Als Mercedes-Benz am 17. April 1971 den Tourensportwagen 350 SL ankündigte, da hätten nicht einmal die Erbauer selber daran geglaubt, dass es 18 Jahre dauern würde, bis ein Nachfolger auf dem Tapet erschiene. Schliesslich dauerte der Modellzyklus bei Daimler üblicherweise sechs bis acht Jahre und daran hatten sich die Vorgänger 190 SL (1955-1963) und 230-280 SL (1963-1971) auch gehalten. Dass der R107 zum Langläufer werden würde, war damals auch deshalb unwahrscheinlich, weil er anfänglich ein eher nüchternes Presseecho erhielt.
Sportlichkeit mit Gewissen
Dabei hatte man den neuen SL mit viel Hoffnung angekündigt, um den typischen Vorurteilen, mit denen Mercedes-Fahrer zu kämpfen hatten, zu begegnen. Anstatt “stock-konservativ”, “total unsportlich”, “grenzenlos bequem”, “extrem risikofeindlich”, “maßlos egoistisch” und “ungeheuer materialistisch” sollten SL-Käufer In Zukunft “Sportlichkeit mit Gewissen” zeigen können.
Und rückblickend ging diese Rechnung sicherlich teilweise auf, denn die Fahrzeuge der R107-Baureihe erreichen durchgehend ein hohes Alter bei guter Gesundheit. Die ältesten 350 SL sind schon fast 50 Jahre alt, der fotografierte rote Wagen gehört mit Chassisnummer 3333 zu den frühesten Exemplaren.
Zuerst verschmäht und missachtet
Die Freunde der Pagode, so nannte man den Vorgänger W113 - erhältlich zuerst als 230 SL, danach als 250 SL und 280 SL - konnten anfangs mit dem protzigeren und schwerfälligeren R107 nicht viel anfangen. Dabei war er eigentlich weniger stark gewachsen, als es die Optik erahnen liess. Elf Zentimeter Längen- und drei Zentimeter Breitenwachstum, das war doch eigentlich verkraftbar, sollte man meinen.
Trotzdem kritisierte Reinhard Seiffert 1971 nach seinem Test für “auto motor und sport”:
“Stellt man den 350 SL neben seinen Vorgängertyp, dann drängt sich die Überlegung auf, daß von einem Fortschritt der Karosserie-Stilistik in diesem Fall nicht die Rede sein kann. Den 350 SL kann man wohl kaum als schöner bezeichnen als den ruhiger und klarer gestalteten 280 SL. Höchstens kann es sein, daß diesem oder jenem Betrachter der neue Typ besser gefällt, denn Form ist immer auch Geschmacksache. Die meisten, die man danach fragt, sind allerdings der gegenteiligen Meinung: Ihnen gefällt der alte Typ besser. Vielleicht liegt es daran, daß man dem 350 SL eine Keilform verpassen wollte, diese Absicht aber nicht konsequent verwirklichen konnte. So entstand ein Zwitterding zwischen Keilform und normaler Ponton-Stufenheckform.
Als Objekt für die Keilform eignet sich der 350 SL schon deswegen nicht, weil der zwischen den Vorderrädern eingebaute Motor viel Bauhöhe beansprucht, also eine flach nach vorn herunter gezogene Haube nicht zuläßt. So ist es kein Wunder, daß die stark gewölbte Haube auch von innen stört. Da die Gürtellinie sehr hoch liegt und nach hinten noch ansteigt, er geben sich ziemlich kleine Fenster mit Sichtverhältnissen, die man höchstens als genügend bezeichnen kann. Der Innenraum wirkt enger und dunkler, als man es von modernen Sportwagen gewöhnt ist.”
Man kann es kaum glauben, wenn man das heute liest. Nicht nur wurde der R107 der erfolgreichste SL bis dahin, er überzeugt vor allem noch heute durch einen klassischen und eleganten Auftritt. Und man sieht ihn sogar noch häufig im modernen Alltagsverkehr.
Wohlbekannt
Er ist omnipräsent und man erkennt ihn sofort, wie könnte man ihn auch vergessen? Schliesslich sah man ihn nicht nur auf der Strasse, sondern häufig auch im Kino oder im Fernsehen. Richard Gere fuhr als “American Gigolo” im gleichnamigen Film einen schwarzen SL, Jennifer Hart in der Fernsehserie “Hart aber herzlich” einen gelben und Bobby Ewing chauffierte seine Frau Pamela mit einem roten Mercedes-Benz SL der Baureihe R107 durch die Gegend und Fernsehkulissen um Dallas.
