Mit der Einführung der Mercedes Typen W 114/115, im Volksmund allgemein als /8 bekannt, endet auch beim Traditionskonzern Daimler-Benz AG die Nachkriegs-Ära. Der /8er ist konsequent als neue Modellreihe unterhalb der bisherigen Oberklassetypen konzipiert. Bis dahin hatte man beim Daimler lediglich eine Modellreihe für die Limousinen im Programm, von der sich nach unten dann – mit einigen Retuschen an der Karosserie – die günstigeren und leistungsschwachen Einstiegsmodelle ableiten liessen. Drei Jahre nach der Vorstellung des W 109 überraschte Daimler im Jahr 1968 mit dem /8 als komplett eigenständig entwickelte Baureihe. Ein Schritt, der sich auch für das Unternehmen auszahlen sollte, worauf Michael Rohde in seiner Monografie „Mercedes-Benz /8“ schon im Untertitel hinweist: Mercedes für Millionen.
Noch ein Mercedes Buch
Das /8-Buch von Michael Rohde ist im Grunde genommen kein neues Buch. Im Gegenteil, auch wenn es sich in dieser Form um eine Erstauflage handelt, liegt damit doch eine sehr gründlich überarbeitete dritte Auflage der vergriffenen Auflagen von vor 20 Jahren vor. Ein Facelift, das kann man vorwegnehmen, das sich gelohnt hat. Insbesondere der Zugriff auf die Protokolle der Vorstandssitzungen zum Thema W 114/115 muss so eine Monografie einfach um Fakten anreichern, die sonst unter dem geheimem Verschluss eines Automobilunternehmens bleibt.
Der /8, ein echter 68er
Natürlich kennt der /8er mit dem „Ponton“ und der „Heckflosse“ Vorgängermodelle. Diese basierten allerdings auf den höher positionierten 6-Zylinderfahrzeugen und waren eher abgespeckte Vierzylinder-Einstiegsvarianten in den erlauchten Fahrerzirkel von Mercedes. Aber damit war 1968 Schluss.
Daimler setzte auf eine eigenständige Modellreihe in der oberen Mittelklasse, was angesichts der bereits 1965 vorgestellten S-Klasse nur konsequent war, wenn man keine Käufer nach unten verlieren wollte. Die wenige Jahre später vorgestellte S-Klasse (W 116) markierte dann noch deutlicher den Abstand der Oberklasse zur Mittelklasse, ohne die es bei Mercedes nie solche Zuwachsraten gegeben hätte. Gemessen an vergleichbaren Wettbewerbern wie den grossen BMW-Modellen (E3) oder dem NSU Ro 80, ja selbst dem Audi 100 war der /8er am wenigsten der revolutionäre 68er. Allerdings sollte er das Mercedes Geschäftsmodell mehr als umkrempeln.
200 Seiten /8 Buch
Das Buch zum W 115/115 von Michael Rohde handelt die Facetten des Erfolgsmodells von Daimler-Benz auf über 200 Seiten ab. Dabei bleibt der Autor klar beim Fahrzeug. Kein Mercedes-Epos als Einleitung, keine Vorgänger- oder Nachfolgerdebatte. Hier liegt ein /8-Buch vor. Basta. Das hat klare Vorteile. Rohde, ein ausgewiesener /8-Kenner hat und hat einiges zu vermitteln: Entwicklung, Typologie, Modellvarianten, Motorderivate, Sondermodelle, Tuning und Extras. Da muss man sich ranhalten. Besonders, wenn man 20% des Buches als Kaufanleitung konzipiert hat. 40 Seiten, die dem Buch an allen anderen Ecken und Ende fehlen.
Stuttgarts Stern leuchtet
Rohde, unverkennbar ein Fan der Marke mit dem Stern und ein Anhänger der /8-Gemeinde. Das hat klare Vorteile, gradlinig kommt er in den zehn Kapiteln des Buches sofort auf den Punkt. Ohne grosses Brimborium ist man bei der Erklärung des Begriffs „/8“, und dessen Auflösung, lernt die Missverständnisse um die Typenbezeichnung W114/115 und die Zuordnung zu 4- oder 6-Zylindermodellen kennen und erhält zahllose, minutiös recherchierte Hintergrundinformationen zum Fahrzeug, die von der ausgewiesenen Kompetenz des Autors zeugen.
Allerdings geht es für den Leser manchmal doch zu schnell. Es sind schon eine gewisse Mercedes-Vorkenntnisse notwendig, um immer gleich beim ersten Lesen den Ausführungen folgen zu können. Wie war das jetzt mit den 250er Motoren? Welche PS-Zahl unterschied anfangs Limousine von Coupé? Und wurde der Coupé-Motor jetzt doch in der Limousine verbaut oder nicht oder doch vom 280er abgelöst? Man mag nicht alles dreimal lesen und vermisst an dieser Stelle bereits zum ersten Mal eine sorgfältige Tabelle im Anhang.
Die technischen Daten zu den einzelnen Ausführungen können einen tabellarischen Vergleich nicht ersetzen. Auch in seinen überschwenglichen Ausführungen zum /8 nimmt sich der Autor nicht zurück. Wo gelobt werden kann, muss gelobt werden, wo getadelt werden sollte, fehlt leider ab und zu der kritische Diskurs. Als Beispiel seien die Ausführungen zu den Motoren genannt. In höchsten Tönen werden die 4-Zylinderbenziner als das Nonplusultra ihrer Zeit gelobt, selbst wenn sie in ihrer Konzeption noch auf die späten 40er Jahre zurückgreifen müssen. Hier muss man dem Autor auch mal ein wenig mit der Realität beim Daimler konfrontieren. Mercedes hatte in den 60er Jahren sehr stark auf den Wankelmotor gesetzt und damit die Hubkolbenentwicklung stark vernachlässigt, was sich dann fast ein Jahrzehnt lang auf die Motorenpalette von Mercedes auswirkte. Verglichen mit BMW wurden moderne Vierzylindermotoren erst während der Produktion des W 123 eingeführt.
