Der 15. Dezember 1945 ist ein Samstag. Die Folgen des 2. Weltkrieges haben genügend Wunden ins Land, die Menschen und die Seelen gerissen, doch dieser Tag zeigt sich in jenem bitterkalten Winter von von seiner warmen Seite. Ein paar Plusgrade zeigt das Thermometer an jenem Tag, an dem in Bielefeld die Geschichte des im Folgenden besprochenen Buchs beginnt. Oskar Wehmeier und Hans Castrup gründen in der Dr. Oetker Stadt Bielefeld eine »Kraftfahrzeug Reparaturwerkstatt«, kurz »Wehmeier + Castrup«.
Bilderschatz gehoben
Ausgangspunkt des Buches ist der Fund zweier leinengebundener 1m langer, 50 cm breiter Bilderordner, in denen sich eine Zeitmaschine befindet. Die beiden Alben beherbergen hunderte von Schwarz-Weiss-Fotografien, die das Leben der Stadt Bielefeld aus den 40er, 50er und 60er Jahren dokumentiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Werkstatt unserer beiden Unternehmensgründer und ihrer Werkstatt , aus der bereits 1947 ein VW-Vertragshändler wird. Und weil der Fotoapparat voller Stolz von Anfang an und zu jedem Anlass den Werdegang des Unternehmens auf das Filmnegativ bannt, entsteht über diesen Zeitraum eine beispielose Dokumentation deutschen Unternehmertums dieses Nachkriegs-»Start-ups«.
Eine Geschichte des Werkstatt-Alltags
Anhand des Bilderfundus zeichnet das Buch “Bielefeld fährt Volkswagen” die Geschichte des Reparaturbetriebes in der westfälischen Großstadt nach, die selbst eine Reparatur benötigt. Das Zentrum liegt größtenteils in Trümmern, und der Mangel ist die grösste Resource. Wie mutig aber auch weitsichtig da der Entscheid der Jungunternehmer gewesen sein muss, und eine Volkswagen-Vertretung zu eröffnen, wird deutlich wenn man den ersten Bildern im Buch begegnet.
Die VW-Vertretung entsteht 1949 am Rande der in zum Teil in Schutt und Asche liegenden Stadt. In kürzester Zeit entsteht ein moderner VW-Betrieb im Flachdach-Stil der Garagen jener Zeit. Und die Bilder zeigen, es geht eng zu. Brezel-Standards, die ersten Barndoor-Transporter und selbst ein Hebmüller-Kabriolet buhlten damals im Hof und heute beim Betrachter dieser Bilder um Aufmerksamkeit.
Deutschland, Wirtschaftswunder, Volkswagen
Wer den Begriff des Wirtschaftswunders verstehen will, kann sich dieses Buch anschaffen. Was Volkswagen für das Wirtschaftswunder war, was das Wirtschaftswunder für Deutschland war, was Deutschland für Volkswagen war – die ganze Verwobenheit dieses Dreiklangs wird am Wachsen dieses VW-Betriebes deutlich.
Wir sind dabei, wenn die erste Waschstrasse eröffnet, wandeln durch das Ersatzteillager, sind bei der Kundendienstannahme am Start, trinken einen Kaffee auf der Terrasse und warten auf unseren VW. Glücklicherweise liegt kein reines Bilderbuch vor uns. Wir erleben diese Zeitreise im wahrsten Sinne des Wortes dank der redaktionellen Aufarbeitung durch Nicole Hille-Priebe, der es gelingt, die verschiedenen Fäden so zu verflechten, dass eine Chronik zum Eintauchen entsteht. Im Hintergrund steht die deutsche Wirtschaftswundergeschichte, die Bielefelder Stadtgeschichte, der Alltag der neugegründeten VW-Werkstatt und last but not least noch ein wenig Unternehmensgeschichte der Bielfelder Puddingpulver-Dynastie, die ihre VW-Fahrzeugflotte natürlich bei »Wehmeier + Castrup« ersteht. im Februar 1960 nimmt der Chef Rudolf-August Oetker persönlich den Blumenstrauss und den Schlüssel für den 1000. Volkswagen im Autohaus im Empfang.
Nina-Maria Oetker und Axel Struwe
Die Nähe zum Oetker-Konzern erschliesst sich durch die konzeptionelle Autorenschaft des Buches. Es stammt aus den Köpfen von Oetker-Gattin Nina-Maria und dem Fotografen Axel Struwe, der in der VW-Szene durch seine Fotografie für das Buch »Der erste Brezelkäfer« und dem VW Classic Magazin bekannt ist.
Und so geht das Buch auch auf die sogenannte »Puddingflotte« ein, mit der Volkswagen die Marke Dr. Oetker in West-Deutschland mobil machte. So klingt das Buch, das mit der Gründung einer Werkstatt begann mit den Worten des Gatten und dessen Sohn im Interview aus.
Bielefeld fährt Volkswagen, was erfährt der Leser?
Nina-Maria Oetker und Axel Struwe haben einen Fotoschatz gefunden, geborgen und lassen uns an dessen Ausstellung auf über 160 Seiten und 121 Bildern (ca. 20 davon farbig) teilhaben. Es ist das aufstrebende Volkswagenwerk, das wie kein anderes Unternehmen in den 1950er Jahren den wirtschaftlichen Aufstieg Westdeutschlands und gleichzeitig den Übergang zur Konsumgesellschaft repräsentiert. War das eigene Auto noch ein Statussymbol, das sich längst nicht jeder leisten konnte, wird es am Ende des Jahrzehnts der Volkswagen: das Auto für alle.
In Bild und Text spiegelt sich das gesellschaftliche Leben wieder. Schützenfeste und Rummel oder sportliche Großereignisse auf der Radrennbahn sorgen für Abwechslung von langen Arbeitstagen. Zehntausende von Menschen pilgern in diesen Jahren in den Osten der Stadt, um sich die legendären Steher-Rennen anzuschauen oder die Kinder beim traditionellen Seifenkistenrennen anzufeuern. Und mittendrin immer wieder der VW-Händler »Wehmeier + Castrup« und sein Produkte. Alles in allem ein über weite Strecken fein gezeichnetes Bild der Nachkriegszeit in einem Mikrokosmos, das an manchen Stellen genau diesen Kosmos durchbricht und über den Tellerrand von Dr. Oetker schaut, um andere Perspektiven einzubringen.
Wer sich für die Geschichte von luftgekühlten VWs und solch fein gesponnenen Hintergrundgeschichten interessiert, kommt hier auf seine Kosten und dank der grosszügig präsentierten Bilder auch aus dem Staunen nicht heraus.
Bibliografische Angaben
- Titel: Bielefeld fährt Volkswagen
- Konzept: Nina-Maria Oetker, Axel Struwe
- Redaktion, Text: Nicole Hille Priebe
- Verlag: Dr. Oetker, 1. Auflage 2015
- Format: 230 x 265 mm, kartoniert
- Umfang: ca.160 Seiten, 100 s/w-Bilder und ca. 20 farbige Abbildungen
- ISBN: 978-3-7670-0799-4
- Preis: € 24,90
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