Kunstwerk
Gleich eins vorweg. Das zweibändige 800-seitige Werk „Marcello Gandini, Maestro of Design“ ist eines der besten Bücher über Automobildesign, das wir je gelesen haben. Dabei ist es ist nicht die schiere Wucht des Schubers, aus dem zwei dicke Bände hervor quellen, sondern die Tatsache, dass es dieses Buch überhaupt gibt.
Nach einer schnellen Buchrecherche weiss man, dass es sehr wohl einige Bücher über italienische Automobildesigner erschienen sind. Eins über Marcello Gandini fehlte allerdings bislang. Das englischsprachige Werk des Autors Gautam Sen schliesst diese Lücke mit einer prachtvollen Werkschau.
Marcello Gandini
Wohl kaum jemand wird bestreiten, dass Marcello Gandini einer der größten Automobildesigner der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts ist. Unbestritten ist sein Einfluss auf das Automobildesign der letzten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, die bis weit in das 21. Jahrhundert hineinreichen. Marcello Gandini hat mit seinen kühnen und gewagten Entwürfen nicht nur Automobildesign beeinflusst, sondern auch maßgeblich transformiert. Seine Schöpfungen sind unvergleichlich und man möchte fast sagen: unermesslich. Denn kein Anderer hat so viele der epochalsten aller Automobile entworfen. Und, was wohl am meisten zählt, sie auch auf die Strasse gebracht.
Italienische Automobildesigner
Wenn es nach dem 2. Weltkrieg um Automobildesign ging, kam man um Italien nicht herum. Genauer gesagt, um Turin. Denn dort startete 1954 die grosse Epoche der freien italienischen Automobildesigner, allen voran Bertone, der mit dem Alfa Romeo Guilietta Sprint auf dem Turiner Salon ein kompaktes Coupé mit hinreissenden Linien präsentierte. Von nun an standen die Hersteller Schlange vor dem Turiner Design Mekka. Dabei verdankte das Centro Stile Bertone den Output allerdings gezielter und gepflegter Nachwuchsarbeit. Zahllose Designer haben in der Geschichte Bertones ihre Sporen verdient und ihre Spuren hinterlassen. Ob sie nun hier ihre Karriere begannen oder aber fortsetzten.
Ihren Höhepunkt erreichte diese ca. 25 Jahre währende Ära in den Jahren vor der Ölkrise. Bertone, Pininfarina, Giugiaro, Zagato, Vignale oder Scaglietti – im Norden Italiens schlug der gestalterische Puls des Automobilbaus, nirgendwo sonst wurde so elegant aber auch spektakulär in Form gegossen, was mit Hochleistungsmotoren schön und schnell sein sollte. Spektakuläre Supersportwagen von Lamborghini, Ferrari, De Tomaso oder aber Lancia schufen den Mythos vom Inbegriff der extravagant eingekleideten Flundern. Insbesondere die flachen Keile, die man bei Bertone kultivierte, prägte diese Zeit, in der auch eine bis heute unvergessene Zukunftsgläubigkeit zum Ausdruck kam.
Gandini und Bertone
Etwa in der Mitte dieser Ära trat Marcello Gandini ab 1965 als Chefdesigner und Nachfolger von Giorgetto Giugiaro bei Bertone als prägende Führungskraft an. Mit dem Lamborghini Miura gelang ihm bei der Vorstellung in Turin (1965) und auf dem Genfer Automobilsalon im März 1966 ein begeisterter Einstieg bei Bertone. Zwei Jahre zuvor noch von Giorgetto Giugiaro als Mitarbeiter abgelehnt, schuf Bertone unter der Handschrift vom neuen Designchef als "Hausdesigner" für Lamborghini mit dem Miura-Nachfolger Countach eine weitere Ikone, die neben den Modellen Urraco, Jarama oder Espada, Schlag auf Schlag für Aufsehen sorgten. Aber selbst profane Grossserienwagen wie der Fiat 132 oder der Fiat X 1/9 und der Madza 1500 erhielten eine von Gandinis Stil geprägte Karosserieform. Weniger bekannt sind die beratenden Vorschläge jener Zeit.
