Das Genre „historischer dokumentarischer Roman“ ist eine eher seltene Form im automobilen Bücherkanon. Doch was jetzt im Olms-Verlag als handliches Buch mit hochwertigem Hardcover und komfortabler Einhand-Bedienung erschienen ist, liest sich wie ein Krimi und rüttelt dabei an den Grundfesten der Bugatti-Historie. Der Autor kratzt heftig am “Larger-than-life”-Charakter des großen Ettore Bugatti, rückt vielmehr Sohn Jean ins Rampenlicht und stellt eine neue These zu den wahren Ursachen des tödlichen Unfalls seines 30-jährigen Sohnes am 11. August 1939 bei abendlichen Testfahrten auf einer abgesperrten Landstraße nahe Molsheim auf.
Spannend
Der Molsheim-Krimi liest sich wie ein Thriller – Ihr Rezensent hat die 180 Seiten in einem Zug an einem langen Abend regelrecht verschlungen. Der Autor ist keiner der einschlägigen Bugatti-Spezialisten wie Eckhart Schimpf oder Julius Kruta. Sondern war (bis 2017) Leiter der HNO-Klinik am Universitätsklinikum Regensburg. Der emeritierte Professor lebte zuvor 20 Jahre in Freiburg, wo er auch studierte. Zu jener Zeit war er Dauergast an allen wichtigen Bugatti-Hotspots im nahen Elsass, und grub sich dabei immer tiefer in die Bugatti-Annalen ein. Bei Besuchen im Schlumpf-Museum in Mühlhausen sei der Bugatti-Virus übergesprungen, bekennt Strutz.
Für ein Erstlingswerk stellt der Autor, abgesehen vom inflationären Einsatz von Ausrufezeichen ! , ein bemerkenswertes Talent für eine zugleich flüssige wie kundige Schreibe unter Beweis. Technikfans kommen ebenso auf ihre Kosten wie Freunde historischer Autorennen und Leser/innen, denen es eher um menschliche Dramen geht. Auf die Frage, wieviel Prozent des Inhalts auf real nachprüfbaren Fakten beruhe, antwortete Strutz „85 Prozent“. Der Rest seien Ausschmückungen (teils kulinarischer Art , die aber nichts an den Kernaussagen änderten. Vor allem an der zentralen: das der Unfall mit dem zuvor in Le Mans siegreichen 57 C Tank wohl eher nicht wie immer behauptet durch einen Radfahrer verursacht wurde, dem Jean B. bei über 200 km/h ausweichen musste.
Toxisches Spannungsverhältnis
Doch der Reihe nach. Die Hauptrolle in diesem Psycho-/Liebesdrama spielt, wie es der Titel ja andeutet, Jean Bugatti. Und sein Leben zwischen dem 5. Januar und 11. August des Jahres 1939. Er war Designer solch unsterblicher Modelle wie T41 Royale oder T57 Atlantic und seit dem Umzug seines Vaters Ettore nach Paris (1936 als Folge eines Generalstreiks in Frankreich) auch Leiter der Rennabteilung. Ettore wirkte und lebte ab dann fast ausschliesslich in der Pariser Avenue Montaigne 46, wo sich auch die Bugatti-Niederlassung befand Hier führte er ein überaus kreatives Entwicklungs- und Patent-Büro, das sich vornehmlich mit Konstruktionen von Flugzeugen, Schiffen und Motoren befasste. Einmal die Woche musste Jean nach Paris zum Rapport, von wo er zunehmend frustriert die Heimreise antrat. Ettore wiederum Molsheim besuchte sein früheres Reich nur sporadisch, und gern unangemeldet.
Wen wundert es, dass das emotionale Verhältnis zwischen Vater und sich ein Leben lang weitgehend auf der sachlichen Ebene abspielte; gefühlsbetonte Nähe ließ Ettore ungern zu. So nahm Jean Bugatti das Wort „Papa“ (fast) nie in den Mund. Stattdessen sprach er stets vom „Patron“. Das toxische Spannungsverhältnis zeigte sich auch im Arbeitsverhältnis. Dem älteren Bugatti fiel es offenbar sehr schwer, Erfolge seines Sohnes anzuerkennen, ja sie ihm zu gönnen. Mehrmals bremste er ihn aus, wenn es zum Beispiel um die Einführung neuer Technologien ging. Jürgen Strutz gibt dazu einige Beispiele zum Besten.
Als der 1931 zu Bugatti gestoßene italienische Konstrukteur Antonio Pichetto 1933 die Vorderachse des T 53 leicht modifiziert als Einzelradaufhängung in den neuen T 57-Prototypen einbaute – erstmals in der Bugatti-Geschichte für Straßenfahrzeuge – und on top neben hydraulischen Bremsen auch noch Duplexketten zum Antrieb der Nockenwellen installierte, lief Ettore Sturm. Er bestand auf der Starrachse und auf Seilzugbremsen – selbst seine tonnenschweren Eisenbahn-Triebwagen („Auto-Rail“) für die Schiene waren noch mit solchen ausgestattet!
