Ich werde alt. Diese Erkenntnis drängt sich auf, obwohl ich mich gerade einmal dem gesetzlich vorgeschriebenen Oldtimer-Alter nähere. Vor zehn Jahren, als die Farbe auf meinem Führerschein noch nicht ganz trocken war, wäre mir nie ein Auto mit Automatikgetriebe ins Haus oder in die Garage gekommen. Ich war jetzt schliesslich ein offiziell anerkannter und amtlich zugelassener Kraftfahrzeug-Beherrscher, und nichts buchstabiert das Wort "Könner" so deutlich wie die geschmeidige Hand-Fuss-Choreographie bei einem schnellen Gangwechsel mit Zwischengas. Das Wort "Führerschein" las sich damals verdächtig wie "Rennlizenz".
Heute ziehe ich es vor, nicht mehr nach jedem Brems- oder Anfahrvorgang wie Paul Bocuse im Getriebe herumzurühren und lasse stattdessen von meinem stummen Diener schalten. Einzige Ausnahme sind englische Roadster. Aber die sind ja auch keine Fortbewegungsmittel, sondern Sportgeräte. Und deren Nutzung verlang nun einmal sinnstiftend körperliche Betätigung.
Was kam zu erst?
Damit wären wir auch bei der diesem Artikel zugrunde liegenden Frage angekommen: Bestimmt das Getriebe den Charakter eines Autos oder der Charakter das Getriebe? Als Anschauungsobjekt soll uns hierfür ein Sechser-BMW der Baureihe E24 dienen: zu schwer und zu komfortabel für einen richtigen Sportwagen, aber zu BMW für ein behäbiges, kurvenscheues Reise-Coupé.
Die ideale Test-Paarung findet sich bei der Touring Garage in Oberweningen in Gestalt zweier 635 CSi von 1979 und 1981: gleiches Modell, gleicher Motor, gleiche Bereifung, gleiche Laufleistung und annähernd gleiches Baujahr. Die wesentlichen Unterschiede liegen in der Lackfarbe (Graphit-Metallic und Saphirblau-Metallic), der Innenausstattung (beigefarbenes Leder und dunkelblauer Stoff) und eben im Getriebe: Fünfgang-Handschaltung gegen Dreistufen-Automatik. Konkret: Getrag 265 gegen ZF 3HP-22.
Der E24 in Kürze
Da wir vor ein paar Jahren die Geschichte des E24 bereits ausführlich erzählt haben, hier nur noch einmal das Wichtigste in Kürze, damit Sie wissen, wovon ich rede: Im Oktober 1975 erschien der Sechser als Nachfolger der Coupé-Baureihe E9. Den Anfang machten der 630 CS mit Solex-Doppel-Registervergaser und 185 PS sowie der 633 CSi mit Bosch-Saugrohreinspritzung und 200 PS. Im Juni 1978 folgte dann der 635 CSi als sportliches Topmodell der Reihe: sein 3,5-Liter-Sechszylinder leistete 218 PS bei 5200 Umdrehungen pro Minute und beschleunigte das 1480 Kilogramm schwere Coupé in 7,6 Sekunden von null auf 100 und in 36,5 Sekunden auf 200 km/h. Die Spitze lag bei 222 Kilometern in der Stunde.
Ein Sperrdifferential sowie ein Fünfgang-Sportgetriebe mit erstem Gang links hinten waren serienmässig. Äusserlich unterschied sich das Spitzenmodell durch eine andere Frontschürze mit integriertem Spoiler, einen Heckspoiler aus Gummi, aufgeklebte Zierstreifen und Kreuzspeichen-Leichtmetallräder von BBS von den anderen Sechsern. Hinter dem Steuer wurde der Pilot durch die roten Instrumentenzeiger auf das Sportmodell hingewiesen – falls er es nicht schon durch das Sportfahrwerk, den bissigeren Motor und vor allem den Rechnungsbetrag von 49'400 Mark bemerkt hatte.
Erst der M 635 CSi mit dem 286 PS starken Vierventiler aus dem BMW M1 löste 1984 den 635 CSi als teuersten Serien-Sechser ab und behielt diesen Titel bis zum Produktionsstopp im April 1989. Zwei Modellpflegen 1982 und 1987 hielten den E24 jung, ehe er nach 89'219 Exemplaren vom 850i der Baureihe E31 abgelöst wurde. Etwas mehr als die Hälfte davon (45'215 Stück) waren 635 CSi. Rund ein Drittel aller Sechser hatte ein Automatikgetriebe.
