Der Automóvil Club Argentino (A.C.A.) plante unter seinem Verantwortlichen für die Rennen, Francisco Borgonovo, für den Jahreswechsel 1946/1947 eine Serie mit internationaler Beteiligung, die formelfrei (nach der Formula libre) ausgeschrieben wurde. Er knüpfte dabei an die Veranstaltungen an, die vor dem Krieg mit Autos nach der argentinischen Formel Fuerza libre („freie Kraft“), den „Especiales de carrera“ und den „Mecánicas nacionales“, ausgetragen wurden. Viele ausgemusterte Rennwagen von Bugatti, Alfa Romeo, Mercedes-Benz, Delage, Duesenberg, Ford, Stutz, etc. fanden den Weg nach Argentinien, um dort als wilde Alte den vielleicht aufregendsten Teil ihres Lebens zu verbringen. Sie fuhren gegen Autos, die auf amerikanischen oder europäischen Serienautos aufbauten und als Specials betrachtet werden können. Die Rennen selbst führten über die lange Strecke von Stadt zu Stadt. Sie wurden auch auf unbefestigten Ovalen auf dem Land oder in den Parks der Städte ausgetragen.
Der Rennsport in Argentinien war also in dieser Zeit durchaus speziell und Guillermo Sánchez erklärte das so: „Durch mehr als 9000 Kilometer von den Fabriken für die Autos und die Ersatzteile getrennt, glichen sich die Chancen der reichsten Piloten im Vergleich zu denjenigen, die mit Erfindergeist und guter Arbeit ihre eigenen Fahrzeuge entwickelten, aus“ [Esa diversidad y los más 9000km de distancia con las fábricas de automóviles y sus repuestos, equilibraron las posibilidades entre los pilotas más adinerados (…) y aquellos que con ingenio y calidad en su trabajo desarrollaron sus propios vehículos].
Für Rennautos aus allen vergangen Formeln und aller Jahrgänge
Die Ausschreibung der Temporada internacional nach der Formula libre erlaubte deshalb auch allen diesen Fahrern die Teilnahme und half gleichzeitig den Kreis der ausländischen Konkurrenten nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zu vergrössern, indem Rennautos aus allen vergangen Formeln und aller Jahrgänge startberechtigt waren.
1946 wurde Juan Domingo Perón in Argentinien zum Präsidenten gewählt. Sein faschistisch geprägtes Regime nutzte den Sport wie in Deutschland und Italien vor dem Krieg als Propagandainstrument, und seine Unterstützung war dem A.C.A. deshalb sicher.
Mit Hilfe des italienischen Journalisten Corrado Filippini kontaktierte der A.C.A. europäische Rennfahrer, um sie für eine Teilnahme zu gewinnen. Für die erste Temporada internacional, wie sie in Abgrenzung zu den nationalen Rennen genannt wurde und wörtlich übersetzt eigentlich „die internationale Saison“ bedeutete, konnten Achille Varzi, Luigi Villoresi, Giacomo Palmieri, Carlo Pintacuda und George Raphaël Béthenod de Montbressieux („Raph“) gewonnen werden.
Es war nicht schwierig diese Fahrer für die Reise nach Argentinien zu bewegen. Das Land war am Ende des Zweiten Weltkriegs intakt und relativ wohlhabend. Die Startgelder wurden in US-Dollar bezahlt. Die Überfahrt, die Unterkunft und die Verpflegung waren frei. (Einzig die Besitzer der Teams wunderten sich über das Vorgehen, da sie das Aushandeln von Startgeldern als ihre Sache betrachteten). Dazu kam das Recht, die Autos in Argentinien verkaufen zu können. Es waren grosszügige Regelungen in einem Land, in dem trotz Wohlstand wegen des Handelsbilanzdefizits mit den USA eine Knappheit an Dollar herrschte.
Drei grosse Rennen in Buenos Aires und Rosario
1947 wurden zwischen dem 09. Februar und dem 02. März, neben verschiedenen nationalen Veranstaltungen, drei internationale Rennen auf Stadtrundkursen ausgetragen. Zwei davon in Buenos Aires als Grosser Preis der Stadt Buenos Aires, das erste mit einem Preis des Präsidenten Perón und das zweite mit einem Preis seiner Ehefrau María Eva Duarte de Perón („Evita“). Beide Rennen gewann Luigi Villoresi auf Maserati 4CL. Das dritte Rennen war der Grosse Preis der Stadt Rosario, das Achille Varzi auf Alfa Romeo 308 gewann. (Die detaillierte Liste aller im Rahmen der argentinischen Temporadas ausgetragenen, internationalen Rennen ist im Anhang aufgeführt).
