Es ist fast schon symbolisch, dass uns der zweitürige Rekord Caravan für die Fotoproduktion mit vollgepacktem Kofferraum übergeben wird. Bis zur Gürtellinie voll mit Schachteln, Kisten und Kartons steht er da, bereit für die tägliche Fahrt zum Kunden oder zum Grosshändler. Kann man ihn sich überhaupt anders vorstellen? Mit sauberer, nicht verkratzter und vor allem leerer Ladefläche? Das gab es doch fast nur im Prospekt. Denn schliesslich war dies einst die einzige Bestimmung eines Opel-Kombis: den Kofferraum vollhaben. Wer ein Auto mit grossem Stauraum kaufte, wollte ihn in der Regel auch nutzen. Gerade der Zweitürer – Familien bevorzugten meist die doppelte Anzahl Pforten – war ein braves Nutztier für pflegescheue Pragmatiker, die ihn malochen liessen, bis er auseinanderfiel.
Italienisches von einem Amerikaner
Als er im Dezember 1971 zusammen mit Limousine und Coupé zum Dienst antrat und am 19. Januar 1972 der Öffentlichkeit präsentiert wurde, waren Privatkunden wie Presse etwas ratlos. Warum schon jetzt ein neuer Rekord? Schliesslich verkaufte sich der hüftenschwingende Rekord C nach wie vor gut und sah dabei noch nicht einmal alt aus. Ford und Chrysler hatten mit Taunus TC und Simca 160 erst vor zwei Jahren völlig neue Schrumpf-Amis mit üppig gerundeten Karosserien vorgestellt. Auch der Ford Granada sollte ab März 1972 noch mit reichlich Chrom und Kurven um die deutschen Mittelklassekunden buhlen, ebenso wie der Toyota Corona Mark II schon ab Februar. Aber in Rüsselsheim war man der Meinung, nach fünf Jahren hätten die Bemühungen der Entwicklungsabteilung um Charles Chapman eine neue Karosserie verdient.
Während man modellpolitisch wie preislich weiterhin die bekannte Konkurrenz aus dem rheinländischen Norden im Sinn hatte, orientierte man sich stilistisch eher nach Süden: in Richtung München und gar über die Alpen hinaus. Ironischerweise war es gerade ein US-Amerikaner, der Opel den US-Stil ablegen liess. Charles Morrell Jordan, gemeinhin nur "Chuck" gerufen, war ein Verehrer italienischer Formensprache und verabscheute jede Art von überflüssigem Zierat. Entsprechend waren auch die Vorgaben des Design-Chefs an den Leiter des Rekord-Studios Herbert Killmer: Die Karosserie des neuen Rekord II sollte leicht, elegant und schnörkellos werden, eben europäisch, am liebsten italienisch. Der Bruch mit der alphabetischen Generationen-Nomenklatur sollte den Neuanfang betonen.
Killmer und seine Mannschaft gehorchten. Einen derart unamerikanischen Rekord hatte es zuvor noch nicht gegeben. Die Front neigte sich schnittig nach vorn, das Heck in die entgegengesetzte Richtung. Scheinwerfer und Kühlergrill waren kaum mehr als Rechtecke; die Stossfänger nur ein gerader, horizontaler Strich. Die stark gewölbten Karosserieflanken kamen ohne jede Zierleiste aus und gingen mit einem scharfen Knick in Motorhaube und Kofferraumdeckel über. Den Rüsselsheimer Formgestaltern gelang es, aus diesen sehr simplen Zutaten ein ausgesprochen hübsches und elegantes Auto zu modellieren. Schlanke Dachpfosten und ein sanfter Abschwung der Gürtellinie hinter der A-Säule sorgen für grosse Glasflächen und optische Leichtigkeit. Zarte Chromleisten um Leuchten und Fenster zieren die Konturen ohne pompös zu wirken.
Dreifach stabil
Obwohl optisch weit weniger massiv, wog der neue Rekord rund 100 kg mehr als der alte, was vor allem an der neuen, erstmals am Computer berechneten Karosseriestruktur lag. Unter dem Blech tat sich hingegen weit weniger als die von der Presseabteilung angekündigte "Neue Generation" zunächst vermuten liess. Mit dem Begriff des "Tri-Stabil-Fahrwerks" und dem Versprechen von "1. optimaler Geradeausstabilität; 2. vorbildlicher Bremsstabilität; 3. neutralem Kurvenverhalten" sollte die hintere Starrachse verbal kaschiert werden. Wobei Opel tatsächlich einigen Aufwand betrieben hatte, um dem unmodernen Trampeltier seine schlechten Eigenschaften auszutreiben.
