Am ersten September-Wochenende war es wieder soweit - und kaum vorstellbar, war dies nur der erste Jahrestag der neuzeitlichen Wiederbelebung eines legendären Beschleunigungswettkampfs auf dem spektakulär gelegenen Engadin Airport in Samaden (Graubünden, Schweiz). Die gesamte Inszenierung wirkte routiniert und eingespielt und dazu passte es gut, dass eine am Samstag noch mit Wetterkapriolen kämpfende, perfekte Organisation dem Drang der Teilnehmer, auch auf regengetränkter Fahrbahn Vollgas geben zu wollen, nicht nachgeben wollte. So wie in der Luftfahrt üblicherweise der Kapitän allein über den Start entscheidet, so wurde hier bewusst den Teilnehmern selbst die Entscheidung überlassen, ob sie zunächst auf der auf 400 Meter verkürzten Distanz starten wollen.
Mutige vor
Die ersten Mutigen liessen sich nicht lange bitten und traten durchaus sportlich aufs Gas. Fahrzeuge ohne erkennbare Kotflügel wie der Delahaye 107 Racer von 1924, in Sandalen pilotiert vom Schweizer Riccardo Beccarelli, konnten dank einer 10 Meter hohen Wasserfontäne hinter jedem Rad auch auf 500 Meter Entfernung vom Publikum gesehen werden. Schade nur, dass moderne Lieferwagen auf dem Rollfeld und im Blickfeld vieler interessanter Foto-Motive parkiert wurden - und damit die perfekte Illusion der Zeitreise unnötig störten.
Zurück im Fahrerlager liessen sich schnell auch weitere Fahrer motivieren, den ersten Lauf zu wagen; darunter der sehr schnelle und aus L.A. angereiste David Martin im Ford Model A Roadster Hotrod (Basisfahrzeug von 1931) oder der Jaguar XK Jabbeke (1951). Dieser wurde später zweiter Sieger eines erstmals vergebenen Design-Awards, welcher vor allem die Ästhetik der Fahrzeug in voller Fahrt prämiert. Vor ihm lag als 1. Platz nur der aus Schweden angereiste Streamliner C-16 von 1939, auf dem dritten Platz lag der oben erwähnte Delahaye 107 Racer.
Konstanz ist wichtig
Es ging aber natürlich auch um Geschwindigkeit und der Sieg erforderte hierbei vor allem konstante Leistungen: So erreichte der Mercedes Simplex 60 hp (1903) das beste Resultat in der Vorkriegsklasse mit weniger als einer Sekunde Abweichung in zwei Wertungsläufen am Vormittag und am Nachmittag. Ein Fahrzeug mit der mysteriösen Bezeichnung Projekt e01 1987 schaffte locker den Sieg in der Post War Kategorie, was nicht weiter verwundert, handelt es sich doch um ein elektrifiziertes Porsche 911 G-Modell. Sicher ein beeindruckender und sehr leistungsfähiger Technologieträger, aber für viele Besucher etwas irritierend und immer auch Geschmacksache.
Auch sonst geht es nicht nur um historische Versuchs- und Rekordfahrzeuge, denn Gleichmässigkeits-Sieger in der Kategorie Motorrad wurde eine wohl immer schnell zu bewegende Ducati Monster 1200S aus 2017. „Es geht um ein Mobilitätsfestival“, erklärt der Kurator und Organisator Tobias Aichele von Solitude, Stuttgart, das Konzept des Events, welcher historische schon 1929 und 1930 hier stattfand. „Wie damals, gibt es auch heute ein buntes Teilnehmerfeld von und aussergewöhnlichen Fahrzeugen und und ihren leidenschaftlichen wie authentischen Besitzern.“, erklärt er gerne den Charakter und die Intention hinter der Auswahl des Teilnehmerfeldes.