Der Mercedes für das Kleinbürgertum
Die /8-Produktion erreichte mit knapp zwei Millionen Fahrzeugen annähernd die gleiche Stückzahl wie alle Nachkriegs-Pkw der Marke Mercedes-Benz davor zusammen. So gesehen war das Fahrzeug für Mercedes der erste wichtige und richtige Schritt zum Volumenanbieter. Obwohl Rohde diese Erkenntnis im Untertitel des Buches exemplarisch formuliert, finden sich dazu leider keine wirklichen Erkenntnisse mehr im Buch. Der /8 war kein Revoluzzer, aber er war die deutscheste Antwort auf die Einrichtung Bundesrepublik. Weg vom Käfer, der Volksmotorisierungsidee der Nazis, hin zur „wir sind wieder wer“-Mentalität der breiten Bevölkerung Westdeutschlands. Gespart wurde jetzt nicht mehr auf den Export-Käfer sondern auf den 200 D. So bieder die Vorstellung heute sein mag, so wahr war sie damals, was andere Hersteller, schmerzlich erfahren mussten.
Schade, dass der Autor diesem Gedankengang keinen Platz in seinem Buch einräumt. Dafür wird allerdings dem Taxigewerbe an vielen Stellen ein Lied gesungen. Nicht ganz zu unrecht, denn diesen Markt pflegte Mercedes und die Droschkenbesitzer dankten es. Bahnhofsvorplätze waren gerade in den 70er und 80er Jahren Abstellplätze der Mercedes Baureihen /8 und W 123. Und bis zum Bonanzaeffekt der E-Klasse sollte es auch so bleiben.
Unterm Strich
Der Autor stellt eine klar auf das Modell orientierte Monografie vor, die den Kaufberatungsanteil im Buch mit dem Verzicht auf die saubere Ausformulierung vieler spannender angerissener Details erkauft. Ein Buch, das bei der Recherche Zugriff auf die Vorstandsprotokolle erhielt, darf und müsste dies als Chance begreifen, hier mehr Hintergrundwissen zu liefern. In diesem Buch fehlen zum Beispiel gänzlich der Blick auf den Export: Absichten, Strategien und Modelle sind vollkommen ausgeklammert. Bei anderen Themen sind sie nur angerissen. Überschwengliche Formulierungen lassen manchmal die nötige Distanz bei aller fachlichen und inhaltliche spannenden Vermittlung vermissen. Der eine oder andere Sachfehler zeugt davon, dass auch Typenspezialisten nicht immer alles richtig ins Buch hinein bekommen. Das reichhaltige und überzeugende Bildmaterial ist manchmal etwas gar flapsig untertitelt. Statt der ergänzenden Inhaltsvermittlung wird in Plattitüden auf dem Nimbus von Mercedes herum geritten. Das ist umso bedauerlicher, gerade weil der Autor sich auskennt und an dieser Stelle kurz und knackig eine echte Mehrinfo unters Bild hätte setzen können.
Was bleibt, ist der Eindruck, dass ein Pragmatiker eine sehr ausführliche und gute Kaufberatung mit viel Hintergrundinformation zum ersten Millionenseller von Mercedes dargelegt hat. Wer mit dem Kauf eines /8 liebäugelt ist mit diesem Buch bestens bedient. Wer sich allerdings vertieftes und vor allem schlüssige Wissensvermittlung zum W 114/115 verspricht, der sollte sich das Buch erstmal in einer Buchhandlung anschauen, um einer späteren Enttäusch vorzubeugen.
Dies soll kein Grund zu sein, das Buch nicht zu kaufen. Denn an vielen Stellen blitzt Sach- und Detailkenntnis auf. Bestes Beispiel: Allein der Fokus auf die Unterscheidung in die diversen Serien der Modellpflege und deren Unterschiede kann in einer Monografie ein spannendes Kapitel sein. Und das ist es auch hier, allerdings ist es nur mit gewisser Vorkenntnis nachvollziehbar. Das eine oder andere zusätzlich vergleichende Bild, würde in der zugegeben komplexen Mercedes /8 Vielfalt deutlich mehr vermitteln.
Wer € 39,90 für eine Monografie ausgibt, möchte sich vertieft mit einem bestimmten Modell auseinandersetzen. Und da erinnert das Buch ein wenig an den Mercedes /8 seinerzeit. Man erhält ein sehr gutes, solides Basismodell, aber die Extras gibt es nicht dazu.
Bibliografische Angaben
- Titel: Mercedes-Benz /8 „Mercedes für Millionen“
- Autor: Michael Rohde
- Sprache: Deutsch
- Verlag: Motorbuch Verlag, 1. Auflage 2016
- Format: 235 x 265 mm, Hardcover gebunden im Schutzumschlag
- Umfang: 208 Seiten, 222 Farbfotos, 100 Schwarz-Weiß-Fotos
- ISBN: 978-3-613-03910-0
- Preis: € 39,90
- Kaufen/bestellen: Online bei amazon.de , online beim Motorbuch Verlag oder im einschlägigen Buchhandel
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