Immer am ersten Sonntag im November startet bei Morgengrauen mitten in London der London to Brighton Veteran Car Run, der bekannt ist für seine einzigartige Atmosphäre.
Am 1. November 2015 ist es bereits das 119. Mal, dass sich insgesamt über 380 Pioniere mit ihren Fahrzeugen aus den Anfängen der Automobilgeschichte ihren Weg, über 60 Meilen (rund 100 Kilometer), durch die vernebelte Hauptstadt bis an die sonnige Sussex-Küste erkämpfen. Mit diesem Run machen sich nicht nur die Fahrer, sondern auch die sehr zahlreich erschienenen Zuschauer auf eine Reise über 110 Jahre zurück zu den Anfängen der Autofahrt.
Es ist noch recht früh am Morgen, die Metro-Stationen sind noch geschlossen, die Strasse wirkt noch wie ausgestorben und dichter Nebel lässt die Strassen mitten in London gespenstig wirken.
Dieses Bild ändert sich jedoch schlagartig beim Betreten des Hyde Parks. Bereits jetzt hat sich eine recht grosse Menschenmenge auf der Hauptstrasse quer durch den Park versammelt. Immer mehr Interessierte und Schaulustige strömen in die Strassen und viele Helfer sind bereits eifrig damit beschäftigt Absperrungen entlang des Strassenrandes aufzubauen. Immer wieder kann man hinter der Startlinie die ersten Silhouetten und Details von ein paar sehr aussergewöhnlichen Fahrzeugen erhaschen, die eigentlich mehr einer Kutsche als einem Automobil ähneln. Langsam beginnt die aufgehende Sonne durch den Nebel durchzudrücken - die Spannung steigt.
Jahrhundertalte Tradition
Dann ist es endlich so weit. Punkt 6.54 Uhr, bei Sonnenaufgang, zerreissen Robert Brookes, Alex Jones, Ken Bruce, Natalie Lowe und Chris Evans eine der traditionellen roten Fahnen und eröffnen damit den London to Brighton Veteran Car Run 2015. Mit diesem feierlichen Ritual wird an den "Emancipation Run" vom 14. November 1896 erinnert, der heute als der Ursprung des London to Brighton Runs gilt. Der Emancipation Run feierte das neue Gesetz “Locomotives on Highway”. Damals wurde die Geschwindigkeitsbegrenzung von 4 auf 14 Miles per Hour (ca. 20 km/h) erhöht. Ausserdem wurde damit auch die Vorschrift abgeschafft, dass dem Fahrzeug immer eine Person mit einer roten Warnflagge voranschreiten musste.
Von da an fand dann jeden November eine Fahrt auf der selben Route statt, mit Ausnahme der Kriegsjahre und dem Jahr 1947, in dem das Benzin rationiert war. Das Ziel des Runs ist einfach: Die rund 100 Kilometer entfernte Küste von Brighton zu erreichen und dies vor 16:30 Uhr. Was durchaus eine beeindruckende Leistung ist, wenn man bedenkt, dass die Automobile und Dreiräder, die am diesjährigen Run antraten alle aus der Pionierzeit des Automobils stammen. Zugelassen sind nämlich nur die Fahrzeuge mit den Baujahren 1905 und älter. Die jüngsten zugelassenen Fahrzeuge sind also im Jahr 2015 111-jährig und so kann während der Veranstaltung ein bewegendes Stück Geschichte bestaunt werden.
Technisches Know-How gefragt
Die zerrissene Fahne ist auch gleichzeitig der Startschuss zum Run und schon schiessen die ersten Fahrzeuge über die Startlinie, getragen von den Jubelrufen der Zuschauer, die sich an die Absperrungen drängen, um einen möglichst guten Blick auf die Fahrzeuge zu haben. Die unglaubliche Geschwindigkeit, die die Automobile gleich nach dem Start an den Tag legen, lässt viele Zuschauer für eine kurzen Moment vergessen, wie alt die Fahrzeuge eigentlich sind. Dies ändert sich jedoch schon sehr bald, als die Startnummer 1, der Truchutet von 1888 gleich ein paar Meter nach der Startlinie das erste Mal stehen bleibt und bald darauf in einer grossen Rauchwolke verschwindet.
Aufgeben will Daniel Ward, der Fahrer des wahrscheinlich ältesten Automobils das jemals an einem London to Brighton Run teilgenommen hat, deswegen aber noch lange nicht. So lässt er sich auch von der zweiten Panne auf der Kreuzung zur Mall nicht aufhalten und schafft es tatsächlich vor 16.30 nach Brighton. Natürlich ist der Truchuter nicht lange das einzige Fahrzeug, das mit technischen Problemen zu kämpfen hat. Doch dank des grossen Ethusiasmus der Fahrer und des beispiellosen Einsatzes der zahlreichen freiwilligen Helfer schaffen es insgesamt 342 Fahrzeuge vor Ablauf der Zeit über die Ziellinie, wo sie von strahlend schönem Wetter und vielen jubelnden Zuschauer empfangen werden.
