Das “Classic Car Auction Yearbook” gehört zu den Standardwerken für Oldtimersammler, -interessenten und -händlern. Es erscheint jedes Jahr im Oktober und fasst den zurückliegenden Zeitraum vom 1. September bis 31. August zusammen. Analysiert werden die grossen Versteigerungen und deren Ergebnisse.
Vom 1. September 2019 bis 31. August 2020 haben die Autoren Adolfo Orsi und Raffaele Gazzi 87 Auktionen unter die Lupe genommen und dabei 5066 Fahrzeuge dokumentiert. Im Jahr zuvor waren es 5467 Autos, ein Rückgang von knapp über sieben Prozent. Doch andere Abweichungen gegenüber dem Vorgängerbuch fallen wesentlich deutlicher ins Gewicht.
Ein ganze spezieller Zeitraum
Mit dem Zeitraum September bis August haben Orsi und Gazzi sozusagen Pech gehabt. Natürlich konnten sie die jahrelange Tradition deswegen nicht brechen. Die letzte Änderung am Zeitraum erfolgte in der Ausgabe 2012/2013, als man vom vorigen Periodenende Juli zu August schwenkte, um die Ergebnisse der Monterey-Versteigerungen auch noch mitaufnehmen zu können.
Typischerweise finden die Auktionshöhepunkte in einem normalen Jahr eben im Monat August statt, zusätzliche Höhenflüge werden teilweise noch gegen Jahresende, sowie an den Versteigerungen von Paris, Amelia Island und Scottsdale in den Monaten Januar bis März gefeiert. Doch im Jahr 2020 war natürlich alles anders!
Nicht nur war das Jahresende 2019 relativ schwach an Rekorden und besonderen Klassikern, wenn man einmal von der ungewöhnlichen Bonhams-Bonmont-Auktion im September 2019 absieht, kritischer war ab Februar/März 2020 das Jahrhundertereignis Covid-19, das sich auch im Auktionsgeschäft stark auswirkte.
Stillstand und Neustart während der Pandemie
Ab März 2020 ging fast gar nichts mehr. Wichtige Versteigerungen wurden abgesagt oder verschoben, so etwa die “Passion of a Lifetime”-Auktion von Gooding & Co, die als erste europäische Versteigerung des amerikanischen Auktionshauses anfangs April geplant gewesen war. Diese wurde zwar (mit bemerkenswertem Erfolg) im September 2020 nachgeholt, die Ergebnisse fanden aber nicht Einzug ins vorliegende Buch.
Während Live-Auktionen am laufenden Band abgesagt wurden, was sogar die wichtigen Pebble-Beach/Monterey-Versteigerungen betraf, orientierten sich die Auktionshäuser um und organisierten Online-Versteigerungen, die insgesamt überraschend gut funktionierten.
Trotzdem blieben gerade im Zeitraum 1. September 2019 bis 31. August 2020 echte Highlights auf der Strecke, was sich auch an den Gesamtzahlen der zwölf Monate ablesen lässt. Anstatt USD 931 Millionen wie im Jahr zuvor summierten sich die Auktionsumsätze auf nur noch USD 683, ein Rückgang um 27 Prozent. Den Höhepunkt erreichten die Umsätze übrigens im Zeitraum 2014/2015, als sie USD 1’229 Millionen erreichten, wie anschauliche Grafiken im Buch (auch in EUR und GBP) aufzeigen.
Gleichzeitig sank allerdings der Anteil der verkauften Autos im Verhältnis zum gesamten Angebot nur wenig, anstatt 72 Prozent im Vorjahr wurden 71 Prozent verkauft und dies obschon der “No Reserve”-Anteil von 30 Prozent auf 27 Prozent sank. Es wurde also mit weniger Risiko gearbeitet.
Junge Spitzenreiter
Im Jahrbuch analysieren Orsi und Gazzi wie jedes Jahr die am teuersten verkauften Autos, die zehn wertvollsten werden sogar auf jeweils mehreren Seiten porträtiert.
