Vor ziemlich genau 70 Jahren, am 17. Januar 1953, wurde der Chevrolet Corvette der Öffentlichkeit präsentiert. Dieses Jubiläum hat Matthias Gerst zum Anlass genommen, ein neues Buch über Amerikas ersten und einzigen Grosserien-Sportwagen zu schreiben, in dem er sich auf 160 Seiten allen acht Generationen vom ersten Automatik-Roadster bis zum aktuellen Mittelmotor-Coupé widmet.
Vor allem grundlegend
Rein rechnerisch ergeben sich also gute zwei Seiten pro Modelljahr. Allerdings kommen noch die Kapitel über Prototypen und Studien, Rennversionen, Callaway-Derivate sowie eine kurze allgemeine Chevrolet-Geschichte hinzu, sodass sich ein Modelljahr gerne auch 'mal auf eine Seite beschränken muss.
Der Begriff "Standardwerk" auf dem Rückdeckel ist deshalb mit Vorsicht zu geniessen (oder zu ignorieren), da es für jede Baureihe alleine schon Bücher gibt, die doppelt so dick sind. Ein Appendix mit ausführlichen technischen Daten, Preislisten, Ausstattungslisten, Farbkarten und dergleichen fehlt.
Immerhin: einen kleinen Kasten mit den wichtigsten Daten (Motorleistung, Höchstgeschwindigkeit, Stückzahl, Basispreis etc.) gibt es zu jedem Modelljahr, wo er jeweils eine Vierteilseite einnimmt. Kommt dann noch ein halbseitiges Foto des entsprechenden Autos hinzu, wird es bei den einseitigen Jahren schon eng mit dem Lauftext. Bedingt durch diese Kürze ist dessen Inhalt sehr selektiv: Mal wird mehr auf die Lackfarben eingegangen, mal mehr auf einzelne Ausstattungsoptionen und mal auf verschiedene Motor- und Getriebekombinationen – aber nie auf alles gleichzeitig.
Wenig geschickt, wenn der ohnehin knappe Text dann nur ausformuliert, was entweder schon im Datenkasten steht, oder nur beschreibt, was auch auf den Bildern zu sehen ist. Gelegentlich geht der kleine Schriftteil aber auch auf verschiedene produktionstechnische Besonderheiten ein. So erfährt man etwa bei Modelljahr 1962, dass alle Fahrzeuge, die ab Werk mit Weisswandreifen bestückt wurden, schwarz lackierte Räder hatten, Fahrzeuge ohne Weisswandreifen hingegen Räder in Karosseriefarbe. Das ist die Art modellhistorischer Spitzfindigkeiten, die man von einem Buch erwartet, das sich selbst als "Standardwerk" bezeichnet. Leider kommen sie recht selten vor. Aber um bei jedem Modelljahr derart ins Detail gehen zu können, hätte es mehr Platz gebraucht.
Eingeschränkte Bildauswahl
Bebildert sind die einzelnen Modelljahre grösstenteils mit historischen Werksfotos aus dem GM-Archiv. Vereinzelt haben sich aber auch (etwa bei MJ 1975) unscharfe Fotos von "Bastelbuden" mit verspachtelten Frontmasken eingeschlichen, die auf Autotreffen aufgenommen worden sind und als Referenzobjekt nicht wirklich taugen. Doppelt unverständlich: eine Seite weiter ist eine originalgetreue '75er Corvette auf zwei scharfen Fotos von vorn und von hinten abgebildet. Den Platz des unscharfen Fotos hätte man besser für ein Bild des Innenraums genutzt.
Allgemein sind Aufnahmen von Innen- und Motorräumen rar gesät. Stattdessen wird gelegentlich sogar ein Modell dreimal aus derselben Perspektive gezeigt, etwa bei Modelljahr 1962. Da es sich hierbei immer um eine Dreiviertelansicht von vorn handelt, fehlt obendrein ein Blick auf die wohl markanteste und wichtigste Veränderung der Jahrgänge 1961 und 1962 im Vergleich zu den Vorjahren: das neue "Ducktail"-Heck, das schon die Sting Ray des Modelljahres 1963 vorwegnahm. Denn das '61er Modell ist ebenfalls nur als Dreiviertelansicht von vorn zu sehen. Generell wären in einem Buch dieser Art Bilderstrecken schön, anhand derer man auch die Detail-Änderungen der einzelnen Modelljahre miteinander vergleichen kann wie etwa die fünf verschiedenen Tankdeckel der Sting Ray.
Abseits der Autos nicht immer korrekt
Die im Lauftext und in den Bildunterschriften genannten Änderungen zwischen den Modelljahren sind aber – soweit wir das beurteilen können – immerhin weitestgehend korrekt, auch wenn sie gelegentlich an unerwarteter Stelle stehen. So wird das Waschbrett aus imitierten Luftschlitzen auf der Motorhaube des '58er Modells nur beim Modell 1959 erwähnt, weil es für diesen Jahrgang wieder entfernt worden ist, beim Modell 1958 aber mit keiner Silbe. Die "Powerdomes" – längliche Auswölbungen auf der Motorhaube – hatte die Corvette aber bereits ab 1956 und nicht erst ab 1958.
