Biografien aus der Frühzeit der Automobilkonstruktion sind eher selten. Die Recherche gestaltet sich schwierig, die Materie ist komplex, die Resonanz eher gering. Wenn dann eine Biografie erscheint, ist sie in der Regel – weil aus Idealismus entstanden – hoch spannend damit auch unbedingt lesenswert. Soeben ist Paul Daimlers Biografie erschienen, warum Sie sie nicht ungelesen lassen sein sollten, erfahren Sie in unserer Buchbesprechung.
Am Anfang war alles noch anders
In der Anfangszeit des Automobils gibt es noch viel zu entdecken. Als die Grundkonstruktion einmal auf den selbstbetriebenen Rädern stand, wandelte sich nicht nur das Geschehen auf den Strassen, sondern auch das Automobil selbst war ein ständiger Verbesserungsprozess. Dahinter steckten nicht nur Carl Benz und Gottlieb Daimler oder Wilhelm Maybach.
Schnell bildet sich in Deutschland eine zweite Generation von Konstrukteuren heraus, die dem Automobil mit neuen Ideen zum Durchbruch verhalfen. Einerseits waren das jüngere Nachwuchsingenieure wie beispielsweise August Horch, der bei Benz als Betriebsleiter anfing und sich nach wenigen Jahren selbständig machte, um seine Ideen an seinen Autos umzusetzen. Andererseits gab es auch den Nachwuchs: Die Söhne von Maybach oder Daimler, die sich dem Konstruieren von Automobilen verschrieben.
272 Seiten Automobilanfang
Die Initiative zur Biografie von Paul Daimler geht auf den Sammler Klaus Schildbach zurück, dessen „besondere Liebe für Autos mit dem Stern“ sich in seiner privaten Sammlung niederschlägt. Ein seltener Mercedes SSK von 1929, mit dem Schildbach auch an Rennen teilnimmt, bildete den Auftakt seiner Sammlung. Er „will die Technik nicht nur fahren, sondern auch technisch von A bis Z durchdringen“, dafür nimmt er die Fertigung rarer Ersatzteile zum Teil selbst in die Hand und entwickelt dabei einen hohen Perfektionsanspruch.
Der SSK war der erste Wagen seiner Sammlung, es folgte ein Mercedes 10/35 Kompressor von 1922. Diesen Wagen hatte Paul Daimler – ältester Sohn Gottlieb Daimlers, also dem Mann, der 1890 die Daimler Motoren Gesellschaft (DMG) gegründet hatte – für Daimler entwickelt.
2009 wurde Schildbach der Nachlass von Paul Daimler angeboten, er griff zu. Bei der Beschäftigung mit dem Konvolut, keimte der Wunsch auf, „Leben und Werk dieses Mannes biografisch aufzuarbeiten“. Mit Dr. Harry Niemann, dem ehemaligen Leiter der Archive und Sammlung der Daimler AG, fand er einen kompetenten Autor. Dieser hat bereits mit den Biografien zu Wilhelm Maybach und dessen Sohn Karl, sowie Gottlieb Daimler Grundlagenarbeit zur automobilen Frühgeschichte beigetragen.
In des Vaters Fussstapfen
Paul Daimler wurde als erstes von fünf Kindern von Gottlieb Daimler 1869 in Karlsruhe geboren. Er konnte somit also schon als Jugendlicher die Anfänge des Automobils miterleben. Paul Daimler fuhr bereits 1885 auf einem vom Vater konstruierten Motorrad durch die nachbarschaftlichen Weinberge und stellte mit diesem 1888 eine von ihm konstruierte Strassenbahn in Palermo vor. Nach dem Studium arbeitete er zunächst im Betrieb des Vaters, um 1902 für fünf Jahre als Technischer Leiter bei der Oesterreichischen Daimler-Motoren-Commanditgesellschaft (Austro Daimler) in Wiener Neustadt zu arbeiten und anschliessend ab 1907 fünfzehn Jahre Technischer Leiter der DMG zu werden.
Dort setzte er sich durch seine Fahrzeug- und Motorenkonstruktionen selbst ein Denkmal: Zwischen 1907 und 1914 entwickelte er 16 verschiedene Motorentypen, darunter seine besonders bedeutsamen Kompressormotoren. Scheinbar ein Konstrukteursleben par excellence.
