Heute unvorstellbar, damals besonders. Zwischen 1953 und 1983 pilgerten Hunderttausende an den Nürburgring, um allen Wetterkapriolen der Eifel trotzend dem 1'000 km Rennen, einem Lauf zur Sportwagen-Weltmeisterschaft, beizuwohnen. Zelte, Lagerfeuer und Bierkasten machten das Spektakel zu einer Auszeit vom Alltag, gefahren wurde mit dem neuerworbenen Auto direkt an die naturbelassenen Zuschauerabschnitte. Geboten wurde dafür jede Menge Atmosphäre im Grünen: Da gab es die freien Trainingsläufe, bis zu 16 Stunden, verteilt auf drei Tage, um die Fahrzeuge abzustimmen. Und dann das Rennen am Sonntag, dem Höhepunkt auf dem Ring neben dem WM-Lauf zur Formel 1 Weltmeisterschaft.
Jan Hettler und Udo Klinkel haben diese 30'000 km in jahrelanger Recherche und akribischer Fotoauswahl in ein 750 Seiten Buch gefasst.
30 Jahre Sportwagen Weltmeisterschaft
1953 schreibt der ADAC erstmals – mit der Gründung der Sportwagen Weltmeisterschaft der FIA – ein Rennen über die 1'000 km Distanz aus. Im Rahmen dieser Meisterschaft treten die Teams bei so bekannte Klassikern wie den 24 Stunden von Le Mans oder der Carrera Panamericana in Mexico und den 12-Stunden von Sebring gegeneinander an. Die FIA bündelt damit die Vielzahl der Sportwagenrennen in einem System und schafft sofort ein Gegengewicht zur Formel 1. Denn in den Sportwagenrennen tummeln sich neben vielen Exoten eben auch die Werksteams von Porsche, Ferrari, Jaguar, Ford, Mercedes und viele andere mehr. Und während sich die Formel 1 in den nächsten Jahren stärker von teilnehmenden Werksteams weg entwickeln wird, sehen die Hersteller in der Sportwagen-WM den idealen Platz, um prestigeträchtige Siege auf prestigeträchtigen Rennstrecken herauszufahren. Der Nürburgring ist eine davon.
Die Elite am Start
Schnell etabliert sich das 1000 km Rennen als feste Grösse im Kalender der Sportwagen-WM und im Kalender der Fans. Man stelle sich das vor: 350'000 zahlende Zuschauer pilgern über die schmalen Strassen der Eifel an den Rundkurs, um dort ein Wochenende in den allermeisten Fällen im Freien zu verbringen. Ganze Familien oder Fangruppen werden in den nächsten Jahren feste Plätze für sich an der Strecke in Anspruch nehmen, um von dort dem Spektakel zu folgen. Dafür liefern sich nicht nur die etablierten Hersteller in den grösseren Kategorien erbitterte Gefechte, auch in den kleinen Klassen wird hart gefightet und technisch bis ans Limit des Reglements gegangen. Am Start sind die Helden ihrer Zeit.
Die meisten Piloten sind noch Söldner, die sich von Rennen zu Rennen und von Einsatz zu Einsatz verpflichten lassen. So geschieht es oft, dass diese Fahrer sowohl in der Formel 1 engagiert sind und an den freien Formel-1 Wochenenden Gastspiele in der Formel 2 oder eben der Sportwagen-WM geben. Oder umgekehrt. Auf jeden Fall sind die Starterfelder in Zeiten von Startgeldern immer gut gefüllt.