Die Ausschreibung nach der Formula libre bot für die einheimischen Fahrer eine Gelegenheit, sich mit den ausländischen Piloten zu messen. 1949 gelang es Oscar Alfredo Gálvez und Juan Manuel Fangio, je ein Rennen zu gewinnen. Dabei fuhr Gálvez noch einen Vorkriegs-Alfa Romeo 308. Fangio hatte dagegen den neuen Maserati 4CLT zur Verfügung, den der neugegründete Rennstall des A.C.A. gekauft hatte. Zwei Monate später und als Teilnehmer am europäischen Rennzirkus gewann Fangio den Grossen Preis von San Remo für das Team des A.C.A. Insgesamt gewann er sechs Rennen in seiner ersten europäischen Saison. Seine internationale Karriere war damit lanciert.
Aus europäischer Sicht bemerkenswert war der Sieg von Jean-Pierre Wimille 1948 in Rosario, wo er mit dem kleinen Gordini-Simca die europäische und argentinische Elite schlug. Tragischerweise verunglückte er im Jahr danach im Training zum ersten Rennen der Temporada 1949 tödlich.
Chance für lokale Fahrer
Die Temporada internacional wurde danach mehr oder weniger jedes Jahr bis 1960 ausgetragen. Ab 1952 stand dazu das Autódromo de Buenos Aires zur Verfügung. Es erlaubte unterschiedlichste Streckenführungen. Ursprünglich bezeichnet als „Autódromo 17 de Octubre“ in Erinnerung an den 17. Oktober 1945, als eine grosse Demonstration die Freilassung von Juan Perón aus dem Gefängnis erwirkte. Heute heisst es „Autódromo Juan y Oscar Alfredo Gálvez“ zu Ehren der Brüder Gálvez, die beide mehrfach argentinische Meister wurden.
Ab 1953 wurde der Grosse Preis von Argentinien als Lauf zur Fahrerweltmeisterschaft nach den Regeln der FIA im Autódromo de Buenos Aires ausgetragen. 1954 kamen die 1000km Buenos Aires hinzu, die auf einer Stadtrundstrecke gefahren wurden und zur FIA-Sportwagenweltmeisterschaft zählten. Ergänzt wurden diese Rennen ab 1954 durch den Grossen Preis der Stadt Buenos Aires, für den weiterhin die Formula libre galt, und so auch lokalen Fahrern eine Chance zur Teilnahme gab.
Testrennen vor dem Beginn der europäischen Saison
Der Grosse Preis von Buenos Aires wurde aufgrund der freien Formel auch als Testrennen vor dem Beginn der europäischen Saison genutzt. So setzte Ferrari 1953 drei 625 F1 ein indem man die 500 mit einem 2,5-Liter-Motor versehen hatte. Mercedes-Benz nutzte 1955 die Gelegenheit, den neu entwickelten 3-Liter-Motor für den 300 SLR (W 196 S) in den W 196 R eingebaut einem Praxistest zu unterziehen. Schon 1951 kam Mercedes-Benz mit drei W154 von 1939 nach Argentinien, um die Konkurrenzfähigkeit zu prüfen, und kam zum Schluss, dass es einer Neukonstruktion bedurfte, um in den Nachkriegsrennen bestehen zu können.
Die Wirtschaftssituation Argentiniens verschlechterte sich unter Perón zusehends. Inflation erfasste das Land. Soziale Unruhen erschütterten den inneren Frieden. Am 19. September 1955 dankte er unter Druck ab und wich einer Militärjunta. Für die Temporada internacional hatte das vorerst keine Auswirkungen. Vielleicht auch, weil mit Juan Manuel Fangio als Argentinier den (europäischen) Motorsport beherrschte. 1959 fiel sie zum ersten Mal seit 1947 aus. Die internationale argentinische Saison 1960 war dann aber die letzte im „peronistischen“ Format.
Die letzten beiden Temporadas
Zwischen 1964 und 1968 wurden vier Temporadas internacionales organisiert, die für Autos der Formel 3 resp. der Formel 2 ausgeschrieben wurden. Anfang der 70er Jahre nahm man einen Anlauf, ab 1970 die 1000km Buenos Aires und ab 1971 den Grossen Preis von Argentinien als Weltmeisterschaftsläufe wieder zu akkreditieren, was jeweils vorher die Austragung eines vergleichbaren Rennens ohne den Status Weltmeisterschaftslauf bedingte. Im Januar 1971 und 1972 gab es, wenn man so will, die letzten beiden Temporadas mit mehreren internationalen Rennen, die zeitlich kurz hintereinander abgehalten wurden (konkret zwei, ohne den Grossen Preis von Buenos Aires). Die 1000km Buenos Aires wurden seither nicht mehr ausgetragen. Der Grand Prix fand mit Ausnahme von 1976 bis 1981 und dann noch einmal von 1995 bis 1998 statt.