Ein Affront gegenüber Pichettos Vorgesetztem Jean Bugatti, der sich in anderer Form auch auf der Rennstrecke fortsetzte. 1937, GP von Frankreich in Monthléry, als Sportwagen-Rennen, ausgetragen, weil die Franzosen gegen die deutschen Silberpfeile keine Chance mehr hatten.
Nach Bestzeit zurückgezogen
Jean Bugatti, noch beseelt vom erst zwei Wochen zuvor errungenen Sieg bei den 24 Stunden von Le Mans, und Pichetto brachten einen revolutionär neuen Rennwagen zum Training: Er hörte auf die Bezeichnung „T 57 S 45“, basierte auf dem superkurzen 260 cm Fahrgestell des T 59 Grand-Prix-Rennwagens, war superflach mit kleiner Stirnfläche und hatte einen bärenstarken 4,4-Liter-Motor, der selbst ohne Kompressor fast 400 PS leistete, unter der Haube.
Prompt fuhr Jean-Pierre Wimille Bestzeit. Als Ettore Bugatti in Paris Wind davon bekommen hatte, dass Wimilles Wagen verspätet an der Rennstrecke erschienen war, und der zweite Wagen für Robert Benoist sich erst auf der Anfahrt von Molsheim zur Rennstrecke befand, entschied er eigenmächtig, beide Rennwagen zurückzuziehen – ohne Rücksprache mit dem Rennleiter, seinem Sohn Jean und den beiden Piloten.
Nach diesem Affront verschwanden die „T 57 S 45“ sofort von der Bildfläche. Sie wurden nie wieder bei einem Rennen eingesetzt, vielmehr zurück in Molsheim vollständig demontiert und die Karosserien zerstört. Selbst die Konstruktions-Zeichnungen wurden vernichtet! „Niemand in Molsheim wagte, den Namen „T 57 S 45“ jemals wieder zu erwähnen“, so Strutz,
Auch für Technik-Fans
Abgesehen von diesen Familiendramen gibt es im Buch Inhalte, die auch Technik-Fans begeistern werden. Gut arbeitet Strutz zum Beispiel das Thema Aerodynamik auf – der 1939er-Siegerwagen von Le Mans war seinem Vorgänger von 1937 in dieser Hinsicht weit überlegen, auch dank des Einflusses des genialen belgischen Flugzeugingenieurs Louis de Monge, bekannt geworden durch das Rekordflugzeug Bugatti 100 P. Seine Philosophie, die dann auch in den neuen Le-Mans-Renner einfloss, lautete: Möglichst keinen Staudruck entstehen lassen, der eine bremsende Kraft erzeugt. Eine perfekte laminare Strömung der Karosserie erreichen. Gleichzeitig innerhalb des Wagenkörpers möglichst Unterdruck erzeugen, der die Wäre von Motor, Getriebe und Bremsen verlustfrei abtransportiert.
Der erneute Sieg von Bugatti in Le Mans hing lange am seidenen Faden, wie wir im Buch ausführlich nacherleben können. Denn im Training erlitt der Motor mit Wimille am Steuer einen Kolbenfresser. Es blieben nur noch 39 Stunden bis zum Rennen, man wollte schon einpacken. Doch dann setzten Jean Bugatti und Chefmechaniker Robert Aumaitre alle Hebel in Bewegung, um über Nacht aus Molsheim acht Kolben im Übermass 72,25 Millimeter samt eines vollständigen Satzes mit dazu passenden Kolbenringen zuerst nach Paris und dann per Auto nach Le Mans bringen zu lassen. Am Ende gelang der Coup in einer kleinen Werkstatt, in der die Schleifer zuvor noch nie etwas Grösseres als einen Vierzylinder aufgebohrt hatten.
Tragisches Ende
Nur zwei Monate später kommen das Buch und das Leben von Jean Bugatti zum tragischen Ende. Es ist der 11. August 1939, und der siegreiche „Tank“ von Le Mans soll noch, wie zum Desert, das Strandrennen von La Baule in der Bretagne bestreiten (es wurde dann wegen des Krieges abgesagt). Was ganz genau an diesem verhängnisvollen Abend und schon im Dunkeln geschah, wurde nie vollständig erklärt. Aber nach allem, was Strutz unter Berufung des einzigen Zeugen, Robert Aumaitre, recherchiert hat, dürfte die These des am Unfall schuldigen Radfahrers, der sich übrigens – vermutlich aufgrund der ihm zugeschriebenen Schuld drei Jahre später das Leben nahm – stark in Zweifel ziehen. Gründe genug für eine Verzweiflungstat hatte Jean Bugatti allemal: der im Grunde schon eingetretene Konkurs der Firma (der Versuch eines neuen, vom König Leopold II. unterstützten Neuanfangs in einem Werk von Minerva in Belgien scheiterte, weil Ettore Bugatti als Italiener zur „Feindespartei“ gehörte), die mangelnde Wertschätzung des Vaters und die Tatsache, dass sich seine Eltern gegen die Heirat mit der Pariser Tänzerin mexikanischen Ursprungs, Reva Reyes, sperrten.
