Das Kreischen des Acht-Zylinder-Motors von Nino Vaccarellas Alfa Romeo 33 wird von den hohen Stützmauern und Häuserzeilen von Collesano auf die Zuschauer zurückgeworfen. Dicht gedrängt stehen sie am ungesicherten Strassenrand, immer versucht, ehrfurchtsvoll den Rennwagen im Vorbeipreschen noch kurz zu berühren. Im Lärm gehen die skandierten Rufe "Nino, Nino, Nino!" völlig unter – trotzdem wird aus vollen Kehlen weiter geschrien.
Die Targa Florio – das sagenumwobene Strassenrennen in Sizilien. In der Zeit zwischen 1906 und 1977 war es die wichtigste Rennsportveranstaltung auf der Insel. Die Rennen in Syracusa und Enna standen stets im Schatten der "grossen Targa".
Oftmals zählte es als Rennen zur Markenweltmeisterschaft oder zur Langstrecken-Weltmeisterschaft. Champions wie Ugo Sivocci, Achille Varzi, Tazio Nuvolari, Clemente Biondetti in der Vorkriegszeit, dann ab den 1950er-Jahren Stirling Moss, Wolfgang Graf Berghe von Trips, Joakim Bonnier und die Schweizer Jo Siffert (1970) und Herbert Müller (1966 und 1973) prägten dieses Rennen.
Der "fliegende" Professor
Mit Nino Vaccarella gab es einen sizilianischen Piloten, der alles überstrahlte, als Einziger dreimal gewann und für einen echten Sizilianer als unsterblich gilt, obwohl er vor Monatsfrist im Alter von 88 Jahren verstorben ist. Vaccarella charakterisierte sich vor Jahren bei einem Interview so: "In erster Linie bin ich Sizilianer, in zweiter Linie Rektor eines Gymnasiums in Palermo und erst in dritter Linie bin ich Autorennfahrer".
Dies hinderte den Professor nicht, sich in die Siegerlisten des 24-Stunden-Rennens von Le Mans (1964), den 1000 Kilometern vom Nürburgring (1964) und den 12 Stunden von Sebring (1970) einzutragen. Alles wird aber überragt von den drei Siegen bei der Targa Florio 1965 (Ferrari), 1971 und 1975 (Alfa Romeo). "Eigentlich hätte ich dieses Rennen mindestens fünf oder gar sechsmal gewinnen müssen – nur Pech und technische Defekte hinderten mich daran," erklärte er einmal.
Ferrari, Alfa Romeo und Porsche
Auf der 72 Kilometer langen Strecke (1951 bis 1977) waren die spektakulärsten Boliden vom Schlage eines Ferrari 275P2, Ferrari 512 S, Ferrari 312 PB, Porsche 910, Porsche 908/3 oder Alfa Romeo 33 durch die engen Gassen der Dörfer Cerda, Caltavutura oder Collesano geprescht.
Den offiziellen Rundenrekord hält seit 1972 der "Österreichische Doktor", wie er genannt wird – gemeint ist Helmut Marko, heute immer noch als Rennsportdirektor für Red Bull tätig. Er trieb seinen Alfa Romeo 33 in einer Zeit von 33:41 Minuten durch die rund 900 Kurven, gleichbedeutend mit einem Schnitt von 128,253 km/h.
Leo Kinnunen war im Jahr zuvor mit seinem Porsche 908/3 im Training noch fünf Sekunden schneller unterwegs, dies reichte "nur" zum inoffiziellen Rundenrekord.
Auf dem fahrerisch höchst anspruchsvollen Rundkurs gab es nur gerade eine einzige Möglichkeit zum "Ausruhen": die rund sechs Kilometer lange Gerade von Buonfornello. "Klar wurde auch dort Vollgas gefahren, trotzdem konnte man etwas entspannen," schilderte Vaccarella den Höllenritt im Ferrari 512 mit über 300 km/h und fuhr fort: "Nach dem Rennen mit dem Ferrari hatte ich regelmässig blutige Hände."
Und noch etwas erwähnte Vaccarella: "Es gab mit Siffert, Rodriguez, Kinnunen, Marko und Elford und dem italienischen Asphalt-Cowboy Arturo Merzario nur gerade eine Handvoll Piloten, die sich die Rennstrecke einprägen konnten. Regazzoni, Ickx und Bell hatten ihre liebe Mühe, ganz zu schweigen von den Formel-1-Weltmeistern Fangio, Surtees oder Hill."