Von doppelten Längslenkern geführt und von Schrauben gefedert, waren es vor allem die erstmals fast senkrecht stehenden Teleskopdämpfer und der verstärkte, besser auf seinen vorderen Kollegen abgestimmte Stabilisator, die die Rekord-II-Hinterachse deutlich sanfter machten als die des Rekord C. Ein verlängerter Panhardstab verbesserte zusätzlich die Seitenführung. In Kombination mit der verbreiterten Spur und dem leicht negativen Radsturz lag der Rekord II so sicher und spurstabil in schnellen Kurven wie auf schlechten Strassen, dass die Presse vom Besten jubelte, was man aus einer Starrachse machen könnte.
Ärgert die Oberklasse
Weniger Aufwand trieb man bei den Motoren. Wozu auch? Die Vierzylinder mit der Nockenwelle seitlich im Kopf waren ausgereift, sparsam und so zuverlässig wie es die Legende von einem Opel verlangte. Diese Eigenschaften zählten bei den Kunden der Blitzmarke damals mehr als beeindruckende Leistungshöchstwerte und temperamentvolle Drehfreude. Der 1700er mit 66 PS wurde deshalb unverändert aus dem Rekord C übernommen. Den "S"-Versionen von 1700 und 1900 gönnte man immerhin mit erhöhter Verdichtung, neuem Vergaser und geänderter Nockenwelle eine kleine Leistungssteigerung auf 83 beziehungsweise 97 PS.
Als dann im März 1972 der neue Commodore mit Zweieinhalbliter-Sechszylinder erschien, war Opel nicht mehr nur optisch im Konkurrenzumfeld von BMW. Mit bis zu 130 PS wilderte das GS-Coupé im Revier des BMW 2.5 CS. Der Commodore-Limousine konnten die Bayern erst ab August mit dem Fünfer etwas Vergleichbares entgegensetzen. Auch den Stuttgarter Sternenträgern pinkelte Opel ab Juni 1972 gehörig ans Bein. Nämlich als sie mit dem Rekord 2100 D den ersten Opel mit Dieselmotor auf den Markt brachten – und damit Mercedes-Benz als alleinige Selbstzünder-Hoheit in Deutschland vom Thron stiessen. Ab sofort fand sich auf den Taxiständen der Bundesrepublik neben dem Stern vermehrt auch ein Blitz.
Aber nicht nur die Kompressionszündung war eine Premiere bei Opel. Der Vierzylinder des Rekord 2100 D war darüber hinaus auch der erste Opel-Motor mit OHC-Ventilsteuerung, also einer "echten" obenliegenden Nockenwelle, die die Ventile über Stössel anstatt Kipphebel betätigte – mit der kuriosen Nebenwirkung, dass der schwächste Motor die "stärkste" Motorhaube hatte. Denn weil der Diesel wegen des OHC-Kopfes höher baute als die Benziner, passte er nur mit einem breiten Buckel im Blech unter die Motorhaube, der der zahmen 60-PS-Sänfte die Optik einer Big-Block-Corvette verlieh und nach deutlich mehr als 135 km/h Spitze aussah. Deshalb fand die Dieselhaube später auch ihren Weg auf zahlreiche Gebraucht-Commodore in Dorfjugendhand, während der nagelnde Rest-Rekord rücksichtslos entsorgt wurde.
Blei-Ersatz
Da ab 1. Januar 1976 in Deutschland neue Grenzwerte für den Bleigehalt von Ottokraftstoffen gelten sollten, reduzierte Opel im März 1975 die Verdichtung der Rekord-Motoren, um sie auf das weniger klopffeste Benzin vorzubereiten. Zwangsläufig büssten die Vierzylinder dabei etwas Leistung ein: der 1700 brachte es fortan nur noch auf 60, der 1900 S auf 90 PS. Als Ersatz für das 97-PS-Triebwerk schob Opel deshalb im September eine Zweiliter-Maschine mit 100 PS nach, um die Lücke zum gleichfalls etwas schwächer gewordenen Commodore zu schliessen. Der hochverdichtete 1700 S flog gleich ganz aus dem Programm.
An seine Stelle trat eine abermals geringer verdichtete Ausführung des 1900 mit 75 PS bei 4800 Umdrehungen pro Minute. Er ist der Motor, auf den sich die meisten Rekord-Käufer einigen konnten: solide Mittelklasse ohne höheren Anspruch, aber mit genug Abstand nach unten – eben wie das ganze Auto. Auch der Erstbesitzer unseres roten Caravan, der 1977 mindestens 15'345 Franken dafür gezahlt hat, entschied sich für den 1900er in der Version für Normalbenzin. Eine grosse Wahl hatte er freilich nicht, denn in der Schweiz war der zweitürige Kombi ausschliesslich mit diesem Motor zu haben. Fazit: Wer den Zweiliter wollte, musste auch für hintere Seitentüren zahlen.