Jean Bugatti hinterließ zwei Briefe, jeweils getrennt in einem blauen Kuvert mit der Aufschrift: „Nicht öffnen!“„Nur für den Fall, dass mir etwas zustösst!“ Der erste Brief war an seine Eltern Ettore und Barbara Bugatti gerichtet. Der zweite beinhaltete eine Zusammenstellung von Lebensversicherungs-Policen. In seinem Tagebuch fand sich für den 11. August nur ein kleines Kreuz.
Die Sache mit dem Fahrrad
Was genau passiert sein könnte, schildert Strutz so: Josef Metz, Praktikant im Telegrafenamt des nahen Flughafens Entzheim, war auf dem Rückweg von der Spätschicht. Er wurde von Roland Bugatti in Duttlenheim gestoppt, bevor er die schnurgerade und rund drei Kilometer lange Teststrecke (Teil des Kurses des GP Frankreich von 1922!) erreichen konnte. Roland bat um Verständnis, die Straße nicht zu benutzen; Metz akzeptierte die Verzögerung und blieb stehen. Als sich aber die Testfahrten immer mehr in die Länge zogen, spürte er kurz vor Mitternacht wohl das Bedürfnis nach Hause zu kommen. So schob er sein Fahrrad ganz auf dem Randstreifen in Richtung Dorlisheim. Blieb nach gut einem Kilometer stehen, als er das Brüllen des heranrasenden T 57 C „Tank“ hörte. Als ihn der Bugatti passierte , riss die Druckwelle Metz mitsamt seines Fahrrads in den Straßengraben. Dabei brach er sich beim Sturz zwei Finger.
Die These vom Radfahrer – in manchen Quellen wird er sogar als betrunken bezeichnet – wird wohl – so mutmaßt Strutz – der das Wort „Suizid“ aber vermeidet – nur konstruiert worden sein. Auf You Tube gibt es Interview mit Robert Aumaitre („La mort de Jean Bugatti Robert Aumaitre). Darin erwähnt er keinen Fahrradfahrer und bewegt sich damit außerhalb der offiziellen Version der Bugatti-Familie. Als einziger Augenzeuge hat er alle Vorkommnisse dieser fatalen Testfahrt akribisch dokumentiert und ausführlich in „BUGATTI MAGNUM, 1989“ publiziert. Aus diesem Bericht geht hervor, dass der T 57 C „Tank“ erst 200 Meter nach Passieren von Aumaitre von der Fahrbahn abkam und mit den Chaussee-Bäumen kollidierte. Eine weitere Person war an diesem Ereignis nicht beteiligt. Ein Fremdverschulden ist damit auszuschließen.
Die Bugatti-Familie könnte, so resümiert Strutz, Josef Metz die Schuld am Tod des Sohnes gegeben haben, um die Auszahlung der Versicherungspolicen nicht zu gefährden. Ja, so könnte der Molsheim-Krimi geendet haben.
Fazit
Ein von Anfang bis Ende lesenswerter historisch-dokumentarischer Roman mit deutlich zu vielen Ausrufezeichen, die wohl dem Enthusiasmus des Autos geschuldet sind. Die wenigen Bilder, alle aus dem Archiv des Bugatti Trust, zeigen neben wichtigen Personen die schönsten Serien- und Rennwagen aus der Jean-Bugatti-Ära .- darunter auch den nie mehr aufgetauchten „T 57 S 45“.
Bibliografische Angaben
- Titel: Jean Bugatti 1939
- Autor: Jürgen Strutz
- Sprache: Deutsch
- Verlag: Olms, Hildesheim
- Auflage: 1. Auflage, 2022
- Format: Gebunden, 15,5 x 22,5 cm
- Umfang: 180 Seiten, 34 Bilder (schwarz-weiss)
- ISBN: 978-3487086521
- Preis: EUR 24,80
- Bestellen/anschauen: Online auf amazon.de oder im einschlägigen Buchhandel
Information
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zwei Briefe. Diese werden aber nicht als existierende Dokumente ausgewiesen, und da das
Buch auch sonst Fiktion und Fakten nicht nachvollziehbar auseinanderhalten lässt, ist die
entscheidende Frage: Gibt es diese Briefe wirklich? Und wenn ja- weshalb sind sie nicht
reproduziert, wenigstens im Anhang? Wenn sie aber nicht existieren, ist dies eine unzulässige
Fiktion.