Niemand weiss, was die Zukunft bringt. Das hält aber Autodesigner seit jeher nicht davon ab, ihre persönliche Vorstellung des Automobils kommender Zeiten zu Papier zu bringen oder auf die Räder zu stellen. Die Herangehensweise war immer anders: mal betont windschnittig, mal radikal raumökonomisch, mal fast schon zwanghaft andersartig. Sicher war nur eins: Geschwindigkeit bedeutet Fortschritt. Der Sportwagen der Zukunft musste immer schneller werden.
Giorgio Giugiaro indes verfolgte mit dem Italdesign Aztec einen etwas anderen Ansatz: "Die Zeit der rasenden Sportwagen, denen außer Leistung nichts mehr blieb, sollte passé sein. Ich plädiere für ein Auto, das weniger stark, weniger schnell, weniger gefährlich ist, dafür aber eine dramatische Optik besitzt." Diesem Anspruch wurde er voll gerecht. Denn mit 250 PS konnte der Aztec schon 1988 keinen viertürigen Alpina oder AMG lange hinter sich halten. Dafür sieht er aber selbst 35 Jahre später noch nach einer glaubhaften Zukunftsvision aus.
Im Februar 1968 hatten der Formgestalter Giugiaro und der Ingenieur Aldo Mantovani im Turiner Vorort Moncalieri "Italdesign" gegründet. Trotz einer langen, erfolgreichen Zeit als Designchef bei Bertone und Ghia war in Giugiaro zunehmend der Wunsch nach Unabhängigkeit entstanden, den er sich mit seinem eigenen Büro schliesslich erfüllt hat. Zur Feier des zwanzigjährigen Bestehens präsentierte Italdesign auf dem Turiner Salon im April 1988 ein Trio von futuristischen Konzeptstudien: ein Coupé namens "Aspid", eine Grossraumlimousine namens "Asgard" und einen Roadster namens "Aztec".
Rechtsmittelmotor
Während Aspid und Asgard reine Präsentationsmodelle waren, präsentierte sich der Aztec als voll einsatzbereites Automobil. Mantovanis Techniker haben rund 35'000 Arbeitsstunden und drei Milliarden Lire (ca. 2'000'000 DM, 3'500'000 SFr) aufgewendet, um Giugiaros Zeichnungen von Projekt 780 zum Leben zu erwecken. Obwohl der Meister später von seiner Philosophie des vernünftig motorisierten Sportwagens gesprochen hat, war ursprünglich ein Antrieb vorgesehen, wie ihn sich die Designer von Hot Wheels nicht besser hätten ausdenken können. Geplant war, hinter dem Cockpit zwei V8-Motoren längs nebeneinander zu installieren und ihre äusseren Zylinderköpfe durch Aussparungen in den Karosserieflanken ins Freie ragen zu lassen.
Da sich dieses Unterfangen aber selbst für den einmaligen Bau in einem Konzeptfahrzeug als zu aufwendig erwies, griff Mantovani kurzerhand auf den Fünfzylinder des Audi 200 Turbo Quattro zurück und installierte ihn quer hinter dem Beifahrersitz. Um dem Sportsgeist des Konzepts wenigstens ein bisschen gerecht zu werden, steigerte Italdesign die Leistung des 2,2-Liter-Motors von 200 auf 250 PS bei 6200 Umdrehungen pro Minute. Als "Gegengewicht" auf der Fahrerseite wurde der Kraftstofftank installiert. Die Komponenten für den Allradantrieb stammten jedoch – ebenso wie das Fünfganggetriebe – nicht aus Ingolstadt, sondern vom Lancia Delta Integrale.
Die Automobil-Revue hatte im Juni 1988 die einmalige Gelegenheit, sich bei einer Probefahrt auf dem Autobahnring um Turin persönlich von den Qualitäten des Aztec zu überzeugen. "Hinsichtlich Beschleunigungskraft lässt der auf 190 kW bzw. 250 PS frisierte 2,2-Liter-Turbo-Fünfzylinder keine Wünsche offen. Im Nu sind 170 km/h erreicht, und die erwähnte Höchstgeschwindigkeit von gut 250 km/h ist durchaus glaubhaft. Eindrücklich ist aber vor allem auch die mit dem Aztec mögliche Kurvengeschwindigkeit: Ohne mit dem Lenkrad besondere Dosierkünste auszuüben, zieht der Fahrer den Wagen unter kräftig spürbarer Zentrifugalkraft rasant über die Autobahn-Ein- und -Ausfahrrampen."
"Bei höheren Tourenzahlen spricht der Turbomotor spontan an, er erweist sich aber als wenig geschmeidig. Daher greift man denn häufig zum Schalthebel. [...] Die Lenkung wirkt präzis, und sie ist sportlich direkt untersetzt, doch überträgt sie etliche vom Fahrbahnbelag verursachte Vibrationen."
