Wahrscheinlich wäre Porsche der Aufstieg zum führenden Sportwagenhersteller nie geglückt, wenn es nicht das Karosseriewerk Reutter in unmittelbarer Nachbarschaft zum Porsche Stammsitz in Stuttgart Zuffenhausen gegeben hätte. Erst die fast schon symbiotische Zusammenarbeit auf dem Gelände von Reutter ermöglichte es Porsche, mit dem 356er eine profitable Serienproduktion hoch zu ziehen und dabei auf den Karosseriebau von Reutter zurückzugreifen.
Für Reutter bedeutete diese Symbiose Fluch und Segen zugleich, einerseits eben rentable Stückzahlen, andererseits die Abhängigkeit vom Geschäftsgang nur eines Kunden. Am Ende kam es 1963 zur Übernahme der gesamten Karosseriesparte durch Kauf seitens Porsche, während der übrige Teil des Unternehmens unter dem Namen Recaro (REutter CARosserie) sich auf die Zulieferersparte konzentrierte.
Frank Jung, Urenkel des Firmengründers, und mehrere Jahre für die Traditionsarbeit von Recaro, dem Nachfolgeunternehmen, verantwortlich, erzählt in der 2. durchgesehenen und überarbeiteten Auflage die Geschichte des Porsche 356 und „seines“Familienunternehmens.
Enge Verhältnisse
Mit knapp 340 Seiten zählt „Porsche 356 made by Reutter“ zu den umfangreichen Büchern. Denn der Autor belässt es nicht alleine bei der Überlieferung der Zusammenarbeit von Porsche und Reutter beim 356er, die nur knapp 15 Jahre währte, sondern führt auf 60 Seiten in die Unternehmensgeschichte ein.
In einem mehr als 100-seitigem Bildteil führt er den Leser durch die Jahre der Porsche Produktion bei Reutter, in dem die Bilder nach Produktionsschritten und jeweils chronologisch geordnet sind.
Dazwischen liegt eingebettet die Geschichte der 356er Produktion vom zarten Start mit dem Auftrag zum Bau von immerhin 500 Karosserien. Derweil sich die Porsche Mannschaft auf dem Reutter Firmengelände in beengte Verhältnisse einmietete, weil die eigene Fabrik auf der gegenüberligenden Strassenseite weiterhin von den Alliierten besetzt war.
Deutsche Nachkriegsgeschichte: Es ging aufwärts bis das damit verbundene Wirtschaftswunder anspruchsvollere Lösungen verlangte, die Zeit des Porsche 356 neigte sich nicht nur in Deutschland dem Ende entgegen. Auch die Zusammenarbeit mit Porsche endete im Kauf des Karosseriebaus von Reutter. Nur wenige späte 356er und ganz frühe 901er wiesen noch Spuren von Reutter DNA auf.
Zur Geschichte
Die Geschichte von Reutter lässt sich in zwei Hälften teilen. Die Zeit ohne Porsche und die Zeit mit Porsche. Der Karosseriebauer gehörte ab der Gründung 1906 zu vielen anderen mehr in Deutschland, die vor dem Ausbruch des 2. Weltkriegs üblicherweise für den Kunden auf Wunsch den Karosseriebau für das vom Hersteller gelieferte Chassis übernahmen.
So etablierten sich eine Reihe von Karosseriebauunternehmen, die oft den Schritt vom Kutschen- zum Wagenbau gegangen waren. Selbst der Beginn der Serienproduktion mittels Fliessband, der in Deutschland in den 20er Jahren einsetzte, bedrohte die Rolle der Karosseriebauers noch nicht, weil die betuchte Kundschaft weiterhin wert auf den Kauf individueller Fahrzeuge legte . Doch der Zenit war überschritten.
Nach 1945 setzte sich die selbstragende Karosserie und die Eigenproduktion der Automobilhersteller immer mehr durch.
Für Reutter bedeutete die räumliche Nähe zum neugegründeten Konstruktionsbüro von Prof. Ferdinand Porsche in Stuttgart ab 1931 dagegen die Chance in der neuen Verbindung, das „ausgelagerte“ Karosseriewerk des Porsche Büros und seiner Konstruktionen zu werden. Insbesondere mit der Serienvorbereitung des Volkswagens griff Porsche auf Reutter zurück und da liess man sich die dargebotene Chance nicht entgehen.
Einerseits hatte sich die Zusammenarbeit schon vorher bei den Vorläuferideen eines Volkswagens für Zündapp und NSU bewährt, andererseits musste man nur das Werksgelände verlassen, um auf der anderen Strassenseite hinter dem Werkstor weiterarbeiten zu können. Win-win würde man das heute nennen.
1949/50 wurden durch die Rückkehr der Porsche-Mannschaft aus Österreich mit der Idee des 356ers im Gepäck schnell wieder zarte Bande geknüpft, die in der eng verbundenen Zusammenarbeit von Porsche und Reutter endeten. Diese Zusammenarbeit steht auf mehr als 150 Seiten im Fokus des Buches. Chronologisch nach Jahren ordnet der Autor diese Geschichte in Wort und Bild an. Dabei hat er sowohl auf das Bildmaterial der Familie als auch das ehemaliger Mitarbeiter zurückgreifen können. Apropos Bildmaterial, es macht einen grossen Reiz dieses Buches aus, weil es tiefe – aufgrund ihres teils unprofessionellen Schnappschuss-Charakters – zwischenmenschliche Töne und Einblicke in die Unternehmensgeschichte zulässt.