Hautnahe am Geschehen
Das Buch von Hernán Lopez Laiseca deckt die Periode von 1950 bis 1960 (mit Ausnahme 1959, wo keine Temporada stattfand) ab. Der Prolog erzählt zudem die Vorgeschichte bis 1949. Keine Erwähnung findet das Sportwagenrennen von 1951 (mit John Fitch auf Allard als Sieger!) und die Temporada internacional 1952 mit den beiden Eröffnungsrennen im Autódromo de Buenos Aires. Die einzelnen Kapitel sind nach den Jahren gegliedert. Die Texte geben jeweils einen kurzen Überblick über das Geschehen. Den Hauptteil nehmen die Bilder ein. Am Schluss folgt die Zusammenstellung der Ergebnisse der Rennen in einzelnen Tabellen.
Die Fotos stammen aus den Beständen von Hernán Lopez Laiseca, Timoteo Lopez Laiseca und Marcos Lopez Laiseca, sowie Pique Lopez und dem A.C.A. Sie sind bisher kaum veröffentlicht. Jedenfalls sticht keines direkt ins Auge. Dabei werden die Rennen mit den Monopostos und mit den Sportwagen berücksichtigt.
Sie zeigen das Geschehen teilweise richtig hautnah, wie schon das Bild auf dem Umschlag mit dem Start zum Grossen Preis von Argentinien 1955 demonstriert.
Viele Detailinformationen
Als Highlights sollen hier erwähnt werden:
- Die Mercedes-Benz W154 im Einsatz in den Rennen 1951 inkl. José Froilán González, der ihnen auf dem Ferrari des A.C.A. zwei Mal den Meister zeigte.
- Alberto Ascari im Lancia D50 vor Fangio im Mercedes-Benz W 196 R 1955.
- Die Mercedes-Benz W 196 R mit dem 3-Liter-Motor des 300 SRL (W 196 S) im freien Rennen von 1955, mit einem grossen Buckel in der Motorhaube um für den grösseren Motor Platz zu schaffen.
- Innes Ireland im Lotus 18 während der ersten Runde des Grand Prix von Argentinien 1960 (noch) in Führung liegend.
Der Text ist zwar knapp, aber mit vielen Detailinformationen gespickt. Sportlich gesehen waren die internationalen argentinischen Rennen immer für Primeurs gut. Der erste Sieg von Fangio auf einem Monoposto 1949, Hawthorn’s erstes Rennen für Ferrari 1953, die Feuertaufe des Maserati 250 F 1954, Moss‘ erster Sieg über Fangio im 2. Lauf zum Grossen Preis von Buenos Aires 1955 sind zu nennen. Auch der erste Sieg eines Mittelmotor-Rennwagens in einem Grand Prix der Nachkriegszeit, Moss auf Cooper 1958, fand in Argentinien statt (Der Cooper T43-Climax war eigentlich für die Formel 2 gebaut worden und verfügte über einen Motor mit nur 2 Liter Hubraum!). 1960 gelang Innes Ireland auf Lotus 18 die erste (und für dieses Mal einzige) offizielle Führungsrunde der Marke in einem Weltmeisterschaftslauf.
Im Grossen Preis von Buenos Aires 1958 holte sich Fangio seinen letzten Sieg, bevor er bald danach kurz vor seinem 47. Geburtstag den Helm an den Nagel hängte.
Schattenseiten der argentinischen Rennen
Die Rennen in Argentinien fanden nicht immer unter angenehmen Bedingungen statt. Der Zuschauerauflauf war meist riesig und man spricht von 300‘000 Besuchern an einzelnen Rennen. Sie bildeten oft ein regelrechtes Spalier entlang der Strecke und Ausrutscher führten regelmässig zu Opfern. Die grösste Katastrophe war der Unfall von Giuseppe Farina 1953, der 19 Tote und 30 Verletzte forderte. Die Strecken waren nicht immer im besten Zustand, da man in Argentinien zunehmend andere Sorgen hatte. Eine besondere Herausforderung war oft die sommerliche Hitze. 1955 wurde eine Asphalttemperatur von 55 Grad gemessen. Nur Fangio fuhr durch, alle anderen Fahrer mussten sich immer wieder ablösen lassen. Eindrücklich sind die Bilder von 1958 im Buch von Laiseca mit den Fahrern nach dem Grand Prix, als es ähnlich heiss war.
