Nach zweijähriger Pause war es am Wochenende vom 11. bis zum 13. Oktober wieder soweit: Der Ort Lapalisse wurde Schauplatz einer der verrücktesten Partys für historische Fahrzeuge überhaupt. Der Grund ist die Lage des Ortes an der alten Route Bleue, der Route Nationale 7. Hier drängten sich in den 1950er- bis zu Beginn der 1970er-Jahre jeweils zu Ferienbeginn und Ferienende die Reisenden – denn Lapalisse mit seiner schmalen Brücke und der engen Hauptgasse war ein besonderes Nadelöhr auf der Nationale 7 und ihrem nicht ganz 1000 Kilometer langen Verlauf von Paris hinunter an die Côte d'Azur.
Zu viel Ruhe durch die Umfahrung
Eine Autobahn als Ersatz für die Überlandstrasse besteht schon seit über 50 Jahren, doch erst 2006 wurde Lapalisse auch die rund 3000 Lastwagen los, die den Ort jede Woche durchquerten. Die Camionneure mochten die Autobahn-Maut nicht entrichten und bevorzugten die gut ausgebaute Landstrasse weiterhin. Seit 2006 gibt es eine Umfahrung für die kleine Stadt am östlichen Rand der Auvergne.
Der französische Zeichner Thierry Dubois ist ein erklärter Fan und Kenner dieser alten Ferienroute und der Zeit ihrer Hochblüte vor gut 60 Jahren. Er ist 2006 an die Gemeinde gelangt mit der Idee, den Ferienstau von damals in weit lustvollerer, kunterbunter Form wiederauferstehen zu lassen. Lapalisse – heute vom Verkehr entlastet, aber damit auch von einer gewissen Wertschöpfung aus dem Tourismus buchstäblich abgeschnitten – schlug mit Freude ein. Denn es ist unverkennbar, dass die grosse Zeit der Hotels, der Relais Routiers, der Restaurants und den einst sieben Stations Services – den Tankstellen mit Werkstatt – in Lapalisse vorbei sind. Manch ein Ladenlokal ist leer, und selbst schönste Gebäude aus der Zeit des Art Déco bleiben heute unbewohnt.
Dass die Gemeinde mit voller Überzeugung hinter dem organisierten Stau steht, zeigt sich bereits beim Anmeldeprozedere. Die bescheidenen 20 Euro Eischreibegebühr fliessen direkt in den Trésor National, die französische Staatskasse, allerdings auf das Konto des "Service Animation" der "Communauté de Communes du Pays de Lapalisse", der Vereinigten Gemeinden der Region um Lapalisse. Die für den Stau zuständige Administratorin betreut die örtlichen Vereine und Kulturveranstaltungen.
Die Goldene Zeit des Verreisens
Zur Embouteillage zugelassen sind Fahrzeuge zwischen 1945 und 1969, bevorzugt werden Fabrikate französischer Marken, doch dazu gesellen sich einige Importwagen. Der Mix gibt die damaligen Verhältnisse in bester Weise wieder. Auf gefühlt 100 französische Autos fällt ein "Tourist" im Mercedes-Benz, Amerikaner oder Engländer. Auch die Fahrzeugtypen sind so vielfältig wie einst: Personenwagen, Reisebusse, Lastwagen – aber auch der Pfarrer auf dem Fahrrad oder der Bauer mit einer Kuh (aus Plasik) im Anhänger. Kurz: Alles, was Räder hat und mindestens 55 Jahre auf dem Buckel hat, darf bei der Embouteillage mitstauen.
Wer aber glaubt, es handle sich hier um eine blosse Parade historischer Farzeuge, der sieht sich getäuscht. Mit reichlich Gepäck beladen, kämpfen sich die Familenkutschen von damals durch den Verkehr und mit diesem gegen überhitzende Kühler und kochendes Benzin im Vergaser. Meist sind alle Plätze belegt; die Insassen tragen dazu zeitgerechte Kleider. Rollt der Verkehr zu schnell – also schneller als Schrittempo – springt ein Flic auf die Strasse und trillert mit seiner Pfeife. Ob der Ordnungshüter nun echt ist oder nur gespielt, wird dabei nicht so ganz klar. Die Motorräder der mit feschen Stiefeln ausgerüsteten Gendarmen tragen auf jeden Fall die Originalkennzeichen der Gendarmerie Nationale. Auch der Einsatz von Martinshorn und Blaulicht wird ausgiebig zelebriert.
"Lebe glücklich – trinke Wein", steht da auf der Zisterne eines veritablen Tanklastzuges, der auf dem Chassis eines Willème LD 610 aufbaut. In Frankreich ist die charakteristische Kabine unter dem Übernamen "Nez de Réquin" ("Haufischschnauze") bekannt. Wein transportieren die beiden in Latzhosen gekleideten Routiers – im Übrigen versierte Kenner der französischen Lastwagengeschichte wie ein Gespräch mit ihnen zeigt – nicht, aber lustig zu und her geht es alleweil, wenn sie mit ihrem laut bollernden Sechszylinder-Saugdiesel von 13,5 Litern Hubraum und einer Leistung von 175 SAE-PS an der Menge vorbeifahren – schleichen.