Der manuelle Graue
Unser graphitgrauer "Testwagen" stammt aus dem ersten Modelljahr und erhält sein Gemisch noch von einer Bosch L-Jetronic. Die Sportsitze sind eng wie Baseball-Handschuhe und drücken die Oberschenkel ungewohnt energisch zusammen; der Kranz des Dreispeichen-Lenkrads ist dick wie ein Schiffstau. Der Drehzahlmesser ist dem Tachometer noch untergeordnet und drängt sich rechts von ihm in die Ecke. Erst 1982 wird sich das ändern. Am oberen Rand des Kombiinstruments befindet sich eine Reihe von sechs funktionslosen, schwarzen Rechtecken.
Nach einem kurzen Schlüsseldreh erfüllt der Klang des Sechszylinders den Innenraum – nicht laut, nicht aufdringlich, sondern sonor, wohltönend und so gleichmässig, dass die Laufruhe des M30 mit jeder Schallwelle hörbar wird. Beim Anfahren dann die erste Überraschung: der erste Gang ist auffallend lang übersetzt, ist fast eine vollwertige Fahrstufe. Behutsam fahre ich den Motor warm, bleibe dafür in der linken Hälfte des bis 7000 reichenden Drehzahlmessers. Selbst hier unten ist der Durchzug beeindruckend, obwohl die vollen 304 Nm erst bei 4000 Touren anliegen. Ohne die kleinste Verzögerung reagiert der BMW auf spontane Gasbefehle und legt untermalt von leichtem Röhren einen kurzen Zwischenspurt ein.
Sobald Ortsgrenze und 15 Warmfahr-Kilometer hinter mir liegen, wird die Gangart sportlicher. Der Sechszylinder hängt gierig am Gas, posaunt fröhlich seine 218 PS in die Welt. Auch wenn man den elastischen 3,5-Liter weit schaltfauler fahren könnte – Es bereitet einfach viel zu viel Freude, ihn durch einen Gangwechsel mehr als nötig im akustisch perfekten Bereich zwischen 3500 und 5000 Touren zu halten und die sechs Tenöre ihr Lied singen zu lassen – höher muss ich nicht drehen, niedriger will ich nicht. Trotz der "langen" Hinterachse legt der 635 CSi dabei auch im vierten Gang noch ordentlich an Tempo zu.
Das Fünfgang-Getriebe trägt seinen Teil zu diesem Landstrassenspass bei. Der Schalthebel lässt sich präzise durch die Kulisse führen und rastet trocken in den Fahrstufen ein. Ein Stoss Zwischengas beim Herunterschalten küsst die Gänge geradezu hinein. Nur den Nutzen des "Sportgetriebes" mit dem ersten Gang links hinten kann ich beim besten Willen nicht erkennen. Auf der Rennstrecke mag es sinnvoll sein, dass zweiter und dritter Gang in einer Gasse hintereinander liegen. Aber im legalen Rahmen auf der Landstrasse, wo ich mich am liebsten im zügigen Dreiviertellastbereich aufhalte, wäre mir eine mittige "Direktverbindung" zwischen den Stufen drei und vier deutlich lieber.
Der automatische Blaue
Der saphirblaue Automatik-Sechser ist zwei Jahre jünger als sein handgeschalteter Bruder. Sein Sechszylinder wird deswegen schon von einer Bosch Motronic gespeist, was aber an der Motorleistung nichts ändert. Bei genauerem Hinsehen entdeckt man zwischen den Modelljahren viele kleine Unterschiede im Detail: Hebel statt Drehrad für die Sitzlehnenverstellung, Digitalanzeige statt Analog-Uhr in der Mittelkonsole und von oben statt an der Seite zu entriegelnde Gurtschlösser. Die plüschigen Stoffsitze haben Sofa-Charakter; der Kranz des geschüsselten Vierspeichen-Lenkrads ist angenehm dünn.
Statt aus einer feinen Leder-Manschette ragt der Wählhebel der Dreigang-Automatik aus einem bürstenbewehrten Schlitz im Plastik. Nun erklären sich auch die im Fünfgang-Sechser funktionslosen Rechtecke über dem Tacho. Sie zeigen die momentane Wählhebelstellung und leuchten in unterschiedlichen Farben auf: Parkstellung und Neutral weiss, der Rückwärtsgang rot und die drei Vorwärtsgänge grün. Dann wollen wir mal: Fuss auf die Bremse, den Motor anlassen, den Wählhebel auf "D" gezogen und – nichts. Nanu? Ich warte auf das Mercedes-typische "Klonk", das mir unmissverständlich mitteilt, der Kraftschluss sei nun hergestellt. Aber da klonkt nichts. Nicht mal ein kleines bisschen. Also vorsichtig den Fuss vom Bremspedal und siehe da: die Fuhre rollt los.
