In den meisten Bildbänden über Autoklassiker steht die Form der Karosserie, die Eleganz der Linien im Vordergrund. Das Interieur wird häufig ein wenig vernachlässigt, obwohl sich hier oft mindestens ebenso viele spannende Blickwinkel finden wie am Exterieur. Insofern schien ein Buch wie "Art of Cockpit" von René Staud schon lange überfällig. Endlich widmet sich einmal jemand der Innenseite der grossen Stilikonen auf vier Rädern, vom Simplex bis zum Tesla.
Man liest den Titel und freut sich auf verspielte Instrumentengrafiken, ausgefallene Zeigerformen, abstrakte Holzmaserungen, kunstvollen Metallschliff und sonstige interessante Materialstrukturen.
75 Prozent weniger Cockpit pro Cockpit
Gleich beim ersten flüchtigen durchblättern für einen schnellen Ersteindruck fällt allerdings auf: Für ein Buch über Cockpits enthält es überraschend wenig Cockpits. Oft zeigt gar nur eins von vier Bildern eines Autos den Innenraum. Die anderen sind Aussenansichten oder Motordetails. Nur vereinzelt wird einmal ein zweites Foto des Innenraums gezeigt. Beim allerersten Auto im Buch gibt es sogar direkt gar kein Bild des Cockpits – weil das Auto nicht wirklich eins hat. Beim Benz Patent-Motorwagen gibt es vor dem Fahrer nämlich nicht mehr als eine Kurbel zum Lenken.
Insofern sollte man als Leser den Cockpit-Mangel hier noch verzeihen. Doch bei allen danach folgenden Modellen hätte Staud (oder sein Editor) ruhig ein wenig konsequenter sein dürfen. In den meisten Fällen bietet der Innenraum eines klassischen Automobils ja doch mehr als nur eine fotogene Perspektive und mehr als nur ein interessantes Detail, das man hervorheben kann.
Deshalb wären auch drei oder vier verschiedene Aufnahmen desselben Innenraums nicht zu viel gewesen – sondern bei diesem Buchtitel sogar wünschenswert. Wie Jaguar E-Type und Citroën DS von aussen aussehen, wissen wir schliesslich.
Gerade die DS hätte auch wunderbar als Anschauungsobjekt dienen können, wie sich die Stilistik des Armaturenbretts im Laufe der Zeit verändert hat. Von der zerklüfteten hellgrauen Skulptur hin zum halbwegs massentauglichen schwarzen Kunstsoff-Teil mit Rundinstrumenten hat sich wohl das Cockpit keines anderen Autos innerhalb der Bauzeit so stark gewandelt. Staud entschied sich für ein Cabrio von 1965 und damit das mittlere der drei DS-Armaturenbretter. Angeschrieben ist das Auto aber mit Baujahr 1961, was uns gleich zum nächsten Kritikpunkt des Buches überleitet.
Allgemeine Texte
Denn wie inzwischen jeder Bildband über alte Autos muss auch "Art of Cockpit" einen rudimentären Datenkasten haben, der grundlegende Informationen wie Motorleistung, Höchstgeschwindigkeit und Stückzahl enthält. Nur war man bei letztem Punkt ein wenig inkonsequent: beim Mercedes-Benz 300 SL ist nur die Coupé-Stückzahl genannt, beim DS-Cabrio die der gesamten Baureihe mit ID und Break – und beim Mercedes-Benz 220 D "Strich-Acht" ein komischer Mittelwert, weil man die Lang-Versionen vergessen hat.
Hätte man den Datenkasten – wenn man schon unbedingt einen haben muss – nicht themenbezogen abwandeln können? Etwa mit Hersteller und Anzahl der Instrumente, Material des Armaturenbretts, Durchmesser des Lenkrads und Höchstwert bei Tacho und Drehzahlmesser? Das hätte sicherlich etwas mehr Recherche-Aufwand bedeutet, wäre aber dafür eine einfallsreiche Abwandlung der gängigen Form und vor allem eine hübsche kleine Sammlung von lustig-unnützem Inselwissen, die man so sonst in keinem Buch findet.
