 29’500 Franken stand das B24S Cabriolet im Jahr 1957 in den Preislisten, ein Mercedes-Benz 300 SL schlug mit 33’500 Franken zu Buche, ein MG A mit 11’300 Franken. Einen Porsche 356A 1500 GS Carrera gab es als Speedster für 21’350 Franken, einen VW Käfer Standard erhielt man für 5555 Franken. Es war also ein exklusives Vergnügen, den Aurelia als Cabriolet zu fahren. Dies erklärt auch die überschaubare Produktion von insgesamt 521 Exemplaren.
Entsprechend selten sind sie heute, obschon die Überlebensrate im Vergleich zu anderen Autos jener Zeit etwas besser sein dürfte.
Bis heute beeindruckt das zeitlose Design, im Vergleich zur Limousine und selbst zum etwas hochbeinigen Coupé wirkt das Cabriolet auch heute noch sehr elegant.
Wo ist die Via Aurelia?
Eigentlich müsste man eine Ausfahrt im Aurelia Cabriolet auf der Via Aurelia in Rom starten. Doch auch hierzulande verströmt der Zweisitzer viel “Italianità”. Wir lassen uns hinter das feingliedrige Lenkrad gleiten, stecken den Schlüssel ins Zündschloss, drehen und drücken. Der Motor setzt sich spontan und mit sportlicher Geräuschkulisse in Gang. Die Gänge folgen dem gängigen H-Schema und lassen sich problemlos einlegen, auch die Pedalkräfte verlangen nicht nach übergrossem Muskeleinsatz.
Die Rundumsicht ist mit versenktem Dach (für die Öffnungsprozedur lässt man sich besser eingehend instruieren) nahezu perfekt, doch blickt man auch gerne auf die hübschen Instrumente.
Vielen Käufern ging es auch nicht darum, möglichst gut hinaussehen zu können, sondern beim Vorbeifahren selber sehr gut sichtbar zu sein. Diese Aufgabe erfüllt der mit niedriger Gürtellinie gesegnete B24S perfekt, Nasenbohren oder Handytelefonieren sollte man also unterlassen, denn der hübsche Wagen zieht samt Besatzung die Augen der Passanten und Ordnungshüter fast magisch an.
Man sitzt vergleichsweise aufrecht, hat das kompakte - 4,23 Meter lange, 1,56 Meter breite - Cabriolet so aber gut im Griff. Selbst heute rnoch eichen die 112 PS, für die Baujahre 1957 und 1958 wurde die Leistung leicht angehoben, locker aus, um im Verkehr mitzuhalten und sowieso tendiert man im offenen Lancia eher zum Promenieren als zum Rasen.
Der Filmtitel “Il Sorpasso” steht bekanntlich für Überholmanöver, die der leidenschaftliche Vittorio Gassmann natürlich mit Verve abwickelt, ohne über die Risiken nachzudenken. Heute agiert man etwas vorsichtiger, schliesslich werden perfekte B24S Convertibile inzwischen für einige Hunderttausend gehandelt, was sie zu den teuersten Lancia-Fahrzeugen überhaupt macht.
Wir danken der Oldtimer Galerie Toffen für die Gelegenheit, das Lancia Aurelia B24S Cabriolet fotografieren zu können.
Weitere Informationen
- AR-Zeitung Nr. 19 / 1956 vom 18.Apr.1956 - Seite 7: Ankündigungen Turiner Autosalon 1956
- Oldtimer Markt Heft 3/1992, ab Seite 8: Lancia Aurelia
Information
Kostenlos anmelden und mitreden!
Mit einem Gratis-Login auf Zwischengas können Sie nicht nur mitreden, sondern Sie profitieren sofort von etlichen Vorteilen:
Vorteile für eingeloggte Besucher
Information
Kostenlos anmelden und mitreden!
Mit einem Gratis-Login auf Zwischengas können Sie nicht nur mitreden, sondern Sie profitieren sofort von etlichen Vorteilen:
Vorteile für eingeloggte Besucher
Dann melden Sie sich an (Login).