Auf der Strasse dann die nächste Überraschung: der Sechszylinder hat durch den Wandler nichts von seiner Spontanität eingebüsst. Man fühlt sich zwar einen Hauch weniger direkt mit der Drosselklappe verbunden, aber der Vortrieb setzt genauso unmittelbar ein wie beim Handschalter. Auf dem Papier fällt der Unterschied deutlicher aus: Für den Spurt auf 100 km/h braucht das Automatik-Coupé 9,1 Sekunden – und damit eineinhalb mehr als der Manuelle. Die Höchstgeschwindigkeit ist mit 214 km/h ebenfalls niedriger.
Die Gangwechsel des ZF-Getriebes sind ebenso sanft wie das Einrücken der ersten Fahrstufe im Stand. Auch dann, wenn man den Wählhebel von Hand durch die Sperrstufen 1 und 2 bewegt und so quasi ein manuelles Getriebe simuliert. Schnellfahren geht dank der fehlenden Kupplungsbetätigung viel entspannter. Bei 5000 Touren kurz den Hebel nach vorn gerückt und vor der nächsten Kurve wieder zurückgezogen – fertig. Den Rest regelt das Auto von alleine.
Viel mehr als der Wandler stört die Abwesenheit zweier zusätzlicher Gänge. Durch die geringe Anzahl an Fahrstufen und die damit verbundene lange Übersetzung ändert der Sechszylinder seine Tonlage nur relativ selten, hält manchmal sogar eine Drehzahl über einen längeren Zeitraum annähernd konstant; was dann nicht nach starker Beschleunigung tönt, obwohl die Tachonadel zügig die Skala hinauf wandert und der Druck im Rücken gesunden Vortrieb signalisiert. Tatsächlich liegen die drei Fahrstufen so weit auseinander, dass man auf einer kurvigen Bergstrasse fast durchgehend im zweiten Gang bleiben kann. Dem Schnellfahren steht das nicht im Wege, nur die akustische Freude kommt eben ein wenig zu kurz. Eine Fünfgangautomatik würde dem Getrag-Getriebe in Sachen Fahrspass wahrscheinlich ziemlich nahekommen.
Ein eindeutiges "vielleicht"
Im Handling unterscheiden sich die beiden Getriebevarianten des 635 CSi nicht voneinander. Der nur zehn Kilogramm schwerere "Automat" lässt sich ebenso präzise und leichtfüssig durch Kurven zirkeln wie der "Schalter". Vielleicht ist das Automatikgetriebe hier sogar im Vorteil, weil man öfter beide Hände am Steuer hat. Man hat sogar wie im Rennwagen eine Gang-Anzeige im Kombiinstrument. Trotzdem merkt man dem Automatik-Sechser an, dass dies nicht seine bevorzugte Gangart ist. Er ist mehr ein schneller, bequemer, aber durchaus auch sportlicher Reisewagen. Mit manuellem Getriebe hinter dem drehzahlgierigen Saugmotor wird der 635 CSi jedoch zu einem echten Sportwagen, der zum Schnellfahren auch auf kurvigem Geläuf animiert, dabei aber trotzdem immer komfortabel bleibt.
Zumindest wenn ein Auto beide Wesenszüge in sich trägt, entscheidet also das Getriebe über den Charakter. Ob jetzt allerdings aus einem Chevrolet Bel Air ohne Powerglide direkt ein Rennwagen wird, wage ich dann doch zu bezweifeln. Mein 635 CSi hätte vermutlich die breiten und bequemen Stoffsitze, das dünne Lenkrad und ein manuelles Getriebe. Um Dirigent des M30-Orchesters zu sein, würde ich sogar das ständige Gerühre in Kauf nehmen. Wobei – so schlecht war die Automatik ja eigentlich nicht ...
Wir danken der Touring Garage sowie dem neuen Eigentümer des handgeschalteten 635 CSi für die Gelegenheit zur Probefahrt.
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Schade bietet BMW die Sportgetriebe nicht mehr an.