Im Dschungel der US-amerikanischen Autoindustrie kann man sich gerne verirren. Das Buch "Amerikanische Autos, 1945 – 1990" von Roger Gloor soll nun als Machete dienen, um sich einen Weg hindurch zu bahnen.
Erfreulich viel Unbekanntes
"Amerikanische Autos, 1945 – 1990" zeigt neben den Marken der "Grossen Drei" sowie den populären "Independents" AMC, Rambler und Studebaker auch die unbekannteren Episoden der US-Autoindustrie von Glasspar über Crosley hin zu Muntz und Zimmer. Nach über 450 Seiten der reinen US-amerikanischen Marken folgt noch ein 40-seitiger Teil über "Halbamerikaner" mit einer (meist europäischen) Verbindung ins Ausland wie Arnolt, Intermeccanica oder Nash-Healey. Den Abschluss bilden Kleinserienfabrikate und Spezialkarosserien oder sonstige Randnotizen des US-Autobaus wie das Traumauto-Luftschloss "Argonaut Smoke" oder der unter Herbie-Fans berühmte Laser 917 GT.
Dieser Reichtum an grösstenteils vergessenen Marken neben dem üblichen Ford- und Chevrolet-Einerlei ist der grösste Pluspunkt von Gloors Buch. Hier wird selbst der intimste Kenner der amerikanischen Automobil-Historie wohl noch etwas Neues entdecken können.
Hervorzuheben ist auch, dass vollständig auf moderne Fotografien verzichtet wurde und alle Autos konsequent auf alten Werksfotos für Werbung und Presse gezeigt werden. Überraschend ist in diesem Zusammenhang, dass selbst bei den ältesten Autos im Buch überraschend viele Farbfotografien zu finden sind.
Am Ende eines jeden Markenkapitels (bei den grossen Marken aus Detroit nach jedem Jahrzehnt) fasst eine Tabelle die wichtigsten technischen Daten zusammen, die allerdings relativ unübersichtlich und leider gelegentlich auch unvollständig sind. So fehlen auf der Doppelseite für die Fords der Siebziger sämtliche Höchstgeschwindigkeiten, obwohl die Spalte auf beiden Seiten vorhanden ist. Produktionszahlen der einzelnen Modelle werden ebenfalls nicht genannt.
Im Detail gelegentlich fehlerhaft
Das beispielhaft zur Beurteilung der Informationsqualität gelesene Ford-Kapitel zeigte leider auch einige inhaltliche Schwächen. Die "Teletouch"-Automatik mit den Wahltasten in der Lenkradnabe war keine Mercury-, sondern eine Edsel-Eigenart. Auch war "Thunderbird" im Gegensatz zu "Continental" nie eine eigene Marke. Und Ford Mustang und Shelby GT-350 waren zwei völlig verschiedene Autos. Einen "Ford Mustang Shelby Cobra GT-350" (sic) hat es nie gegeben. Der komplette Mustang-Jahrgang 1968 fällt darüber hinaus unter den Tisch. Als Mustang-I-Bauzeit werden "1964–1967" und "1969–1973" angegeben.