Man gewöhnte sich nämlich schnell an den neuen 350 SL, denn er hatte viele Vorzüge gegenüber seinen Vorgängern zu bieten, allen voran deutlich mehr Sicherheit und Komfort.
Sicherheit gross geschrieben
Rund 185 kg mehr als die Pagode mit 2,8-Liter-Sechszylinder brachte der neue 350 SL auf die Waage. Das Mehrgewicht hatte gute Gründe. Natürlich brachte der V8 zusätzliche Pfunde auf die Vorderachse, hauptsächlich verantwortlich dafür waren aber Massnahmen zur Steigerung der passiven Sicherheit im neuen SL. Die Automobil Revue beschrieb diese 1971 ausführlich:
“Dank der von Daimler-Benz unter Mithilfe von IBM entwickelten Elasto-Statik-Element-Methode (kurz ESEM genannt), welche die Durchführung von Festigkeitsberechnungen hinsichtlich Sicherheit und Belastbarkeit mittels Computer zum Gegenstand hat, weisen die Windschutzscheibenpfosten eine gegenüber dem Vorgänger um volle 50 % höhere Festigkeit auf. Die Verletzungsgefahr der Wageninsassen bei einem Überschlagen des Fahrzeuges wird damit erheblich reduziert.
Nicht minder sind die Bemühungen um optimale Sichtverhältnisse sowie um die passive Sicherheit. In die Verkleidung der Windschutzscheibenpfosten eingebaute Windabweiser verringern - wie ausgiebige Versuche im Windkanal gezeigt haben - die Verschmutzungsgefahr der Seitenfenster erheblich. Dasselbe trifft für die neugestalteten Schlussleuchten mit stark profilierter Oberfläche wie auch für die in den oberen Zierstab am Heckfenster eingebaute Regenrinne, die die Scheibe sauber hält, zu.
Durch Anordnen des Benzinbehälters über der Hinterachse, d. h. zwischen zwei Schotten, die Passagier- und Kofferraum abtrennen, wurde dieser bei Auffahrkollisionen aus der Gefahrenzone gerückt.
Eine Neukonstruktion verkörpert schliesslich auch der Aussentürgriff. Um einem ungewollten Öffnen durch Aufprall eines Fremdkörpers vorzubeugen, wurde auf einen Druckknopf verzichtet. Das Öffnen der Türe von aussen erfolgt nunmehr durch eine Zugbewegung des Türgriffs nach aus- sen. Schliesslich knickt der Aussenspiegel, der über einen Hebel von innen beliebig verstellt werden kann, bei äusserer Krafteinwirkung ab.”
Das ursprünglich angekündigte ABS von Teldix, “Anti-Bloc-System” genannt, kam dann allerdings doch nicht.
Ganz freiwillig hatte Daimler-Benz die Sicherheit des Wagens nicht gesteigert, denn aus Amerika drohten rigide Vorschriften, die das Vollcabriolet auszurotten drohten.
Gesteigerter Komfort
Es war aber nicht nur die Sicherheit, die verbessert wurde, sondern auch der Komfort. Der neue SL bot mehr Platz, notfalls zwei Kindersitze in der zweiten Reihe und einen brauchbaren Kofferraum von 252 Litern Fassungsvermögen. Es gab ihn mit Handschalt- oder Automatik-Getriebe und auch eine Klimaanlage konnte geordert werden. Die Lenkung war servounterstützt und auch bei einem Bremsmanöver half die Technik mit.
Die Aufpreisliste liess einen manchen zusätzlichen Wunsch erfüllen, auch wenn dann der Neupreis deutlich über DM 29’970 oder CHF 40’500 stieg. So kostete das Hardtop DM 1460 oder CHF 1900, die Automatik DM 1543 oder CHF 1600. Auch Leder, Radio oder eine elektrische Antenne kosteten Aufpreis. Selbst ein Telefon konnte bestellt werden.