Der Bruch
Aufgrund von Unstimmigkeiten mit seinen Vorstandskollegen bei der DMG wechselte Paul Daimler 1923 zu den Argus Werken nach Berlin. Von nun an konstruierte Paul Daimler Flugmotoren für Argus und die Triebwerke für Horch, denn der Besitzer Moritz Straus war auch Hauptaktionär der Horchwerke. Es würde zu weit führen, in dieser Buchbesprechung dezidiert auf die Laufbahn von Paul Daimler einzugehen, trotzdem sollen neben den oben angesprochenen Wegmarken zwei Entwicklungen herausgehoben werden.
Erstens: Die Kompressorentwicklung nach dem 1. Weltkrieg bei den Daimler Automobilen. Sie geht auf die Flugmotorenentwicklung während des voran gegangenen Krieges zurück. Die Aufladung sorgte für die nötige Leistungssteigerung, auf die dann auch bei den Automobilen bei Daimler zurück gegriffen wurde. Eine Technik, die sich dann bei Daimler-Benz etablierte und bis in die Kompressor-Ära der Silberpfeile der 30er Jahre fort bestand. Schon die SSK-Modelle setzten dem Kompressor in der Mercedesgeschichte ein Denkmal. Paul Daimler war da allerdings bereits ausgeschieden.
Das Zerwürfnis mit der DMG und Daimler konnte auch ein attraktives Wiedergutmachungsangebot nicht zu schütten. Er heuerte stattdessen bei Argus an, um Flugmotoren und mehr noch bei Horch die Konstruktion von hochwertigen Fahrzeugen voranzutreiben.
Zweitens konnte er gerade bei den Sachsen einen Image-Schub hervorrufen. Hier entwickelte er den ersten deutschen Achtzylindermotor für die Zwickauer, der sie zu Konkurrenten von Mercedes-Benz machte. Horch 8 wurde ein Markenzeichen, mit denen sich das Unternehmen in der Luxusklasse mit einem ausgezeichneten Ruf etablierte und in den 30er Jahren beim Absatz über 4 Liter Hubraum auf Marktanteile kam, die alle Wettbewerber, inklusive Mercedes-Benz, in Deutschland nicht zustande brachten. Auf dem Höhepunkt dieser Erfolgsgeschichte war Paul Daimler aber bereits bei Horch wieder ausgeschieden. Mit 60 Jahren zog er sich etwas resigniert ins Private zurück. Damit war seine Karriere aber noch nicht beendet, es lohnt sich hier im Buch weiter zu lesen.
Aufwändige Recherche
Die Fülle dieses Buches deutet auf eine aufwändige Recherche der Quellenlage hin, die durch eine umfassende Bildauswahl unterstützt wird. Dabei kommt eine lesenswerte Biografie heraus, die modern gestaltet, auch aufgrund der Bildauswahl und Bildfülle ein spannendes Dokument ergibt. Hier geht es nicht um das reine Konstrukteursleben, auch die private Seite wird beleuchtet. Ob Hochzeit oder Familienverständnis, ob Mobbing oder Rückzug ins Private, im Mittelpunkt steht der Mensch Paul Daimler, dem es zu seiner Zeit gelang aus dem Schatten seines Vaters herauszutreten, der aber als Vertreter der zweiten Generation früher Automobilkonstrukteure drohte, in Vergessenheit zu geraten.
Mit dieser Biografie erleben wir hier einen tiefen Einblick in ein spannendes Kapitel Technik- und Automobilgeschichte, in dessen Mittelpunkt Paul Daimler, der erste Sohn Gottlieb Daimlers steht. Vieles in diesem Buch ist aus anderen Zusammenhängen bekannt, allerdings fehlt dann der Bezug zum Akteur. Von der Daimler Motoren Gesellschaft, für die er 25 Jahre tätig war und bei der er die Kompressortechnologie einführte bis zur Argus-Motoren-Gesellschaft nach Berlin, um dort den Horch 8 zu konstruieren: Deutschlands ersten Achtzylinderwagen. Hier kann der Meister vielfältiger Konstruktionen sowohl beruflich als auch privat nochmals in Rampenlicht treten.
Der Einblick in diese Zeit der zweiten Konstrukteuersgeneration ist angesichts des vorliegenden Werks sein Geld allemal wert.
Bibliografische Angaben
- Titel: Paul Daimer – König des Kompresors
- Autor: Dr. Harry Niemann
- Verlag: Motor Buch
- Auflage: 1. Auflage 2020
- Format: 230 x 265 mm, gebunden
- Umfang: 272 Seiten, über 350 Abbildungen sowie zahlreiche Tabellen, umfangreicher Anhang und Index
- ISBN: 978-3-613-04267-4
- Preis: EUR 49,90
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