Am 29. Mai 1994 gewann Al Unser jr. auf Penske PC23 mit einem Motor von Ilmor das 500-Meilen-Rennen von Indianapolis. Das war eigentlich keine Sensation. Für Unser jr. war es der zweite Sieg in diesem Rennen, für die Unser-Familie der neunte, für das Penske-Team insgesamt der zehnte und für Ilmor der siebte. Alles alte Hasen, könnte man sagen und hinter diese Meldung einen Haken machen. Wäre da nicht der Motor.
Angetrieben wurde der Penske von einem Mercedes-Benz 500I Stossstangen-Motor mit 3,4 Liter V-8 und nicht vom äusserst erfolgreichen Ilmor-Chevrolet 265 („Chevrolet Indy V-8“), der schon die Entwicklungsstufen A-C durchlaufen hatte.
Nicht ganz ein Jahr Vorbereitungszeit
Der Startschuss zum Mercedes-Benz 500I, der bei Ilmor als 265E lief, wurde im Juni 1993 gegeben. Es war Mario Illien, der dem neben Paul Morgan dritten Partner bei Ilmor, dem Geschäftsmann und Rennstallbesitzer Roger Penske, anlässlich einer Sitzung den Vorschlag machte, das Indy 500 1994 mit einem speziell konstruierten Stossstangen-Motor zu bestreiten. Illien war davon überzeugt, dass ein solcher Motor rund 900-940 PS leisten würde und damit deutlich mehr als das Standard-Aggregat für die Indy Series, das knapp weniger als 800 PS brachte. Zudem sagte er zu, dass der neue Motor in den Penske PC23/94, der für den Ilmor-Chevy ausgelegt war, passen würde. Im Vorwort zu diesem Buch sagte Mario Illien, es sei die Chance des Lebens gewesen.
Reglementsnische
Hintergrund waren die speziellen Regelungen, die für das Indianapolis 500 galten. Der USAC (United States Auto Club) war bestrebt, über sogenannte Äquivalenzregeln verschiedenen Motorenkonzepten eine Chance zu geben. Die Episode mit den Turbinen-Autos in der zweiten Hälfte der 60er Jahre gehörte dazu.
In den 80er und 90er Jahren setzte er auf die grossen Automobilhersteller und bot an, dass man mit einem Stossstangen-Motor mit Serienblock mit mehr Hubraum und höherem Ladedruck fahren konnte. Das führte zu einem Anlauf mit Motoren von Buick, die zwar Potential zeigten, aber nicht erfolgreich waren. Ursache war der Block, der den Anforderungen an einen Rennmotor nicht gewachsen war. GM versuchte deshalb die Verantwortlichen beim USAC zu überzeugen, das Wort „stock“ im Begriff „stock block“, also Serien(motor)block, zu streichen. Sie hatten damit 1993 Erfolg.
Allerdings entschieden die GM-Oberen gleich danach, sich aus dem Geschäft mit den Indy-Motoren, inklusive der Unterstützung von Ilmor, zurückzuziehen.
Roger Penske sagte noch in der gleichen Sitzung per Handschlag zu und Mario Illien, Paul Morgan und die ganze Ilmor-Crew machten sich gleich an die Arbeit, wobei Ilmor parallel noch den 265D für die PPG Indy Car World Series und den 2175A für die Formel 1-Weltmeisterschaft für die kommende Saison 1994 (weiter) zu entwickeln hatte.
Viele Lernschritte
Neben der technischen Herausforderung, Ilmor hatte noch nie einen Stossstangen-Motor gebaut, gab es zwei wichtige Nebenbedingungen: Erstens musste der Motor vom ersten Strich bis zum Renntag in knapp 11 Monaten fertiggestellt werden.
Zweitens musste das Projekt unter strikter Geheimhaltung abgewickelt werden, um die Hüter der Reglemente nicht aufzuwecken. Sie hatten nämlich das Recht, den zulässigen Ladedruck für die verschiedenen Motorentypen jederzeit anzupassen.
Ein Jahr Entwicklungszeit im Zeitraffer als Lektüre
Hier setzt die Geschichte von Jade Gurss ein. In seinem Buch verfolgt er (fast) tagesgenau die Entwicklung des 265E vom Go bis zur Pokalübergabe am späteren Nachmittag des Renntags. Dabei hatte er Zugang zu allen Schlüsselpersonen, mit Ausnahme von Paul Morgan, der 2001 leider tödlich verunglückte.