Der Nürburgring als Teststrecke
Die Popularität der Sportwagen ist in den 60er Jahren auf dem Höhepunkt angelangt. Ferrari, Ford und Porsche scheuen keine Mühen und keinen Aufwand den Titel der Sportwagen-WM einzufahren. Genauso wie bei der Bergeuropameisterschaft gilt es mit allen Mitteln den Gegner hinter sich zu lassen und mit Strategie und technischer Finesse den Vorsprung herauszufahren. Die Zeiten, guter Fahrer, hohe Zuverlässigkeit sind vorbei. Scheibenbremsen, Benzineinspritzung, Aerodynamik und Spoiler lassen eher die Sportwagen zur Innovationsschmiede der Automobilindustrie werden als die Formel 1. Der Nürburgring wird dabei zu einer beliebten Teststrecke, denn die anspruchsvolle Teststrecke verlangt Fahrer und Material alles ab. Wer hier besteht, besteht zumeist auch anderswo. Die Kompression an der Fuchsröhre, die bergab Kurvenpassagen als Bremsentest oder die 3 km lange Döttinger Höhe mit ihrer absolut geraden Streckenführung zum Erreichen der absoluten Höchstgeschwindigkeit sind Herausforderungen, denen man sich auf gut 20 km stellen musste. Ford GT 40, Porsche Carrera 6 oder 908, Ferrari Dino oder in den kleinen Klassen die Alfa-Rome, Triumph Spitfire sowie Spezialkonstruktionen wie die Martini BMC ACS sorgen für ein buntes Starterfeld und packende, spannende Rennen.
Das Reglement
Immer wieder schraubt die FIA in Paris am Reglement. Einerseits um volle zuschaueranziehende Starterfelder zu gewinnen, andererseits um die Konkurrenz angesichts der rasanten Techniksprünge einigermassen unter Kontrolle zu bringen. Nicht immer hat sie dabei ein sicheres Händchen. Was Ende der 60er Jahre zur Apokalypse durch den Porsche 917 führt, wird kurzerhand wieder zurück genommen.
Aber die Popularität des Rennens und der Meisterschaft nimmt dabei ab. Es müssen die eingefleischten Fans sein, die die Zahl der Zuschauer nochmals auf über 100'000 heben. Eher sind es 60'- 70'000, die auch eingebremst durch die Ölkrise, der politischen Realität entgegenstemmen. Die bunten Starterfeldern von einst, sind nun durch die Werksteams von BMW und Ford in der Klasse der Tourenwagen aufgefüllt. Matra, Mirage und Alfa Romeo fahren um die Siege. Und als Folge der Ölkrise werden es die BMW CSL Coupés und die Capris von Ford, sowie die Porsche 911 sein, die da zum 1000 km Rennen antreten. Fahrzeuge, die mehr oder weniger an sportliche Serienwagen erinnern aber weit weg von der exotischen Eleganz der Sportwagen aus den 50er und 60er Jahren sind.
Der Abgesang
Irgendwie ist der Ofen Ende der 70er Jahre aus. Natürlich fighten die Asse immer noch um sportlichen Lorbeer. Aber einen BMW M1 wollen die Zuschauer nicht siegen sehen. Und die Armada aus Porsche 935 oder BMW 320 wirken auch nicht reizvoller. Selbst ein Opel Ascona oder ein alter BMW 2002 verirrt sich hier und da ins Startfeld. Von internationalem Flair fehlt mittlerweile bei den Teams die Spur. Und die Zeiten, in denen die Formel 1 Asse ins Lenkrad griffen, sind auch passé. Vorerst kann auch der Auftritt der Gruppe C im Jahr 1982 daran nichts mehr ändern. Endlich gibt es zwar wieder richtige Rennsportwagen, die flachen Flundern erinnerten an die besten Zeiten von Porsche 917 & Co. Aber das Reglement war für den Fan unnachvollziehbar. Die Motoren waren quasi frei gestellt, ein Verbrauchsindex sollte dann wieder für Chancengleichheit sorgen. Zum Vermarkten passte es in die Zeit, jedoch nicht in die Köpfe der Fans, die das schnellste Auto siegen sehen wollten. Wen auch sonst?
Im Gegensatz zu der Krücke Ford C 100 entwickelte sich der Porsche 956 zum Mass aller Dinge. Lancia ist aktiv dabei und siegfähig. Im Laufe des Jahrzehnts sollen sich mit Sauber-Mercedes Peugeot, Nissan, Toyota, Mazda und Jaguar namhafte Automobilhersteller hinzugesellen, die um den Marken- und Fahrertitel der seit 1982 ausgetragenen Sportwagenweltmeisterschaft antraten. Aber das ist eine andere Geschichte. Denn durch die geplanten Umbaumassnahmen auf dem Nürburgring kommt es 1983 zur letzten Auflage des 1000 km Rennens auf der klassischen Gran-Prix-Strecke. Die alte Nordschleife hatte die Lizenz für die Klasse A Rennen verloren. Ab 1984 wurde das 1000 km Rennen auf dem neuen, nur 4,5 km langen, Kurs rund um Start und Ziel ausgetragen. Damit hatte das 1000 km Rennen endgültig seinen einzigartigen Charakter verloren. So endete 1983 nach 30 Jahren mit dem Fall der schwarz-weiss-karierten Flagge eine Ära im leichten Nieselregen auf der alten Grand-Prix-Strecke in der Eifel.