Während französische Firmen schon in den 50er und 60er Jahren auf die Kunst der automobilen Couture aus Turin zurückgriffen, hielt man in Deutschland nicht so viel. Nur Volkswagen griff bis zum Verkauf an Ford auf die Hilfe von Ghia zurück und liess den VW 411 massgeblich von Pininfarina einkleiden, bevor Giorgetto Giugiaro die neue Linie der wassergekühlten Volkswagen der 70er Jahre prägen sollte. Anfangs der 60er Jahre suchten dann NSU und BMW gestalterischen Input jenseits der Alpen. Und als die Auto Union mit dem Verkauf an VW auf die Hilfe aus der Mercedes Stilistik verzichten musste, immerhin hatte Paul Bracq einige Vorschläge für den neuen F 102 gemacht, verliess man sich für die Transformation zum Audi nicht allein auf die Handvoll Designer, die in Ingolstadt verfügbar waren. Vielmehr nahm man Kontakt mit Turin auf und liess bei Bertone eine Alternative für moderate Designmodifikationen entwickeln. Und für den Nachfolger, den späteren Audi 80 sowie den Audi 50, war Bertone mit eigenen Auftragsarbeiten bei den Karosserievorstellungen in den Stilistikabteilungen von Audi und VW im Rennen.
Bereits anfangs der 70er Jahren begann man in Deutschland verstärkt die Designabteilungen eigenständig zu professionalisieren. Eine Entwicklung, die bei Opel und Ford bereits in den 60er Jahren eingesetzt hatte. In Deutschland verliess man sich wieder auf sich selbst. Luthe, Sacco, Schäfer und Warkuss prägten bis in die 90er Jahre die Marken Audi, BMW, Mercedes und VW.
Ein Standardwerk
Die Prozesse im Automobildesign umweht immer eine Aura des Geheimnisvollen. Kein Wunder, vollzieht sich die Entwicklung hinter verschlossenen Türen. Wenn man dann die Bilder von Erlkönigen zu sehen bekommt, ist der Designprozess bereits abgeschlossen. Was man dann sieht, ist weniger als dazu je angedacht wurde. Umso spannender, wenn ein Buch die verschlossenen Türen öffnet und den Designprozess vieler bekannter und manch unbekannter Fahrzeuge öffentlich macht. Dass in diesem Buch nur ein einziger Designer im Mittelpunkt steht, macht das Ganze so attraktiv. Jahr für Jahr geht der Autor Gautam Sen die Arbeiten Gandinis durch. Dabei widmet er sich jedem Modell in der nötigen Ausführlichkeit. Sicher keine leichte Angelegenheit, nach teilweise über 50 Jahren und ohne den versichernden Rückgriff auf ein wohlgeordnetes Archiv. Gandini legte keinen grossen Wert darauf seine Arbeiten zu archivieren. Dafür webt der Autor in intensiver Auseinandersetzung mit Gandini selbst dessen Kommentare in die Chronik ein. Eine Herausforderung, gilt Gandini eher als introvertiert, ein Mann, der fast nicht in der Lage ist, sich selbst oder seine Arbeit zu kommentieren. Umso erstaunlicher wie gut es in diesem Buch gelingt, die Brücke zwischen der erzählten Geschichte, der recherchierten Faktenlage und den Eindrücken des Designers zu einer nachhaltigen und eindrucksvollen Werkschau zu komprimieren.