Die Meilensteine des Projekts können so zusammengefasst werden:
- Juni 1993: Go
- 19. Juli 1993: Start Konstruktion aufgrund der Vorgaben durch Mario Illien
- 20. Januar 1994: Erster Motor auf dem Prüfstand (fire-up)
- 20. Februar 1994: Erster Probelauf im Penske PC23
- 07. Mai 1994: Beginn Countdown Indy 500
- 29. Mai 1994: Sieg von Al Unser jr.
Gurss verzichtet in seinem Buch auf Tabellen. Alle Zahlen, Daten und Fakten werden im Erzählstil präsentiert.
Ein kurzer Vergleich der wichtigsten Daten der beiden Motoren mag hier helfen. Sie zeigt, dass der 265E im Vergleich zum „normalen“ 265 in der Version C von 1993 die versprochene Leistung deutlich überstieg. Vor allem das Drehmoment stieg von ca. 500 auf ca. 750 Nm, d.h. ca. um 50 Prozent. Dagegen lagen die zugehörigen Drehzahlen deutlich tiefer. Es waren diese Daten, die Emerson Fittipaldi dazu bewogen, den Motor „Beast“ zu taufen.
Typ | 265C | 265E |
---|---|---|
Basis | Chevrolet Indy V-8 | Mercedes-Benz 500I |
Jahr | 1993 | 1994 |
Motorauslegung | V-8 (80°) | V-8 (72°) |
Bohrung x Hub | 88 x 54,5 mm | 97 x 58 mm |
Ventilsteuerung | 4 Ventile pro Zylinder gesteuert über 4 obenliegende Nockenwellen (2x2) | 2 Ventile pro Zylinder gesteuert über Stossstangen von einer Nockenwelle |
Hubraum | 2‘647 cm3 (161.5 cu in) | 3‘429 cm3 (209.2 cu in) |
Max. zulässiger Hubraum | 2‘650 cm3 (161.7 cu in) | 3‘430 cm3 (209.3 cu in) |
Max. erlaubter Ladedruck | 45 inHG / 1,52 bar | 55 inHG / 1,86 bar |
Leistung | 570 KW (775 PS) | 764 KW (1‘038 PS) |
(bei Drehzahl) | bei 13‘250 Umdrehungen | bei 9‘800 Umdrehungen |
Drehmoment | 495 Nm | 755 Nm |
(bei Drehzahl) | bei 9‘000 Umdrehungen | bei 8‘000 Umdrehungen |
Maximale Drehzahl | 13‘400 | 10‘500 |
Gewicht | 133 kg. | 123 kg. |
Quelle: Ludvigsen, Prime Movers, 1995, Umrechnungen des Autoren
Entwicklungsprozess im Detail
Im Kern von Gurss Geschichte steht der Entwicklungsprozess mit allen seinen Schlaufen, zumal der Motor am Anfang nicht die erwarteten Werte lieferte. Dazu kommt besonders die Entwicklung des Ventiltriebs und die Herausforderungen durch die Leistung, das Drehmoment und die ungewohnten Drehzahlen, sowohl für die Konstrukteure, Renningenieure als auch die Fahrer (Al Unser jr., Emerson Fittipaldi und Paul Tracy). Dabei greift er nach links und rechts aus, geht tief in die Geschichte und stellt die Zusammenhänge her. Auch die einzelnen Personen und Charaktere werden vorgestellt.
Eine Auswahl von Themen sind: die Auslegung des Ventiltriebs, die Jeffrey Williams, ein Professor für Maschinenbau und Berater von Ilmor, besorgte und dabei mit Mario Illien auf Konfrontation ging; das hohe Drehmoment sorgte dafür, dass sich die Reifen auf den Felgen drehten (eigentlich war es umgekehrt); die Sorgen der Fahrer auf Testfahrten bei Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt; da GM als Sponsor für 1994 nicht mehr zur Verfügung stand, musste ein neuer her und er wurde in Mercedes-Benz gefunden; die Diskussionen um den sich anbahnenden Austritt der Indy Racing League aus der PPG IndyCar World Series ab 1996; etc., etc.