Ein Buch wie kein anderes
Der Rezensent war selbst bei zahllosen Gesprächen, die sinnigerweise im Rahmen der ELMS Rennen oder der WEC am Nürburgring stattfanden, zu den Geburtswehen dieses Buches anwesend. Zahllose Fragen wurden erörtert: Wie dick darf so ein Buch werden, woher bekommt man die Rennprotokolle, welche Bildarchive gibt es noch und wen interviewen wir zum jeweiligen Rennjahr exklusiv. Nun, Jan Hettler und Udo Klinkel haben darauf eine Antwort gefunden. Sie hat 750 Seiten und lässt jedes Rennjahr chronologisch Revue passieren.
Eingeteilt in einen kurzen Saisonüberblick, folgt ausführlich ein Blick aufs Starterfeld, dann wird der Trainingsverlauf besprochen und das Rennen dokumentiert. Den Abschluss bildet jeweils die ausführliche Statistik, in der Zuschauerzahlen, Klasseneinteilung und Wetterlage genauso wenig fehlen, wie die Details zum Ergebnis. DenHöhepunkt bilden allerdings die Interviews mit den Teilnehmern zu den einzelnen Saisons. Ob Paul Frére Dan Gurney, Herbert Linke oder Jack McAffee. Mehr als 40 Fahrer beschreiben ihr Rennen mit eigenen eindrücklichen Worten nachvollziehbar und leidenschaftlich und lassen über die Chronisten hinaus noch einen Blick in die Zeit werfen, als Fahrer, Material und Zuschauer am Nürburgring für wenige Tage eine Einheit bildeten. Immer wieder fliessen viele Informationen zu Teams, Reglements, Fahrerbesetzungen, Charaktere und Anekdoten ein. Sie ergänzen den Überblick auf die gesamte Saisonchronik und erweitern den Einblick auf die Bedeutung des jeweiligen Rennens, es ist ein Vergnügen, so ausführlich dokumentiert zu sein.
Limitiert
Dieses Buch, auf 1000 Exemplare limitiert, fängt drei Jahrzehnte Motorsport ein. Sprachlich und dokumentarisch briliant formuliert. Dass die Autoren dabei zum Teil fotografisch bisher unbekanntes Material zur Veröffentlichung bekommen haben, wird auch die erfreuen, die nicht nur lesen wollen. Auf das Lesen der ausführlichen und ebenfalls knackigen Bildunterschriften sollten sie dabei aber nicht verzichten. Von der ersten bis zur letzten Seite ein akribisch gemachtes, handwerklich absolut ansprechendes und damit absolut empfehlenswertes Buch, dass auch nur durch sein Gewicht deutlich macht, wieviel in ihm steckt.
Bibliografische Angaben
- Titel: 1000 Kilometer Rennen 1953 - 1983 - Die Sportwagen-WM-Läufe des ADAC auf der Nürburgring-Nordschleife
- Autoren: Jan Hettler/Udo Klinkel
- Verlag: Delius Klasing, 1. Auflage 2015
- Format/Umfang: 310 x 260 mm, gebunden im Schuber, 744 Seiten, 238 Farb- und 284 s/w-Bilder sowie Tabellen und Interviews
- Preis: EUR 198,90
- ISBN: 978-3-667-10310-9
- Bestellen/kaufen: Online bei delius-klasing.de , bei amazon.de oder im einschlägigen Buchhandel


















































































































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