Zu den Fakten
Hier wird bewusst auf eine Auflistung der vorgestellten Fahrzeuge verzichtet. Es sind einfach zu viele. Über 100 epochale Modelle mit über 900 Bildern und Skizzen auf über 800 Seiten in zwei Bänden sprechen für sich. Es versteht sich von selbst, dass nicht jedes Fahrzeug in der gleichen Tiefe behandelt werden kann. Der Reiz des Buches liegt dabei aber in seiner reichen Bildauswahl und seiner chronologischen Aufbereitung. Schnell wird klar, dass auch Gandini den Recyclingprozess des Designs verstand. Gewisse Stilelemente wie die Sicke mit der Vertiefung über der Toronadolinie, die sich wie beim Iso Rivolta Lele bis in die C-Säule fortsetzt, wurden auch bei einem Vorschlag für den Audi 80 präsentiert. Und dass dem ersten 5er BMW eine gewisse Nähe zu Alfa Romeo nachgesagt wird, überrascht nicht, wenn man die Entwürfe mit der Alfetta aus den späten 60er Jahren vergleicht. Eindrucksvoll ist dabei die Vielfalt der gestalterischen Ausdruckskraft. Ob Supersportwagen, sportliche Limousine, Familienkutsche, kleine knackige Sportcoupés: Gandini hat Skulpturen geschaffen, die selbst in der Grossserie augenschmeichelnde Karosserien trugen.
Zwei Bücher wie aus dem Vollen geschnitzt
Eigentlich unglaublich, dass dem Designer des Lamborghini Countach, des Lancia Stratos, der von Audi 50/VW Polo über Citroën BX wegweisende Serienautos und darüber hinaus zahllose Concept Cars gestaltet hat, bislang die Referenz eines Buches verwehrt blieb. Aber das liegt hauptsächlich an Gandini selbst. Er, bekannt dafür sehr zurückgezogen zu leben, stimmt der Veröffentlichung dieses Buches erst zu, nachdem Frau und Tochter ihn dazu überreden konnten. Dass die spärlichen Informationen über Marcello Gandini nun um zwei Prachtbände ergänzt werden, wird dem Designer nur gerecht. Dem Leser wird das Ganze in einer einfachen Form serviert: zwei Bände in dem die Autos von Gandini nacheinander in chronologischer Reihenfolge präsentiert werden. Dazu kommen drei Abschnitte über die Jahre bei Bertone, seine Zeit bei Renault und die letzten Stationen seiner Karriere als unabhängiger Designer. Gandini selbst kommt sparsam zu Wort und wird durchgehend passend zitiert, natürlich zunächst zum Miura:
"Es ist ein Körper mit vielen Muskeln, aber es sind die Muskeln einer schönen Frau, nicht die eines männlichen Body Builders . Es ist böse, aber mit einigen sanften Eigenschaften. Er hat viele Kanten, aber alle Kurven sind am richtigen Ort platziert. Der Blick ist aggressiv, aber verlockend, das Auto ist einschüchternd, aber attraktiv." Wer hätte das besser sagen können als der Designer selbst?
So wird die Arbeit Gandinis in diesem prachtvollen Buch nicht nur gewürdigt, ihm wird hier ein Denkmal in Buchform gesetzt. Als kleines Danke schön für all die vielen Formen, die Gandini uns autobegeisterten Lesern geschenkt hat. Soviel Aufwand hat natürlich seinen Preis. Bei Amazon kann man das Buch für € 270.– bestellen. Nicht gerade ein Schnäppchen. Aber gemessen am Seitenpreis von € 3,– absolut gerechtfertigt. Denn die Ausstattung im Schuber oder die sehr hohe Druckqualität, die gewählte Bildauswahl charakterisieren ein Buch, das mit Hingabe zur Sache entstanden ist. Wer sich für Automobildesign im Allgemeinen und für das italienische Automobildesign im Speziellen interessiert, der wird hier nicht enttäuscht. Im Gegenteil, er wird belohnt. Aber daraus haben wir ja schon im Eingangsstatement keinen Hehl gemacht.
Bibiographie
- Titel: Marcello Gandini - Maestro of Design
- Autor: Gautam Sen
- Verlag: Dalton Watson Fine Books, 2017
- Format: 356 x 254 mm, 2 Bände, gebunden im Schuber, 800 Seiten, 924 Abbildungen
- Preis: € 270,00
- ISBN: 978-1854432797
- Bestellen bei amazon.de oder in der guten Buchhandlung
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