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses seit 1993 publizierten Werks, haben die Jungen die Oberhand gewonnen, will heissen sechs der zehn am teuersten zugeschlagenen Wagen stammten aus dem neuen Jahrtausend, waren zu diesem Zeitpunkt also noch nicht einmal Youngtimer sondern sogenannte Neoklassiker. Die Plätze 1, 3, 4, 6, 7 und 8 werden von zwar seltenen, aber doch sehr jungen Autos eingenommen. An die Spitze setzte sich der Lamborghini Veneno Roadster von 2014, den Bonhams in Bonmont versteigert. Platz 3 nahm ein Pagani Zonda Aether von 2017 ein, den RM/Sotheby’s verkaufte, der Platz 4 gehörte dem Formel-Ferrari F2002 von 2002, auf Platz 6 landete der Koenigsegg One:1 von 2015, wiederum von Bonhams in der Schweiz verkauft. Die Plätze 7 und 8 nahmen zwei weitere jugendliche Ferrari-Rennsportwagen ein.
Da blieb nicht mehr viel Platz für alte Autos. Umso beachtenswerter ist es daher, dass gleich zwei Vorkriegs-Bugatti des Typs 55 Roadster es in die Top Ten (Plätze 2 und 5) schafften. Und auch die übrigen beiden Wagen sind eher unerwartete Gäste in der Hitparade der teuersten Autos, es handelte sich nämlich um zwei Ford Mustang, die allerdings sicherlich zu den ganz besonderen Exemplaren gehören. So wurde der Mustang GT Fastback von 1968 auf Platz 10 von niemand anderem als Steve McQueen im Film Bullit gefahren.
Lesenswerte Analysen
Die ersten Seiten des Jahrbuchs gehören jeweils den Statements der Auktionshäuser und den Analysen von Orsi und Gazzi zum Gesamtmarkt. Hier werden auch in der neuen Ausgabe Markttrends analysiert und viele Daten gezeigt und interpretiert. So kann man etwa verfolgen, wie sich die “No Reserve”-Quote zwischen 2004 und 2020 von 9 auf 27 Prozent entwickelte. Oder wie der durchschnittliche Verkaufspreis von 34’000 USD im Jahr 1993 auf bis 322’000 USD im Jahr 2014 anstieg und sich seither wieder bis auf USD 188’000 hinunterbewegte im Zeitraum 2019/2020.
Erstmals taucht die Schweiz unter den wichtigsten Auktionsländern auf, Platz 4 noch vor Belgien oder Italien, zumindest was den Umsatz im Zeitraum 2019/2020 anging. An der Spitze ist natürlich die USA mit 57,61 Prozent des Marktes.
Ferrari führte die Rangliste wertmässig in USD an, gefolgt von Porsche, Mercedes-Benz und Ford.
Typisch für das Corona-Jahr dürfte wiederum sein, dass nach 161 Autos, die für über eine Million USD im Zeitraum 2018/2019 verkauft wurden, im Folgezeitraum nur noch 108 Wagen diese Hürde schafften.
Und spannend ist auch das durchschnittliche Baujahr der versteigerten Autos über die letzten 25+ Jahre. Es wächst mehr oder weniger stetig, im Schnitt bewegt sich das Durchschnittsalter aber überraschend konstant immer etwa bei 50 Jahren.
All diese Zahlen sind im ersten Teil des Buchs hergeleitet und erklärt, aber auch die Interpretationen und Meinungen der Auktionshäuser sind interessant zu lesen, so z.B. wie sie die Bedeutung von “Online” sehen.
Spannender Rückblick
Weil das aktuelle Jahrbuch das 25. einer langen Reihe ist, haben sich die Autoren etwas Besonderes ausgedacht und einen Rückblick auf die eigene Geschichte geliefert. Die Buchreihe begann ja bekanntlich mit dem “Catalogo Bolaffi” im Jahr 1995 und wandelte sich im Jahr 2008 zum Classic Car Auction Yearbook. In zwei Jahren wurden längere Perioden abgehandelt.
Als Rückblick sind nun im aktuellen Jahrbuch jeweils Doppelseiten pro untersuchten Zeitraum seit 1993 abgedruckt, die jeweils die Top-Ten im Bild und die Top-25 in Text-/Datenform zusammenfassen, samt ausgewählten Kommentaren von Auktionshäusern von damals und wichtigen Jahresstatistiken.
