Der Name Kienle steht in Oldtimer-Fachkreisen gemeinhin für höchst wertvolle Mercedes-Benz-Klassiker und selbstbewusste bis grossspurige Messeauftritte. Tatsächlich gilt die Firma Kienle Automobiltechnik GmbH in Ditzingen-Heimerdingen als weltgrösster Restaurierungsbetrieb der edlen Karossen aus dem nahen Stuttgart.
Seit heute darf allerdings hinterfragt werden, ob dieser erhabene Status künftig noch Bestand haben wird. Denn am 31. Mai 2023 um 9:00 Uhr morgens fand im Auftrag der Staatsanwaltschaft Stuttgart eine sorgfältig geplante und präzise koordinierte Razzia in den Geschäfts- und Privaträumen der Firmeninhaber statt. Dabei stiessen die zahlreichen Beamten des Landeskriminalamtes (LKA) Baden-Württemberg auf umfangreiches Beweismaterial, das folglich sichergestellt wurde. Zwischengas berichtet als erstes Fachmedium über diesen Fall.
Um welchen Tatbestand es geht? Am 17. März 2023 erhielt das LKA einen Hinweis des Deutschen Bundeskriminalamtes, dass "eine Firma aus Ditzingen einen betrügerischen Handel mit exklusiven Oldtimern betreibe", wie es behutsam heisst – und der Verdacht bestünde, dass "diese Firma von lange nicht gehandelten Oldtimern professionelle Doubletten fertigte und verkaufte."
In dem konkreten Fall geht es um einen absolut originalen Mercedes-Benz 300 SL Roadster, der viele Jahrzehnte lang im Verborgenen schlummerte und schliesslich jüngst in der Schweiz verkauft wurde. Beim Versuch der Zulassung stellte sich heraus, dass bereits ein weiterer 300 SL mit ebenjener Identität angemeldet war. Genauere Untersuchungen ergaben schnell, dass es sich bei letzterem Fahrzeug derselben Fahrgestellnummer um eine Fälschung handelt, deren Spur wiederum zu Kienle führte.
Unter Intimkennern der Szene kursiert das hartnäckige Gerücht, dass es sich nicht um einen Einzelfall handelt. "Mittlerweile gehen wir davon aus, dass man bereits von einer Art Kleinserienfertigung falscher 300 SL Roadster und Flügeltürer und damit von gewerbsmässigem Betrug in weitreichendem Umfang sprechen kann.", sagt ein Spezialist, der ungenannt bleiben möchte; schliesslich habe man jahre-, wenn nicht jahrzehntelang darüber spekuliert, wie es zu der wundersamen Vermehrung des legendären Sportwagen-Klassikers kommen könnte. Der war ab 1954 genau 1400-mal als Coupé und in offener Version ab 1957 in nur 1858 Exemplaren entstanden.
Mit der Auswertung des bei Kienle sichergestellten Beweismaterials nehmen die Ermittlungen jetzt wohl erst richtig Fahrt auf. Es bleibt abzuwarten, welche Details dadurch in nächster Zukunft ans Licht gespült werden. Und vor allem, welchen mittelfristigen Effekt die daraus gewonnenen Kenntnisse auf den Markt der Hochpreis-Oldtimer vom Schlage eines Mercedes-Benz 300 SL haben werden. Derzeit wird der berühmte Sportwagen mit dem Werkskürzel W 198 zwischen etwa 1,25 und 1,75 Millionen Schweizer Franken (ca. 1,3 bis 1,8 Millionen Euro) gehandelt.
Interessant ist zunächst, dass das Landeskriminalamt Baden-Württemberg am Tag der Durchsuchungen verlautbaren liess, potentielle Geschädigte könnten sich direkt an die Ermittlungsbehörde wenden. Die E-Mail-Adresse lautet [email protected].
Derweil schnellen die Klickzahlen eines YouTube-Videos des Südwestrundfunks Deutschlands (SWR) aus dem Jahr 2021 über die Restaurierungspraktiken der Firma Kienle in die Höhe. "Auch die Seele der Prachtstücke muss erhalten bleiben.", heisst es darin voller blumiger Pathetik. "Die Seele des Autos ist halt immer, wenn so viel wie möglich original bleibt.", behauptet Firmensenior Klaus Kienle (heute 76) darin seinen liebenswerten Authentizitätsanspruch.
Ein ethisches Bekenntnis, das sich aufgrund der aktuellen Entwicklungen als Etikettenschwindel offenbart und nunmehr als Etagenwitz in der Veteranenszene etablieren dürfte. Zumal der Off-Sprecher des TV-Beitrags hinterher erklärt, dass Kienle über das weltweit grösste Ersatzteillager für derartige Baureihen verfügt.

































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