Viel Prominenz
Mit seinem Fahrzeug zu kämpfen hat auch der renommierten Formel-1-Teamchef Ross Brawn. Er braucht alle seine technischen Fähigkeiten und mehrere Kabelbinder, um ein gebrochenes Schwungrad an seinem Wilson Pilcher von 1904 zu reparieren. Ins Ziel schafft aber auch er es und seine Begeisterung ist trotz allem nicht geringer. "Es ist so eine tolle Veranstaltung”, schwärmt er und ihm ist die Freude über das erreichte Ziel sichtlich anzusehen.
Neben Ross Brawn haben sich auch noch zwei weitere prominente Fahrer am Start aufgestellt. Mit dabei auf dieser abenteuerlichen Reise zurück ins letzte Jahrhundert ist der Pink Floyd Schlagzeuger Nick Mason und der mehrfache Le Mans-Sieger Jochen Mass. Beide sind unter den 342 Fahrzeugen, die das Ziel vor Ablauf der Zeit erreichten und sich somit eine der begehrten Finisher-Medaillen erkämpfen.
Strahlender Sieger aus dem Jahr 1903
Nach dem Verlassen des Hyde Park geht die Reise weiter durch die Mall. Vorbei am Buckingham Palast, der vorerst noch im dichten Nebel liegt. Weiter zum Big Ben und über die Westminster Bridge. Danach führt der Weg weiter nach Süden, wo sich der Nebel immer mehr auflöst.
So fahren die schnellsten Fahrzeuge bereits kurz nach 10.00 Uhr bei strahlendem Sonnenschein im Ziel ein. Allen voran der Holländer John Bentley, der die Ziellinie in seinem Berliet von 1903 als Allererster überquert und dementsprechend vom Publikum gefeiert wird.
Und auch sonst haben sich mehr als doppelt so viele Teilnehmer aus der ganzen Welt in London eingefunden als in früheren Jahren. Wobei dieses Jahr besonders viele Teilnehmer aus den USA ihre Fahrzeuge extra eingeflogen haben, um Teil des weltweit ältesten Motorsportevents zu werden und die Magie dieser prähistorischen Veranstaltung selbst mitzuerleben.
Denn für einige Momente steht der Verkehr in den Londoner-Strassen still, während die Zeit sich zurückzudrehen scheint. Die Strasse gehört ganz den Pionierfahrzeugen und so können die Zuschauer die Fahrzeuge selbst in der sonst sehr befahrenen Mall oder vor dem Buckingham Palace ganz ohne den modernen Verkehr geniessen, wenn man von den Fahrzeugen der Hlefer absieht. Es ist also nicht mehr schwer, sich in die Zeit zurückzuversetzen, in der dies alles begonnen hat.
Grosses soziales Engagement
Aber nicht nur bei den Fahrern und den vielen freiwilligen Helfern ist viel Kameradschaft und Hilfsbereitschaft zu spüren. Wie ganz London steht auch der London to Brighton Run ganz im Zeichen des Hilfsprogramm “Children in Need” und nicht nur die Fahrer zeigen ihre Solidarität. Während des gesamten Runs sammelt der BBC Radio Sender Geld für das Programm. Insgesamt kommen an diesem Tag über 330’000 Pfund zusammen.
Darüber freut sich BBC-Moderator Chris Evans sehr: “Das war ohne Zweifel die beste Auto-Erfahrung, die ich je gemacht habe. Ich hatte absolut keine Ahnung, dass dies ein derartig fantastisches Ereignis ist - so wunderbar, so wunderbar fröhlich. Es ist wie am London Marathon, so viele jubelnde Menschen auf dem ganzen Weg nach Brighton. Es war einfach ein unglaublicher Tag, der auf jeden Fall immer und immer wieder stattfinden sollte.”
Eine Ansicht der sich sicherlich alle Anwesenden, die diesen aussergewöhnlichen Anlass miterleben und mitfeiern dürfen, anschliessen werden, ganz egal ob Zuschauer oder Teilnehmer. Egal ob Oldtimer-Fan oder nicht, der Anlass schafft es bereits nach kürzester Zeit alle in seinen Bann zu ziehen und lässt alle Beteiligten für einen Augenblick alles um sich herum vergessen.
Der 120. London to Brighton Run findet in einem Jahr am 6. November 2016 statt und die Vorfreude auf das nächste Jahr ist bereits jetzt gross.