Kein Sportwagen
Zwar bot der 350 SL durchaus konkurrenzfähige Fahrleistungen. 8,4 Sekunden für den Spur von 0 auf 100 km/h und 215,6 km/h Spitze waren schliesslich nicht von schlechten Eltern. Da aber viele Kunden (man sprach damals von 60 %) die 4-Gang-Automatik-Version der Handschaltversion mit gleich vielen Übersetzungen vorzog, mussten sie sich mit 11,0 Sekunden für den Standardsprint und 211,8 km/h Spitze bescheiden, wenn sie nicht in die Schaltvorgänge eingriffen. Bei klug von Hand gewählten Schaltstufen liess sich die Zeit für die Beschleunigung von 0 auf 100 km/h aber auf 9,5 Sekunden reduzieren, womit man einen Citroën SM hinter sich lassen konnte, nicht aber einen BMW 3.0 CS.
Hätten die Fahrleistungen das Attribut “Sportwagen” noch nicht in Frage gestellt, so taten es Komfortauslegung und Fahrwerk zusammen mit dem hohen Gewicht. Reinhard Seiffert schrieb:
“Er ist ebenso eindeutig für den Boulevards von Düsseldorf oder St. Tropez konzipiert, wie der 300 SL für die sportlichen Langstrecken der Mille Miglia oder der Carrera Panamericana gedacht war.”
Wegen seines kurzen Radstands (2460 mm) und der kopflastigen Natur entpuppte sich der 350 SL als stark untersteuernder Wagen, der in Kurven schnell ins Gegenteil wechseln konnte, wenn man das Gas lupfte oder die Haftung abriss.
Nicht ganz ins Bild des fortschrittlichen Tourensportwagens wollte der Verbrauch passen. Bis 20,6 Liter pro 100 km liefen im ams-Test durch die elektronisch gesteuerte Bosch-Einspritzung, weniger als 16,3 Liter waren es nie, im Durchschnitt wurde ein Testverbrauch von 18,2 Litern pro 100 km notiert. Die Automobil Revue kam gar auf einen Durchschnittsverbrauch von 19,6 Liter Super, die Automatikversion verlangte noch nach einem weiteren Zuschlag von drei Dezilitern, blieb aber immerhin unter 20 Litern.
Dafür erhielt man 200 PS bei 5800 Umdrehungen und einen auch über 6500 U/min drehenden Motor mit durchaus attraktivem Klangbild.
Stetige Evolution
Zum 350 SL gesellten sich schon bald ein 280 SL und ein 450 SL, auch eine etwas längere Coupé-Version (SLC) kam dazu. Erst 1980 wurde der 350 SL durch den etwa hubraumstärkeren 380 SL abgelöst, bis dahin wurden 15’304 3,5-Liter hergestellt. In den neun Jahren Bauzeit stieg der Preis (in DM) um immerhin um gegen 44 Prozent an, was die Leute nicht davon abhielt, den Wagen zu kaufen.
Und auch nach dem Ableben des 350 SL war die Zeit für die Baureihe R107 noch lange nicht abgelaufen. Bis 1989 wurden insgesamt 237’286 SL-Cabrios gebaut. Hunderte von Veränderungen und Verbesserungen lagen zwischen dem ersten und dem letzten Exemplar. Nicht nur die Motoren wurden modernisiert, auch Fahrwerk, Interieur, Elektrik und Elektronik waren kontinuierlichen Veränderungen unterworfen.
Die Ablösung erfolgte übrigens durch den von Sacco entworfenen R129, der genauso wie sein Vorgänger optisch völlig neue Wege ging.
Klassiker ohne Allüren
Wer schon einmal Mercedes gefahren ist, kommt mit dem 350 SL auf Anhieb zurecht. Der Motor startet auf Anhieb, die acht Zylinder sind sofort hörbar. Die seltene Viergang-Handschaltung wirkt ein wenig haklig, lässt sich aber nach kurzer Angewöhnungsphase gut schalten.
Die Servolenkung unterstützt und macht das Cruisen angenehm. Man schätzt die formidablen Platzverhältnisse und kann offen überhaupt nicht nachvollziehen, warum man dem R107 einst mangelnde Übersichtlichkeit zur Last gelegt hatte.
Wer es nicht zu sportlich angehen lässt, fühlt kaum Unterschiede zu späteren Modellen der Baureihe, der Komfort ist wegen der Siebzigerreifen sogar noch besser. Und rot sieht er doch wirklich fesch aus, nicht wahr? Wir jedenfalls haben uns fast ein wenig in den klassischen Benz verliebt.
Wir danken der Oldtimer Galerie Toffen für die Gelegenheit zum Foto Shooting.
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