Viele Kritikpunkte
Zu kritisieren ist, dass einzelne Bilder falsch beschriftet sind: Mike Hawthorn ist auf Seite 92 nicht auf den Bildern abgebildet; es ist kein Lotus 16, sondern ein Lotus 18 auf Seite 119.
Nicht ganz befriedigen kann die tabellarische Übersicht am Schluss des Buches. Die Klassemente der Grossen Preise von Buenos Aires 1955 und 1960 sind nicht korrekt. Für 1955 wurde das Ergebnis des ersten Laufs abgedruckt mit Giuseppe Farina auf Ferrari als Sieger. Im Gesamtklassement, d.h. nach zwei Läufen, lag, wie im Text auch richtig wiedergegeben, Juan Manuel Fangio auf dem Mercedes-Benz W 196 R 3L vorne. Auch die Resultate des Grossen Preises von Buenos Aires 1960 auf Seite 138 sind nicht korrekt. Hier hat sich der Autor in der Wahl der sich widersprechenden Quellen im Internet schlicht vergriffen. Zwar stimmt der Sieger, Maurice Trintignant auf Cooper-Climax, doch Innes Ireland ist auf Lotus 18-Climax nicht Vierter geworden. Er ist am Start stehen geblieben und hat später im Rennen Alan Stacey im Lotus 16 abgelöst. Das Paar fiel kurz vor Schluss wegen Benzinmangel aus (siehe Smith, The Story of Lotus 1947-1960, 1970). Im offiziellen Klassement rangierten deshalb Ettore Chimeri und Joakim Bonnier auf den Plätzen vier und fünf, obwohl sie weniger Runden als der Lotus absolviert hatten, da beide am Rennende noch fuhren. Effektiv wurden Stacey/Ireland gar nicht klassiert. Das gilt auch für Carlos Menditéguy auf Cooper T51-Maserati (Automobil Revue Nr. 7, 18.02.1960). Zumindest ein Hinweis auf die nachträglich erfolgte Korrektur des Klassements hätte hingehört und der Eintrag richtig gestellt werden sollen: Alan Stacey/Innes Ireland, Lotus 16-Climax, 68 Rd., DNF.
[Es mag übertrieben erscheinen, auf solche Fehler hinzuweisen. Aber die zugehörigen Klassemente sind jetzt gedruckt und jeder unbefangene Leser wird annehmen, dass sie ordentlich geprüft worden sind. Es ist nicht trivial, der Renngeschichte in allen Details auf den Grund zu gehen. In seinem Erlebnisbericht in Autosport Nr. 18/1960 schreibt Innes Ireland zum Beispiel, dass er im Grossen Preis von Argentinien am Ende der zweiten Runde einen Vorsprung von 2 Sekunden gehabt habe. Das wird in Smith, The Story of Lotus 1947-1960, 1970, so übernommen. Der Rennbericht von Federico Kirbus in der Automobil Revue Nr. 6/1960 sagte dagegen aus, dass Ireland sich schon in der zweiten Runde gedreht und die Führung verloren habe. Vincente Alvarez bestätigt diesen Sachverhalt in Autosport Nr. 9/1960. Gérard Crombac in seinem Buch Colin Chapman, 1986, übernahm diese Version. Glaubt man Innes Ireland oder der offiziellen Zeitnahme (die von Alvarez als sehr unzuverlässig kritisiert wurde)? Es gibt gute Gründe für beide Darstellungen, aber man sollte seine Quelle nennen].
Generell sind die Tabellen nicht harmonisiert. Es werden nicht überall die gleichen Angaben gemacht. Ausserdem sind die Spalten teilweise unterschiedlich angeordnet.
Trotzdem wertvolle Zeugnisse aus einer tollen Zeit
Das schmälert den Wert des Texts und der Fotos nicht. Vor allem die Fotos sind wertvolle Zeugnisse aus einer (rennsportlich gesehen) tollen Zeit und einer spannenden Rennserie (verstanden als Rennsaison).
Das Buch ist deshalb allen Leuten zu empfehlen, die sich für genau solche Dokumente interessieren.
Bibliografische Angaben
- Titel: The Argentine Temporada Motor Races 1950 to 1960 - in 220 contemporary photos
- Autor(en): Hernán Lopez Laiseca
- Verlag: Veloce Publishing
- Auflage: 1. Auflage 2015
- Umfang/Format: gebunden mit Umschlag, 248 x 248 mm, 144 Seiten, 223 Schwarz-Weiss-Fotos
- Sprache: Englisch
- ISBN-13: 978-1-84584-828-6
- Preis: beim Verlag £35.00; ca. € 58.00 bei amazon.de
- Beim Verlag auch als E-Book erhältlich.