Die Informationen über das geschichtliche Umfeld hingegen sind bisweilen deutlich fehlerhafter. So schreibt Gerst in der Markengeschichte von Chevrolet, dass Bill Mitchell 1946 der Nachfolger von Harley Earl wurde. Tatsächlich übernahm Mitchell erst Ende 1958 das Amt des "Vice President, Styling Section" von Earl. 1946 war Mitchell noch Leiter des Cadillac-Studios.
Im selben Kapitel schreibt Gerst auch von einer bundesweiten Geschwindigkeitsbegrenzung auf 55 mph in den USA, die im Jahre 1954 eingeführt und die von allen 50 Staaten übernommen wurde. Allerdings waren Geschwindigkeitsbegrenzungen in den USA bis zur Einführung des "National Maximum Speed Limit" im Januar 1974 noch Ländersache – und ausserdem bestanden die USA 1954 noch aus nur 48 Staaten. Heute darf man übrigens in Texas bis zu 85 Meilen pro Stunden fahren, und nicht 75 wie im Text genannt.
Zu den Kelsey-Hayes-Rädern, die die Sting Ray auf ersten Pressefotos von Ende 1962 trägt, schreibt Gerst: "Sie sollten sich zu einer der beliebtesten Optionen entwickeln." Das ist richtig – aber erst ab 1964, da sie für 1963 nach einem Patentrechtsstreit mit Dayton aus dem Programm genommen werden mussten. Diese Präzisierung fehlt leider.
Fazit
"Chevrolet Corvette – Die US-Sportwagen-Ikone – Alle Generationen seit 1953", wie das Werk mit vollem Namen heisst, ist ein netter Überblick über die einzelnen Jahrgänge des Kunststoff-Sportlers mit dem kriegerischen Namen.
Es bildet jedes Modell mindestens ein Mal ab, beschreibt die wesentlichen Änderungen von Jahr zu Jahr und nennt die wichtigsten Daten, geht aber – auch durch die Grösse gegeben – nicht genügend in die Tiefe, um dem rückseitigen Versprechen des "Standardwerks" gerecht zu werden – wobei hierfür die Schuld wohl eher dem Editor als dem Autor zu geben ist. Für Einsteiger ist Gersts Buch auch in Anbetracht des Preises von 24,90 Euro ein ordentlicher Anfang. Wer schon etwas tiefer in die Corvette-Kunde eingedrungen ist, wird vor allem über die früheren Modelle wenig Neues finden.
Bibliografische Angaben
- Titel: "Chevrolet Corvette – Die US-Sportwagen-Ikone – Alle Generationen seit 1953"
- Autor: Matthias Gerst
- Sprache: Deutsch
- Herausgeber: Motorbuch-Verlag
- Auflage: 1. Auflage, Dezember 2022
- Umfang: 160 Seiten, 180 Fotos
- Format: 210 x 280 mm, gebunden
- Preis: EUR 24.90
- ISBN: 978-3-613-04484-5
- Kaufen/bestellen: Online bei amazon.de, online beim Motorbuch-Verlag oder im einschlägigen Buchhandel
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(Anmerkung: Ich selbst wäre vielleicht dem Reflex erlegen, ein Buch, welches den Gegenstand seiner Betrachtung - hier: US-Sportwagen - um das stereotype Bindestrich-Anhängsel "-Ikone", "Kult-", "-Legende", "-Mythos", ... im Titel ergänzt, von vornherein als trivial vorzuverurteilen. Diese Wortkombinationen sind als Überschriften im besten Fall abgegriffen und im Zusammenhang mit weltlichen Themen inzwischen allzu einfallslos. Für mein Empfinden sollten diese Begriffe wieder ihrer Herkunft gemäss in kirchlich-religiösem Zusammenhang verwendet werden, anstatt zur Überhöhung jedweder Belanglosigkeit. Insofern wäre es für mein Sprachgefühl sympathischer, z. B. vom Inbegriff eines US-Sportwagens zu schreiben, statt ständig die Ikone zu strapazieren - aber egal.)
Paul Krüger hat sich besser im Griff; er übt konstruktive Kritik und bleibt dabei sehr wohlwollend. So soll es sein: sachlich Kritik vortragen und persönlich Respekt zeigen. Im besten Fall erkennt der Autor des Buches, dass er keine Kränkung erfahren soll, sondern - im Gegenteil - eine wertvolle Hilfestellung erhält, mittels derer sich eine ggf. geplante zweite Auflage erkennbar verbessern liesse.
In der gleichen Haltung war auch die Besprechung des Buches "Art of Cockpit" durch Paul Krüger sehr gut nachvollziehbar!
(Nächste Anmerkung: Auch hier hätte ich es als wohltuend empfunden, wenn der Buchtitel nicht durch englische Sprache vermeintlich veredelt worden wäre. Warum nicht "Die Kunst des Innenraums / der Fahrerkabine / der Armaturenbrettgestaltung / ..."? Hier braucht es - zugegeben - noch ein wenig mehr sprachliche Kreativität - aber auch egal.)
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