Schliesslich gab es auch ein Stechen der wirklich schnellen Fahrzeuge und den Beweis, dass Leistungsgewicht alles schlägt: Eine BMW S 1000 RR (2021) liess einen neuen Ferrari 296 GTB hinter sich, bevor auch für diese beiden Technologieträger der Neuzeit die Piste zu kurz wurde. Die Landebahn wurde übrigens zwischendurch immer geräumt, gesäubert und für 90 Minuten für einzelne das Engadin ansteuernde Privatjets geöffnet, welche typischerweise Gäste des St. Moritz Palace oder der privaten Chalets pünktlich abzuliefern hatten.
Lange, aber fast vergessene Tradition
Die internationale St. Moritzer Automobilwoche wurde 1929 ins Leben gerufen, nicht nur um die Faszination des Automobils und die damit verbundene Mobilität zu feiern, sondern auch um Touristen anzulocken. Die aufstrebende St. Moritzer Automobilwoche bestand aus mehreren Veranstaltungen wie dem Kilomètre Lancé, einem Concours d`Elegance vor dem Kurhaus, mehreren Fahrprüfungen und einer Rallye. Der krönende Abschluss war jedoch das Bernina-Rennen.
Der Plan ging auf, immer mehr Touristen suchten in St. Moritz Erholung und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte. Die Stadt profitierte kurz zuvor von den Olympischen Winterspielen 1928, aber erst 2015, als eine kleine Gruppe leidenschaftlicher Enthusiasten um den Sammler, Mäzen und Motorsport-Enthusiasten Kurt Alexander Engelhorn daran ging, das Bernina-Rennen wiederzubeleben, begann für St. Moritz ein zweites automobiles Zeitalter.
2021 war das Jahr der Wiedergeburt des historischen Kilometerrennens Kilomètre Lancé - Alpine 1000, das sich schlagartig als Kult-Veranstaltung etabliert hat. Der grosse Erfolg war spektakulären Fahrzeugen zu verdanken, wie dem Blitzen-Benz, dem Wisconsin Special und weiteren Rekordwagen aus der ersten Hälfte der Fahrzeuggeschichte. Auch die Motorräder sorgten für ein wildes Spektakel. Insgesamt wurde es auf Anhieb eine begeisternde Veranstaltung.
2022 folgte nun die zweite Austragung bereichert mit dem "Design Award".
Professor James Kelly von der Hochschule Pforzheim University, Transportation Design und Tobias Aichele von der PR- und Veranstaltungsagentur Solitude GmbH haben ein neues Design-Preis-Format auf den Weg gebracht. Demnach werden Fahrzeuge bei voller Beschleunigung bewertet. Diese haben nämlich bei voller Fahrt eine ganz andere Anmutung. Sie fliegen über den Asphalt, sind dabei zu Hören und auch zu Riechen.
“Aaaaaand the Winner iiis”: Der C16 Streamliner von Glen Billqvist aus Schweden. Mit zwei gekoppelten 8-Zylinder Reihenmotoren von Buick ist dieser Bolide klar inspiriert vom Mercedes W154/M154 Rekordwagen, mit dem Caracciola am 8. Februar 1939 einen Rekord mit stehendem Start auf 1 km aufstellte: 20,56 Sekunden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 175,097 km/h. Am nächsten Tag stellte er den Rekord von 9,04 Sekunden für den Kilometer mit fliegendem Start auf, was eine Höchstgeschwindigkeit von 398 km/h erforderte. So schnell war Glen aber nicht, da das Fahrzeug im Minimum 10 Kilometer brauchen würde um seine absolute Höchstgeschwindigkeit zu erreichen und dazu ist die Flugpiste von Samedan leider ein wenig zu kurz. Trotzdem aber war das Fahrzeug die Augenweide des Tages.