Unfallgefährlich
Dass es während der Probefahrt dennoch zu zwei Auffahrunfällen im benachbarten Verkehr gekommen ist, lag nicht an der rüpelhaften Fahrweise des AR-Redaktors, sondern an der futuristischen Aluminiumkarosserie des Aztec, welche die anderen Verkehrsteilnehmer so in ihren Bann zog, dass sie das Führen des eigenen Autos darüber völlig vergessen haben.
Während die Frontpartie bis zur imaginären A-Säule noch nach einem seriennahen Sportwagen aussah, bewegte sich der hintere Teil irgendwo zwischen Kampfjet und Raumschiff. Fahrer und Beifahrer sassen zwar in einem gemeinsamen Cockpit, lugten aber durch zwei separate Kanzeln mit umlaufenden Plexiglasscheiben ins Freie. Zum Ein- und Aussteigen wird die Oberseite der Karosserie seitlich aufgeklappt, während die Seitenwände öffnen wie ganz normale Türen.
Grösster Star-Trek-Futurismus und gleichzeitig nicht mehr als eine technische Spielerei waren die vor den verkleideten Hinterrädern in die Karosserieflanke eingelassenen Bedienfelder, mit denen sich Informationen über das Fahrzeug abrufen oder bestimmte Funktionen ausführgen liessen. Gab man den jeweiligen dreistelligen Code ein, wurde etwa auf einem Display der Kühlmittelstand angezeigt, eine aussenliegende Zwölfvolt-Steckdose aktiviert oder der hydraulische Wagenheber ausgefahren. Damit der informationshungrige Aztec-Pilot zuvor nicht lange in der Betriebsanleitung stöbern muss, hat Giugiaro die Codes gleich nebenan auf die Karosserie geschrieben.
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Schönwetterauto
Im Innenraum setzte sich die prozessorgesteuerte Moderne fort. Ein Bildschirm in der Mittelkonsole diente entweder der elektronischen Wegfindung über Satellit, zur Funktionsüberwachung des Fahrzeugs oder zum Anzeigen des Abstands zum Vorderwagen inklusive gegenwärtigem Bremsweg. Alternativ konnte auch ganz profan die Wettervorhersage, die aktuelle Höhenlage oder der gegenwärtige Steigwinkel des Autos angezeigt werden. Die Frage, ob es regnen würde, war für die Aztec-Besatzung von grosser Wichtigkeit, denn über ein Verdeck oder gar Scheibenwischer verfügte der Roadster nicht.
Dafür aber über einen erstaunlich grossen Kofferraum von fast 300 Litern und einen überraschend hohen Fahrkomfort. Die Automobil-Revue sah im Aztec – "zumindest bei günstigen Witterungsverhältnissen" – sogar einen geeigneten Wagen für ermüdungsfreie Fernreisen. Dazu wird sicher auch beigetragen haben, dass der Motor sich akustisch zurückhielt und der Fahrtwind selbst bei 150 km/h nur milde ins Cockpit zog. Auf die installierte Gegensprechanlage hätten die Insassen jedenfalls gut verzichten können, ohne die Stimmbänder zu strapazieren.
Kleinserienbau
Die futuristische Barchetta beeindruckte nicht nur die AR-Redakteure, sondern auch die gestalterische Fachwelt. Bei der Wahl zum Car Design Award Torino/Piemonte 1989 musste sich der Italdesign Aztec in der Kategorie der Konzeptstudien nur dem Jaguar XJ 220 geschlagen geben. Sieger bei den Serienmodellen wurde der Fiat Tipo von Ercole Spada.
Während der Jaguar 1992 mit halber Zylinderzahl in Serie ging, war der Aztec trotz seines fortgeschrittenen Ausbaustadiums nie für den Serienbau vorgesehen. Das hinderte den japanischstämmigen Turiner Unternehmer Mario Miyakawa (Compact S.R.L.) freilich nicht daran, sich die Rechte an der Konstruktion zu sichern. Er liess den Aztec beim deutschen Audi-Tuner MTM zur Serienreife entwickeln (inklusive Scheibenwischern) und anschliessend von der Carrozzeria Savio in Turin bauen. Geplant war eine Auflage von 50 Exemplaren für den japanischen Markt. Erstaunlicherweise erhielt der Aztec sogar eine deutsche Typengenehmigung, sodass er auch in der Bundesrepublik angeboten werden konnte – für 500'000 Mark.
Vielleicht war es dem exorbitanten Preis geschuldet, dass sich nur 18 Käufer für den stets in "Space-Age Silver" lackierten Zweisitzer fanden. Vielleicht war aber an der zwei Jahre zuvor noch so radikalen Zukunftsstudie einfach die Zeit schon wieder vorübergegangen.
Der Italdesign Aztec mit Fahrgestellnummer 50020 wird am 25. November 2023 von Bonhams in Abu Dhabi versteigert.
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