Mit Blick zurück
Vor diesem Hintergrund wird seit einigen Jahren die Targa Florio Storico (Classica) für Oldtimer veranstaltet. Nicht mehr im Mai wie das ursprüngliche Rennen, sondern in der zweiten Oktober-Hälfte, 2021 von 14. bis 17. Oktober. Ideal also, um den Sommer dieses Jahr etwas in den Herbst zu verlängern und die Erinnerung an den verregneten Juni und Juli zu verdrängen.
Rund 120 Teams nahmen die Strapazen auf sich, im südlichen Palermo mit ihrem Oldtimer an den Start zu gehen.
Die Anreise erfolgte oftmals auf Achse, allenfalls per Schiff ab Genua bis Sizilien und für einige Privilegierte per Flugzeug, deren Autos ab Mailand mit LKW auf die Insel transportiert wurden. Angedacht waren zwei Tage historische Rallye plus eine kleine sonntägliche Zusatzrunde.
Beindruckendes Startfeld
Das Spektrum der Vorkriegs-Preziosen reichte von Bentley, Bugatti und Mercedes hin zu Lagonda und BMW, garniert mit allen sportlichen Marken der Nachkriegszeit. Teilnehmer aus der ganzen Welt reisten an: USA, Japan, Mexiko waren ebenso vertreten wie die wichtigsten europäischen Staaten.
Und mit den Bentleys, einem Bugatti, dem BMW 328, dem Mercedes-Benz SSK, den Alfa Romeo SZ und TZ, dem Ferrari 275 GTB sowie einem Porsche 911 waren einige Modelle mit ruhmreicher Rennvergangenheit am Start.
Klassische Gleichmässigkeits-Rallye
Die freitägliche Runde führte von Palermo in den Osten der Insel. Rund 350 Kilometer waren garniert mit 56 Zeitprüfungen. Am Samstag wurde die mittlere der "Madonie-Runden" – erweitert mit zusätzlichen Kilometern – gefahren.
50 Sonderprüfungen warteten auf die Teilnehmer. An beiden Tagen gab es zusätzlich – für Italien nicht üblich – Schnittprüfungen.
Wenig Rücksicht auf die Tradition
Mit viel Wissen um die Tradition der Targa Florio und einer entsprechend hohen Erwartungshaltung waren die Teilnehmer am Start. Enttäuscht wurden sie auf der ganzen Linie. Das Start-Areal mit Boxen-Anlage und Tribüne in Cerda wurde nur gerade einmal befahren.
Das dort trotz Corona zahlreich aufmarschierte Publikum konnte nur gerade einen kurzen Blick auf die vorbeifahrenden Oldtimer erhaschen.
Der originale "Kleine Madonie-Kurs" war nicht befahrbar. Es musste auf den mittleren Kurs ausgewichen werden.
Die Strasse, die von Caltavuturo nach Scillato führt, ist über eine Länge von mehreren Kilometern mitsamt allen Kunstbauten und Leitplanken ins Tal gerutscht. Anstatt sie zu reparieren, hat der Staat eine steil angelegte Notstrasse gebaut, die aber auch schon wieder stark beschädigt wurde.
Schlechter Strassenzustand
Der Strassenzustand des gesamten Parcours' der Targa Florio Storico wurde auch zum grossen Ärgernis der Teilnehmer. "Es ist unzumutbar, mit unseren Autos über solche Strassen zu fahren. Unebenheiten und riesige Schlaglöcher führten dazu, dass sich Autos über die Diagonale verbogen und ein Rad entweder in der Luft oder in einem tiefen Schlagloch steckte," ärgerte sich ein Teilnehmer.
Hinzu kamen grosse, organisatorische Unzulänglichkeiten. Dass der Veranstalter mit dem Ausschreiben der "Ferrari Tribute Targa Florio" versucht, seine Kasse aufzubessern, ist das Eine. Dass er aber die Oldtimer-Teilnehmer zu Statisten und Beigemüse deklassiert und auch so behandelt, ist das Andere.
Am Sonntagmittag wurde beispielsweise den pünktlich nach Programm angereisten Teilnehmern um 13:30 Uhr verkündet, dass jetzt zuerst noch die 88 Teams der Ferraristi am Essen seien und sie sich gefälligst bis um 15.00 Uhr gedulden müssten – ohne Getränke, ohne Sitzgelegenheit auf dem Areal der noblen Villa Airoldi in Palermo. Ein Teilnehmer meinte treffend, er sei nun zum dritten Mal hier gewesen: Zum ersten, einzigen und letzten Mal.