Hermann Layher brachte vom Technik Museum Sinsheim da vor über 110 Jahren schnellste Fahrzeug zum Kilomètre Lancé. Der Blitzen Benz trug sich in die Geschichtsbücher ein, als er mit dem Fahrer Bob Burman den Strand von Daytona Beach in Florida entlang donnerte. Die damalige Strecke war eine Meile lang und der Rekord stand danach bei 228,1 km/h (mit fliegendem Start). Der Blitzen-Benz war der erste Wagen aus Europa, der schneller als 200 Kilometer pro Stunde fuhr. Diese Schallmauer wurde von dem deutschen Team im Jahr 1909 auf der Brookland Rennbahn in England durchbrochen. 1911 schliesslich durchraste Burman wie erwähnt mit 228,1 den Strand von Daytona und damit war der Blitzen-benz für viele Jahre das schnellste Fahrzeug der Welt, schneller sogar als jedes Flugzeug und jede Eisenbahn. Die beiden Rekorde sollten acht Jahre halten ehe sie von Ralph de Palma 1919 mit 241,2 km/h gebrochen wurden. Angetrieben wurden die sechs gebauten Bitzen-Benzen von einem rund 200 PS starken Vierzylinder-Motor mit 21,5 Litern Hubraum und zwei Zündkerzen pro Zylinder. Bis heute ist das der grösste Personenwagen-Motor, den Benz beziehungsweise Daimler-Benz jemals baute.
Warum auf einem Flugplatz im Engadin
Bis 1925 waren die staubigen Oberengadiner Strassen noch für Automobile verboten. Das sollte sich aber schon bald ändern.
So schrieb die "Automobil-Revue" am 21. August 1929: "Shellstrasse" - diese Bezeichnung gilt den ersten drei Kilometern der Strecke Samaden - Pontresina. Der Ausgangspunkt bildet die kleine eiserne Brücke über den Inn bei Samedan und das Ende befindet sich bei Bunt Murail. Die Inn-Ebene wird durch den Strassenzug diagonal durchschnitten und breitet sich südlich von Samedan in ein grosses Dreieck aus, dessen Basis vom Inn gebildet wird und die Spitze sich gegen das Berninatal erstreckt. Genannte Strasse zweigt bei Samedan von der Hauptstrasse, welche nach St. Moritz führt, ab und läuft parallel der Rhätischen Bahn bis nach Station Bunt Murail. Sir Henry Deterding, der geniale Leiter des Weltkonzerns der Royal Dutch Shell, ist ein begeisterter Bewunderer unseres Landes und zählt jedes Jahr zu den bekanntesten Kurgästen und aktiven Sportsleuten von St. Moritz. Die letzten Winter vom Kurverein St. Moritz, welchem der sympathische Gemeindepräsident Herr Mater vorsteht, gemachte Anregung zur Durchführung der nun Tatsache gewordenen Automobil-Rennwoche, hat auch Sir Henry Deterding sehr interessiert. Im Engadin fehlte jedoch bis heute eine Strasse, welche der technischen Anforderungen zur Erlangung von grossen Geschwindigkeiten, wie sie bei einem Kilometer Lancé auftreten, genügen konnte. Sir Henry Deterding hat keinen Augenblick gezögert, dem Organisationskomitee seine Unterstützung zu zu versichern und ihm auf grosszügige Art und Weise zum Bau dieser Rennstrecke zu verhelfen. Ohne diese Mithilfe wäre das Komitee kaum in der Lage gewesen, dieses Kilometer-Rennen zu veranstalten.
Auf Veranlassung bekannter Rennfahrern, wie Divo, Menoit, Moral etc. die Strassen Borde auf der ganzen Länge suche einen Abschlussstein aus Zement gekennzeichnet sind und den Rennfahrern als Richtungsanzeiger dienen. Sonst weisen die Strassenborde weder Hecken, Mauern, Pfosten oder sonstige Hindernisse auf, welche den Fahrer irgendwie verwirren könnten. Selbst die Telephonstangen für die elektrische Zeitnahme sind 20m vom Strassenrand zurückversetzt worden."
Wie bereits 1929, so war es wettertechnisch 2022 nicht viel anders.