Rund 800 Autos, etwa zwei Dutzend "Poids Lourds" und unzählige Mobylettes von Motobécane und Vélomoteurs von Vélosolex quetschen sich dazwischen. Gut, gibt ein falscher Pfarrer dazu seinen Segen und blickt derweil den (männlichen) Nonnen hinterher, die auf dem Moped vorbeifahren. Irgendjemand hat die Plastikkuh ausgeladen und den Platz im Anhänger einer ausgelassenen Gruppe feiernder Menschen überlassen. Ein VW T1 transportiert den Nachwuchs auf dem Dachträger, und ein Traction Avant zieht einen Anhänger mit Matratze, auf der es sich zwei Damen gemütlich gemacht haben, während sie wie alle anderen Verkehrsteilnehmer im Schneckentempo durch die Stadt zuckeln.
Pure Lebensfreude
Manch eine Perle mischt sich unter die kilometerlange Kolonne. Das steht recht unscheinbar ein Citroën DS Palm Beach am Strassenrand, quasi der etwas pompösere Bruder des Werkscabriolets. Dieser war der in Eigenregie präsentierte "Aufschnitt" des Carossiers aus Levallois-Perret bei Paris für den Mann und die elegante Dame, denen das "offizielle" Cabriolet zu gewöhnlich war.
Stichwort elegante Damen: Viele nutzen die Gelegenheit, sich stilgerecht herauszuputzen. Die Männerwelt ist entzückt und eifert in Sachen Eleganz mit Hut, Sakko und Kravatte hinterher. Ein Pärchen reiferen Alters zelebriert ihre wohl weit zurückliegende Hochzeit in einem Vorkriegs-Citroën mit Normande-Karosserie, einer Mischung aus Holzfachwerk und offenem Torpedo. Der der etwas lädiert dreinschauende Bräutigam musste sich, worauf seine rote Nase schliessen lässt, vermutlich die Braut schöntrinken. Nachwuchs scheint auch schon da zu sein: Der Lenker des Citroën ist der jüngste an Bord.
Die Hauptgasse von Lapalisse wird derweil von einer dichten Menschenmenge gesäumt. Die Tour de France wäre vermutlich froh, wenn sie noch so viele Leute auf die Strasse zu bewegen vermochte. Und diese Party ist kilometerlang. In jeder Ecke und Nische entdeckt man eine eigene kleine Inszenierung. Da sitzen Leute mit Campingstuhl und Picknicktisch am Strassenrand, und die beiden in Overalls gekleideten Damen der Art-Déco-Tankstelle sorgen für die Wiederherstellung der Marschbereitschaft des farbenfrohen Umzugs. Für die Velofahrer – natürlich stets am Überholen der stehenden Kolonne – gibt es zahlreiche Verpflegungsposten. Im Gegensatz zur Standardverköstigung nach Schweizer Prägung mit Wurst und Brot (im besten Fall in Begleitung von Kartoffelsalat) warten hier Choucroute Royale oder ein veritables Couscous auf die hungrigen Mäuler.
Und ja, man "lebt" auch reichlich und damit glücklich, ganz nach dem Motto des Willème Weintanklasters. Das Zimmer im Hotel ist gebucht. Wie ein Augenschein am nächsten Morgen ergibt, blieb manch ein Auto neben oder gar mitten auf der Strasse auf der Sperrfläche stehen. Die "Nez rouges" sind zu Fuss schlafen gegangen spät in der Nacht.
Immaterielles Kulturgut
Würden Goscinny und Uderzo zwei Gallische Helden in der Jetztzeit erfinden statt bei den Römern, dann würden sie sich vermutlich hier zu ihren Dorffestszenen inspirieren lassen. Und wer mit etwas Wehmut sich an jene Zeit zurückerinnert, als es noch Zollschranken zwischen den europäischen Ländern gab, aber dafür sich hinter jeder Grenze ein eigenes Universum entdecken liess; wer all jene Unterschiede für verloren geglaubt hat, der wird hier fündig. Franzosen fahren Franzosen und machen all das, was man von ihnen gewohnt ist: Sie sind herzlich, ausgelassen, laut und voller Schalk. Die Flics mögen noch so viel mit ihren Trillerpfeifen herumtrillern, man lässt sich deswegen nicht aus der Ruhe bringen.
Und zwischen all dem Gewusel sitzen irgendwo welche, die sich etwas Gutes für den Gaumen gönnen und sich der Wonne des Lebens erfeuen. Als Festival der Sehnsüchte des kleinen Mannes, der in den 1950er- und 1960er-Jahren dank der Massenmotorisierung erstmals ein Gefühl der Freiheit und dazu einige Ferientage geniessen durfte; als Veranstaltung, die gelebte Alltagskultur wiedergibt, müsste Frankreich die Embouteillage in ihr Register der immateriellen Kulturgüter aufnehmen. Doch das allerbeste an der Embouteillage ist tatsächlich, dass ihr der eigene Erfolg kaum im Weg stehen wird, denn der Stau ist ja Programm, das Durcheinander gewollt und das Gedränge all jener 30'000 Begeisterten, die nach Lapalisse pilgern, durchaus beabsichtigt. C'est formidable! Die nächste Ausgabe findet 2026 statt.
































































































































































































































































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