Auch die zweisprachig gehaltenen Begleittexte von Heinrich Lingner beziehen sich höchstens im letzten Absatz auf das Cockpit und geben ansonsten wieder, was man auch in jedem anderen Buch lesen kann: die allgemeine Geschichte des jeweiligen Autos ohne besonderen Witz oder neue Erkenntnisse. Dabei hätte man doch auch hier aus dem Cockpit-Thema so viel mehr machen können: zum Beispiel erklären, warum der Mercedes-Benz 300 SL einen zweiten Hupenknopf für den Beifahrer hatte. Stattdessen finden sich vor allem in den Bildunterschriften viele Gemeinplätze. Ein Beispiel: "Das Armaturenbrett des Jaguar Mark 2 vermittelt Sportlichkeit und Luxus." Kommt hin, oder? Kann schon sein, nur leider stand dort im Buch gar nicht "Jaguar Mark 2", sondern "300 SL".
Grösstenteils gelungene Fotos
Immerhin: die Fotos sind in Stauds gewohntem Studio-Stil gehalten und weitestgehend qualitativ sehr gut. Ob einem dieser Stil gefällt, muss jeder für sich entscheiden. Gelegentlich gibt es aber kleine Ausreisser nach unten. Vor allem das Bild des VW-Käfer-Cockpits wirkt wie ein verwackelter Schnappschuss. Beim Ferrari 365 GTC/4 saufen die Instrumente – und damit ein nicht unerheblicher Teil des Cockpits – komplett in einem schwarzen Loch ab. Und beim McLaren F1 wurde einfach von aussen durch die geöffnete Tür reingeknipst, sodass nicht einmal die ungewöhnliche Platzierung des Lenkrads zur Geltung kommt.
Dabei zeigen die Aufnahmen von Maybach Zeppelin DS8, Mercedes-Benz 300 SL, BMW 507, Maserati 3500 GT, Aston Martin DB 6, Porsche Carrera RS, Bugatti EB 16.4 und noch einigen anderen, wie gut ein Buch über die Ästhetik von Innenräumen funktionieren kann, wenn die Bebilderung stimmt. Und vor allem, wenn die Auswahl der Autos stimmt.
Aus Sicht eines nicht auf Hochpreis-Klassiker fixierten Autoliebhabers ist es allerdings schade, dass es "billige" Designerstücke wie Fiat Multipla, Studebaker Avanti oder Lancia Trevi nicht in die Auswahl geschafft haben. Denn auch wenn die Form ihrer Karosserien polarisiert: Deren Skulpturen von Cockpit hätten wunderbar in ein Buch über die Kunst des Armaturenbretts gepasst.
Fazit
Leider nutzt "Art of Cockpit" das Potential, dass der Titel verspricht, nicht konsequent aus. Im Prinzip ist das Buch nicht anders als andere moderne Bildbände, die so wunderbare Titel haben wie "Die grössten automobilen Auto-Ikonen der Automobilgeschichte" und dergleichen. Das einzige, worin sich "Art of Cockpit" von ihnen unterscheidet, ist das Eröffnungsbild jeder Fotostrecke: in anderen Büchern ist es eine Aussenansicht, hier ist es eine Innenansicht. In Fahrzeugauswahl, Textinhalt, Sprachstil und leider auch der thematischen Fokussierung tut es das nicht.
Wer allerdings gerne schöne Fotos attraktiver Autos anschaut und dabei das Interieur als relevante Perspektive schätzt, der kann am neuen Buch aus der Staud-Küche durchaus Freude haben.
Bibliografische Angaben
- Titel: Art of Cockpit
- Autoren: René Staud / Heinrich Lingner
- Sprachen: Deutsch/englisch
- Verlag: Motorbuch Verlag
- Auflage: 1. Auflage Dezember 2022
- Format: Gebunden, mit Schutzumschlag, 240 x 305 mm
- Umfang: 240 Seiten, 200 Bilder
- ISBN: 978-3-613-04404-3
- Preis: EUR 79.00
- Kaufen/bestellen: Online bei amazon.de , online beim Motorbuch Verlag oder im einschlägigen Buchhandel