So schrieb die Automobil-Revue am 24. August 1929 folgendes:
"Gestern Abend hoffte ganz St. Moritz auf gutes Wetter, heute morgen goss es in Strömen. Während der Wagenabnahme in Samaden sah man noch einige Fahrer auf der nassen Strecke, die, wie Karbach zum Beispiel, ganz bedenklich schleuderten. Abhaltung oder Verschiebung? Bis halb zwei Uhr war der Entschluss der Rennleitung noch nicht gefallen. Das Wetter selbst gab in letzter Minute die Antwort. Der tiefe Wolkenmantel hob sich und der Regen versiegte. Noch unter den letzten Tropfen setzte eine kleine Völkerwanderung von Wagen nach Samaden ein. Am Startplatz herrschte starker Andrang. Man rechnet, das mindestens 3000 Personen dem Lancé beigewohnt haben. Das ist, trägt man den geradezu polaren Luftströmungen Rechnung, ein schöner Erfolg. Während den zwei Stunden, die das Rennen dauerte - es wurde um 3 Uhr gestartet - sass man mit schlotterndem Gebein auf der hohen Tribüne, die einen wundervollen Blick über die ganze Rennstrecke bot. Einzigartig war die Bekanntgabe der Resultate: Kaum war das Aufheulen eines Wagens verhallt, rief der Lautsprecher in vier Sprachen die gefahrenen Zeiten, ja selbst die Zahl der arbeitenden Kerzen aus. Die Wagen folgten sich Schlag auf Schlag. Herr Töndury und sein Stab haben Musterarbeit geleistet. Nicht zu vergessen - es war das erste Rennen dieser Art in St. Moritz! Die Strecke hielt was sie versprochen hat. Sie dürfte nunmehr der schönste Lancéparcours der Schweiz sein.
Heisse Würstchen, Gin und Vermuth, aber mehr Gin! stärkten den sportlichen Mut zwischen den drei Böllerschüssen, die Anfang und Ende verkündeten."
Der Vollständigkeit halber noch die Schnellsten aus dem Jahre 1929:
Tourenwagen der Klasse 750 ccm
Buchwald Dixi 43,4s 82,949km/h
Tourenwagen der Klasse 1100 ccm
Spaelty Amilcar 41,7s 86,331 km/h
Tourenwagen der Klasse 1500 ccm
Keller Alfa-Romeo 37,5s 96,000 km/h
Tourenwagen der Klasse 2000 ccm
Pettley Lagonda 38,6s 93,264 km/h
Tourenwagen der Klasse 3000 ccm
Kagami Morris 37,4s 96,257 km/h
Tourenwagen der Klasse 5000 ccm
Giger Martini 31,9s 112,853 km/h
Tourenwagen der Klasse 8000 ccm
Stewart Packard 38,4s 93,750 km/h
Tourenwagen der Klasse über 8000 ccm
Zettritz Mercedes-Benz 25,1s 143,426 km/h
Sportwagen der Klasse 1100 ccm
Steinweg B.N.C. 32,1s 112,150 km/h
Sportwagen der Klasse 1500 ccm
Burggaller Bugatti 26,2s 137,405 km/h
Sportwagen der Klasse 2000 ccm
Escher Bugatti 22,6s 159,292 km/h
Sportwagen der Klasse 5000 ccm
Freuler Steyr 27,0s 133,333 km/h
Sportwagen der Klasse 8000 ccm
Momberger Mercedes-Benz 22,0s 163,636 km/h
Rennwagen der Klasse 1100 ccm
Sarbach Amilcar 24,3 148,148km/h
Rennwagen der Klasse 2000 ccm
De Sterlich Maserati 22,4s 160,714 km/h
Rennwagen der Klasse 3000 ccm
Chiron Bugatti 20,8s 173,077 km/h
Rennwagen der Klasse 5000 ccm
Rosenberger Mercedes-Benz 18,6s 193,548 km/h
Rennwagen der Klasse 8000 ccm
Caracciola Mercedes-Benz 20,4s 176,471 km/h
Dazu noch die schnellste Dame
Mme. Merz Mercedes-Benz 25,2s 142,857 km/h
Beschleunigungsrennen wurden fortan auch in Europa immer populärer. Das Höchstgelegenste aber blieb jenes auf der Shellstrasse in St. Moritz.
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