Unter den Praktischen der Schönste
Wie schon den Rekord C, bot Opel auch den Rekord II Caravan wahlweise mit zwei oder vier Türen an, die wegen der grossen Heckklappe im Prospekt als "3-türig" und "5-türig" liefen – auch wenn sich wohl kein Passagier je die Mühe machte, durch diese zusätzliche Tür am Heck einzusteigen. Den "Caravan 5-türig" gab es obendrein noch als besser ausgestatteten "L" mit ein wenig mehr Chromschmuck, besserer Ausstattung und Teppich auf der Ladefläche statt nacktem Blech. Auf einigen Exportmärkten wie der Schweiz lief er auch als "De Luxe", wo er als 18'375 Franken teurer "Caravan 2000 De Luxe" das Spitzenmodell der Rekord-Palette darstellte und sogar mehr kostete als der günstigste Commodore.
Die Form des Kombis ist genauso schlicht und gelungen wie die der Limousine. Wo die Fensterlinie des Stufenhecks einen Aufschwung zur Rückscheibe hin macht, läuft die des Caravan gerade nach hinten aus, ununterbrochen bis zum Heck. Die Dachlinie ist fliessend, die Klappe harmonisch integriert. Für eine breitere Ladeöffnung stehen die Rückleuchten beim Caravan senkrecht. Auf der Heckklappe finden sich nur ein Druckknopf, ein Zughaken und ein Schriftzug. Selbst der Blitz im Kreis ist dem Zieratverbot zum Opfer gefallen. Einzig die Aufteilung der hinteren Seitenfenster wirkt ein wenig unharmonisch, ja fast unnötig. Hier haben wohl die Buchhalter Einspruch erhoben. Denn die Laderaumfenster muss sich der Zweitürer mit dem Viertürer teilen, was eine zweite kurze Scheibe zwischen B- und C-Säule erzwang.
Den meisten Käufern wird das herzlich egal gewesen sein, hatten sie dadurch doch ein praktisches kleines Ausstellfenster zur besseren Innenraumbelüftung. Für ein Nutzfahrzeug sah der Rekord Caravan auch mit diesem kleinen stilistischen Fauxpas überdurchschnittlich gut aus. Solange der Laderaum verglast war, sorgte im Innenraum Folie in Zebranoholz-Optik für heimelige Atmosphäre. Nur der geschlossene Rekord-Lieferwagen musste auf sie verzichten. Nett ist es hier drin, wie in einem vorstädtischen Reihenhaus – weder luxuriös noch karg, einfach gemütlich. Das Interieur des Rekord II ist so schlicht und schnörkellos wie das Exterieur, mit nur kleinen Zugeständnissen an den Zeitgeist. Der altertümlich lange Schaltknüppel war hingegen schon Mitte der Siebziger ein Relikt vergangener Zeiten. Heute steigert er mit seiner ausladenden Bedien-Akrobatik die Oldtimer-Freude, zusammen mit der nahezu uneingeschränkten Rundumsicht.
Nur keine Hektik
Der CIH-Motor näselt fröhlich vor sich hin und hat die Ruhe weg. Er lässt sich nicht vom Fahrer zu rasanter, hochtouriger Gangart verleiten. Vielmehr überzeugt er den Fahrer davon, die ganze Sache etwas gelassener anzugehen. Der Vierzylinder verrichtet seine Arbeit höchst unspektakulär, aber sehr zuverlässig. Mit einem Opel kommt man an. Vielleicht nicht als erster, dafür aber immer. In den seltenen Fällen, in denen so ein "Rekord 1900 Caravan 3-türig" einmal unbeladen war, konnte er mit nur 1140 kg Eigengewicht sogar recht flott sein. Bis zu 150 km/h flott sogar. In der Regel wurde er jedoch eher an der Grenze der 600 kg Nutzlast und knapp 2000 Liter Ladevolumen bewegt – und irgendwann auch darüber.
Mit zunehmendem Alter und abnehmender Motorleistung wurde den Rüsselsheimer Raumwundern meist immer mehr zugemutet. Wie jeder gut funktionierende Gebrauchsgegenstand wurde eben auch ein Opel Rekord Caravan einfach so lange gebraucht, bis er aufgebraucht war. Dass der rote Foto-Kombi noch immer den Kofferraum voll hat, ist hingegen kein Grund zur Sorge. Er trägt nur seine eigenen Ersatzteile – und sichert sich so quasi selbst das Überleben.
Wir danken der Oldtimer-Galerie Toffen für die Gelegenheit zur Probefahrt. Der Opel Rekord 1900 Caravan wird dort am 25. März 2023 bei der Auktion "Klassische Automobile & Motorräder" versteigert werden.
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