Ausser Spesen …
Das Fazit: Die Targa Florio ist keine (weite) Reise nach Sizilien wert. Dem ursprünglichen Rundkurs in der Madonie kommt zu wenig Aufmerksamkeit zu. Palermo mit seinem Dreck und Müll und dem grauenhaften Verkehrschaos als Start- und Zielpunkt zu wählen, ist vorsichtig ausgedrückt, suboptimal. Wenn die Targa Florio Storico eine Zukunft haben soll, müssen die Veranstalter gewaltig über die Bücher gehen und sich verbessern. Spätestens dann, wenn Ferrari aussteigen sollte, ist die Veranstaltung tot – mit nur etwas über 100 Oldtimern lassen sich die Kosten einer Rallye nicht einspielen.
Eines aber ist zumindest sicher: Im nächsten Jahr sind die Strassen wiederum ein Jahr älter und der Zustand entsprechend nochmals schlechter…
Ergebnisse
1. Moceri / Dicembre (It), Fiat 508C, 303.02 Punkte
2. Passanante / Moretti (It), Fiat 508C, 313.94
3. Accardo / Becchina (It), Fiat Ballila 508C, 362.94
4. Aliverti / Valente (It), BMW 328, 386.34
5. Sisti / Gualandi (IT), Lancia Aprilia, 626.09
6. Bisi / Cattivelli (It), Porsche 356 S90, 691.12
7. Diana / Bellante (It), Porsche 356S, 706.26
8. Magnoni / Vanoni (It), Porsche 356, 707.94
9. Mazzoleni / Gotti (It), Porsche Speedster, 712.92
10. Rossoni /Bernini (It), Fiat 1100, 776.55
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als großer Sizilien, vor allem aber Palermo und Targa Florio Begeisterter möchte ich kurz ein paar eigene Eindrücke beitragen.
1) Sizilien ist eine wunderbare Insel mit weit überwiegend Besuchern sehr freundlich und aufgeschlossen gegenüber tretenden Bewohnern. Sie eignet sich hervorragend für ausgedehnte Oldtimerreisen, es gibt unendlich viel zu sehen und zu entdecken. Die Strecken sind spektakulär. Allerdings sollte man auf den abgelegenen Routen nicht zimperlich sein und keine Neubauqualität der Straße erwarten. Das war damals, als die meisten unserer Autos gebaut worden sind, aber auch nicht anders. Sie sind es gewohnt, wir evt nicht (mehr) .
2) Palermo ist für meine Empfindung eine der lebendigsten , interessantesten und lebenswertesten Großstädte überhaupt. Ich kenne keine Stadt, in der krasse Gegensätze so selbstverständlich nebeneinander leben wie dort. Ich kenne allerdings auch nur Menschen, die Palermo lieben oder hassen. Ich gehöre zur ersten Gruppe . Ich gebe zu, man muss sich erst mal durch die Beton- und Müllberge der Vorstädte ins historische Innere vorkämpfen.
3) Targa Florio : Ich kenne die Targa Florio Storico nicht und kann daher zur Veranstaltung nichts sagen. Ich bin die Strecke schon mehrfach im Fiat 500 von 1973 abgefahren, einmal den Piccolo Circuito, einmal den Grande Circuito. Nächstes Jahr steht der Medio an. Ich gebe zu, die Strecke ist zumindest auf dem Piccolo Circuito in großen Teilen desaströs, aber mit einem geländegängigen Auto wie dem 500er , wenn man die Schilder, dass die Strecke gesperrt ist , ignoriert , relativ gut befahrbar. Mit einem Rennsportwagen der damaligen Zeit ist sie sicher nicht mehr befahrbar. Der Eindruck der Strecke ist aber faszinierend. Wenn man sich vorstellt, dass die Fahrer damals mit Autos die locker die 300 km/h geknackt haben über diese Straßen gefahren sind, bekomme ich zumindest eine Gänsehaut. Absolut empfehlenswert !!!!
Der Besuch der Museen in Termini Imerese und Cerda ist auch immer wieder ein Genuss, wenn man denn reinkommt. Reguläre Öffnungszeiten gibt es leider nicht .
Mag sein, dass die Targa Florio Storico ein Reinfall war, der Besuch Siziliens , Palermos und der alten Strecken ist ein unvergessliches Erlebnis.
viele Grüße
Ralph