Der Mustang-Teil des Buches offenbarte noch eine weitere Schwäche des Buches. Gerade bei US-amerikanischen Automobilen, bei denen in den Sechzigerjahren die Vielfalt an Ausstattungs-Kombinationen und -Paketen explodierte, muss man sehr genau auf Namen und Kombinations-Möglichkeiten achten. Was hier aber leider nicht mit letzter Präzision getan wurde. Um dies zu verdeutlichen gehen wir hier einmal sehr tief ins Detail:
Laut Buch enthält "Rally-Pac" für den Ford Mustang Scheibenbremsen, Bremsservo, Tourenzähler und eine "Differentialbremse". Was Gloor vermutlich meint, ist die ab April 1965 angebotene "GT Equipment Group", die Scheibenbremsen (ohne Servo), Nebelscheinwerfer, Doppelauspuff, verchromte Auspuffblenden, fünf Rundinstrumente (ohne Drehzahlmesser), direktere Lenkung und verstärkte Stabilisatoren enthielt. Das (auch beim GT optionale) "Rally-Pac" bestand nur Drehzahlmesser und Zeituhr. Ein Sperrdifferential kostete immer Aufpreis. Die "zentralen Radflügelmuttern", die laut Buch Teil des Rally-Pacs waren, waren immer gesondert erhältkiche Radkappen namens "Deluxe wheel covers with knock-off hubs". Das GT-Paket nennt Gloor später zwar auch, nennt allerdings Holzdekor am Armaturenbrett als einen Bestandteil davon. Das Plastik-Furnier kam jedoch (zusammen mit Dekor auf der Mittelkonsole) stattdessen in der "Interior Decor Group". Wenige Zeilen später wird der Mustang mit GT-Paket gar zum Shelby.
Diese kleinen Verwechslungen und Ausstattungs-Dreher ziehen sich leider durch den ganzen Mustang-Lauftext. Natürlich können bei dieser Fülle an Informationen Fehler oder Fehlinterpretationen passieren, zumal selbst die damalige Primärliteratur nicht immer konsistent geschrieben war. Trotzdem erschüttern diese Recherche-Schwächen halt auch ein wenig das Vertrauen in die anderen Kapitel des Buches. Wenn schon bei einem der populärsten und bestdokumentierten US-Modelle so viele Lapsi passieren: Wie ist es dann erst bei den unbekannteren Modellen von Clénet oder gar Omohundro? Dass zwei der bekanntesten Raymond-Loewy-Entwürfe für Studebaker eigentlich aus den Federn von Virgil Exner und Robert E. Bourke stammen, sollte sich inzwischen ebenfalls herumgesprochen haben.
Zu Beginn des Buches findet sich auf einer Seite eine "Erläuterung einiger Fachbegriffe", die Ausdrücke wie "DOHC" oder "LWB" erläutert – und als typisches Merkmal einer De-Dion-Achse ein Getriebe an der Hinterachse angibt. Korrekt wäre aber ein vom Achsrohr getrenntes Differentialgetriebe, das separat am Fahrzeug aufgehängt ist. "Tom Djaarda" (sic) als Designer des LaForza sowie die Behauptungen, dass Semon E. Knudsen Namenspatron der "Knudson-Nase" (sic) war und dass Studebaker bereits ab 1865 den Daytona mit Sechszylinder anbot, sind wohl eher dem Lektorat anzukreiden.
Fazit
Für 79 Euro bekommt man eine Menge Buch, die einen enormen, nahezu vollständigen Überblick über 45 Jahre Nachkriegs-Autobau in den USA gibt und die groben Eckdaten vermittelt. Von einem "Standard Catalog of American Cars, 1946 – 1975" ist es allerdings noch ein gutes Stück entfernt. Für ein reines Nachschlagewerk sind die Tabellen zu unübersichtlich und unvollständig; für eine unterhaltsame Lektüre die Texte teilweise zu technisch, wenn man von den Einführungskapiteln absieht.
"Amerikanische Autos, 1945 – 1990" lebt von seiner ernomen Vielfalt und den historischen Fotos, von denen man einige nur sehr selten zu Gesicht bekommt. So ist das Buch durchaus eine lohnenswerte Anschaffung, zumal man darin sicherlich manches findet, was man bisher nicht wusste oder schon lange wieder vergessen hat.
Bibliografische Angaben
- Titel: Amerikanische Autos, 1945 – 1990
- Autor: Roger Gloor
- Sprache: Deutsch
- Verlag: Motorbuch Verlag
- Auflage: 1. Auflage 2022
- Format: Festeinband, 230 x 265 mm
- Umfang: 584 Seiten, etwa 1000 Fotos und Abbildungen
- ISBN: 978-3-613-04365-7
- Preis: EUR 79,00
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