Dies ist eine tolle Zusammenstellung und man staunt, wie das Auktionsgeschehen sich in den letzten 25 Jahren verändert hat, nicht nur bezüglich Preisniveau, sondern auch bezüglich den am meisten geschätzten Klassikern.
Verzicht auf Chassis-Betrachtungen
Dem grossen Rückblick fiel ein Buchelement zum Opfer, das in vergangenen Jahren immer wieder für Aufmerksamkeit gesorgt hatte. Dank ihrer grossen Datenbasis verfolgten Orsi und Gazzi nämlich früher immer auch einzelne Chassisnummern über die Jahre und Jahrzehnte und zeigten Beispiele. Dies fehlt im aktuellen Buch.
Dafür sind die Marktentwicklungen wichtiger Klassiker auf sechs Seiten grafisch dargelegt. Und während viele Modelle (wie z.B. der Ferrari Daytona oder der Jaguar E-Type 3,8 Litre Roadster) die typische Kurve mit Anstiegen des durchschnittlichen Transaktionswerts bis etwa ins Jahr 2015 oder 2017 zeigen, gibt es interessante Ausnahmen wie etwa den McLaren F1, dessen Höhenflug noch nicht abgeschlossen zu sein scheint.
Immenser Datenteil
Den Hauptumfang im Buch 2019/2020 machen natürlich wiederum die Einzelergebnisse aus, die auf rund 280 Seiten ausgebreitet werden.
Zu jedem der 5066 Autos werden die wichtigsten Daten, die Verkaufspreise in USD, GBP und EUR, das Auktionshaus, das Versteigerungsdatum sowie die Schätzpreise in Landeswährung samt Notizen zum Fahrzeug gelistet, ergänzt um Bilder einzelner Fahrzeuge. Wie bisher verzichtet das Buch auf Höchstgebote bei nicht verkauften Fahrzeugen. Sortiert ist der Datenteil nach Marken und Typenbezeichnungen.
Abgeschlossen wird das Buch dann schliesslich noch mit den Top Five pro Marke zwischen 1993 und 2020 sowie den absoluten Top Twenty im Zeitraum 1993 bis 2020. Dass bei dieser letzten Hitparade Ferrari mit 12 Wagen führt, überrascht heute wohl kaum, vor 25 Jahren wäre es eher unwahrscheinlich gewesen. Erst auf Platz 4 taucht der erste Nicht-Ferrari auf, ein Mercedes-Benz W196R von 1954. Nur gerade drei Vorkriegsautos konnten sich in der Top-Twenty-Liste halten, im untersuchten Zeitraum 2019/2020 veränderte sich die Liste im Übrigen nicht, die letzten “Eindringlinge” stammen alle aus Verkäufen im Jahr 2018.
Wertvoll
Auch die neueste Ausgabe des “Classic Car Auction Yearbook” ist ein wertvolles Buch, das mit vielen Analysen und einer grossen Datenfülle ein guter Gradmesser für den Zustand des Oldtimerhandels (inklusive Youngtimer und Neoklassiker der gehobenen Preisklasse) darstellt. Während die Preise der Klassiker allerdings seit 2015/2016 stetig nach unten rutschen, wird das Jahrbuch jedes Jahr teurer. Mit EUR 80 / CHF 88 ist jedenfalls ein neuer Höchststand erreicht. Dafür kriegt man aber auch 416 Seiten mit Daten und Interpretationen sowie eine unbedingt lesenswerte Zusammenfassung der letzten 27 Jahre des Versteigerungswesens.
Bibliografische Angaben
- Titel: The Classic Car Auction Yearbook 2019 - 2020
- Autoren/Editors: Adolfo Orsi und Raffaele Gazzi
- Sprache: Englisch
- Verlag: Historica Selecta SRL
- Auflage: 1. Auflage Oktober 2020
- Format: Gebunden, 24,3 x 31,5 cm
- Umfang: 416 Seiten, 960 Farb- und Schwarzweissabbildungen, viele Grafiken
- Preis: EUR 80.00 / CHF 88.00
- ISBN: 978-88-96232-12-5
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