Nochmal 300 Seiten Porsche?
„Porsche 356 made by Reutter“, schon wieder Porsche? Ja, natürlich und nein, natürlich nicht. Das Buch bleibt an der Unternehmensgeschichte dran. Die ist allerdings seit den 30er Jahren sehr eng mit der Geschichte des Hauses Porsche verquickt. Und liefert damit an manchen Stellen Hintergrundinformation oder zumindest Hintergrundspekulation, die sich so in anderer Porsche Literatur nicht finden lässt.
Das betrifft vor 1939 beispielsweise Gedanken zur Konstruktionsgeschichte des Berlin-Rom-Wagens (Typ 64 K 10) oder des VW Kübelwagens (Typ 82) durch Reutter. Selbst Kenner dieser Fahrzeugtypen können hier noch die eine oder andere Zusatzinformation erhalten, besser ausgedrückt erhaschen. Das alles wird nur kurz und dazu knapp abgehandelt, was einfach an fehlenden schriftlichem Archivmaterial liegt.
Jung bleibt konzentriert auf den Fokus der Reutter-Unternehmensgeschichte und räumt insbesondere den Mitarbeitern eine Menge Platz ein. Namen, Verantwortlichkeiten, Fähigkeiten und Umsetzungen durch Mitarbeiter werden in Wort und Text vorgestellt und liefern vertiefte Einblicke in das Leben und Werken bei Reutter. Angesichts des umfangreichen Bildmaterials würde man sich eher mehr Seiten wünschen, denn die viele Abbildungen würden in einer grosszügigeren Aufmachung noch mehr Charme verbreiten. Aber um den Umfang nicht zu sprengen, treten sie als Briefmarken zurück.
Ein Kapitel schliesst sich
Zum Ende der 356er Produktion kauft Porsche die Karosseriefabrik Reutter und damit das Werk II mit allem, was dazu gehört ab. Grundstück, Inventar, Mitarbeiter und Know-how wechseln das Firmenzeichen und sind Mitte der Sechzigerjahre Garant für den Aufstieg der 911er Produktion und der Porsche Entwicklung im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts. Reutter wird Porsche und lebt als Recaro und Zulieferbetrieb von Porsche und anderen weiter.
In einem prallen Buch bringt Frank Jung diese Geschichte zu Papier. Distanz will und kann Jung zur Familiengeschichte nicht einbringen. „Bestenfalls liegt die Wahrheit in der Mitte.“, meint Jung, wenn man ihn auf die Ergebnisse dieser seiner „Familiengeschichte“ anspricht. Und er meint damit die Tatsache, dass er auch mal spekulieren musste, wenn er Recherchen anderer Autoren den eigenen Hinweisen und Gedankenspielen gegenüber stellt. Sein Anliegen war stark dadurch getrieben, die Mitarbeiter in den Mittelpunkt zustellen, „auch weil ich ja nicht dabei war.“ Letztlich ist ihm damit ein Einblick in ein Familienunternehmen geglückt, dass in der Form seit mehr als 50 Jahren nicht mehr existiert. Deshalb ist sein Buch weder eine Familienchronik noch ein Werkverzeichnis. Vielmehr ist eine Verneigung vor einer Zeit, die so wohl nie wieder kommt, und in der Reutter zwar keine grosse Rolle aber eine sehr eigene gespielt hat: Ohne Reutter wäre der Erfolg des Porsche 356 so wohl nicht möglich gewesen. Und die frühen Motorsporterfolge sind ohne die Karosseriearbeit durch Reutter unvorstellbar.
So gesehen am Ende doch wieder ein Buch zur Porsche Geschichte? Bestimmt, denn die Fans von Reutter kann man alle persönlich kennenlernen, die des Porsche 356 sicher nicht. Dafür bekommt man für EUR 39,90 eine Menge Buch: Sowohl in sauber formuliertem Text als auch in umfangreichen Bildmaterial.
Die 2. erweiterte und durchgesehene Auflage ist für all diejenigen interessant, die die 1. Auflage nicht kennen. Und für alle, die sich für die Anfänge von Porsche, dem Modell 356 sowie für die Geschichte des Karosseriebaus in Deutschland interessieren.
Bibliografische Angaben
- Titel: Porsche 356 made by Reutter
- Autor: Frank Jung
- Sprache: Deutsch
- Verlag: Delius Klasing
- Auflage: 2. erweiterte Auflage 2019
- Format: Gebunden mit Schutzumschlag, 235 x 271 mm
- Umfang: 336 Seiten, 718 Fotos und Abbildungen
- ISBN: 978-3-667-11585-0
- Preis: EUR 39,90,
- Kaufen/bestellen: Online bei amazon.de , online bei delius-klasing.de oder in der guten Buchhandlung
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