Ein Lesebuch mit wenig Bildern
Das Buch ist nicht so reich bebildert, wie man das heute gewöhnt ist. Es ist ein Lesebuch ergänzt mit ganzen 40 Bildern und Zeichnungen.
Dafür sind viele von toller Qualität und geben einen Eindruck in die Arbeitswelt in den 90er Jahren, wo Rennmotoren noch am Zeichenbrett entwickelt wurden. Die Zeichnungen zeigen die Motoranordnung, den Ventiltrieb und das Getriebe in 2D- und 3D-Ansichten. Dazu kommen die beiden Schnittzeichungen von Tony Matthews vom 265E und dem Penske PC23-Mercedes.
Von einem Kenner der Materie
Jade Gurss ist ein erfahrener PR-Mann, der im amerikanischen Automobilsport tief verankert ist. Er arbeitete unter anderem für Ilmor, Anhäuser-Bush in NASCAR, Michael Andretti. Beast ist sein viertes Buch. Vorher schrieb er zwei über Dale Earnhardt jr. und eines über Darrell Waltrip, beides NASCAR-Stars. Sein Stil ist entsprechend flüssig und das Buch auch für weniger Englisch-Geübte trotz Einsprengseln von Slang in den Zitaten (immer in direkter Rede) gut lesbar.
Nicht nur für Rennsport-Fans
Es gibt viele Gründe, sich dieses Buch vorzunehmen. Sicher ist es einmal eine tolle Geschichte aus dem Rennsport, die man als Fan kennen sollte. Aus Schweizer Sicht kommt der Faktor Mario Illien dazu. Dazu zählt auch die Tatsache, dass er für den Bildungsweg über Berufslehre und Fachhochschule (Berner Fachhochschule Technik und Informatik in Biel, damals noch Technikum Biel oder auf Amerikanisch: Biel University Engineering School) ein erstklassiges Zeugnis ablegt.
Ein zweiter Punkt ist Projektmanagement. Mario Illien (als Chef Technik) und Paul Morgan (als Chef Operations) haben offensichtlich eine sehr gute Hand bei der Auswahl der Leute bewiesen und an deren Verantwortungsbewusstsein appelliert und auf deren Können gebaut, wobei beide (und vor allem Paul Morgan) ihre Rolle als Vorbilder und Treiber hervorragend gespielt haben müssen. Das wird im Buch immer und immer wieder bezeugt.
Wer aber zwischen den Zeilen liest, wird erkennen, dass auch bei Ilmor trotz einem hohen Mass an informellen Prozessen, ein System etabliert war und mit (den uns allen oftmals verhassten) Reports und Check-Listen gearbeitet wurde. (Das war auch nötig, wenn man bedenkt, dass die Entwicklung und Herstellung der Motoren in England und der Einsatz in den USA vonstatten gingen). Meilensteine waren sakrosankt. Dabei haben die Chefs durchaus interveniert, wenn sie das für notwendig befunden haben. Sie gingen wie selbstverständlich davon aus, dass der Tag 24 Stunden hatte und im Notfall in der Nacht noch nachgeholt werden konnte, was in dieser Zeit nicht zu schaffen war. Trotz dem euphorischen Grundton weist Gurss auch auf das Thema physische und mentale Erschöpfung hin.
Kurz und bündig
Die Geschichte des Motors endete nach dem Sieg schnell und sehr amerikanisch. Für das Indy 500 1995 wurde der zulässige Ladedruck für Stossstangen-Motoren von der USAC auf 48 inHG (1,63 bar) gesenkt und damit dem Motor die Konkurrenzfähigkeit genommen. Er blieb ein One-Race-Wonder.
Bibliografische Angaben
- Titel: Beast – The top secret Ilmor-Penske engine that shocked the racing world at the Indy 500
- Autor: Jade Gurss
- Sprache: Englisch
- Verlag: Octane Press
- Auflage: 1. Auflage 2014
- Umfang/Format: 304 Seiten, 40 Fotos und Zeichnungen, Format 15,2 x 22,8 cm, gebunden
- ISBN-10: 1937747336
- ISBN-13: 978-1937747336
- Preis: ca. 23.00 Euro (Kindle-eBook-Ausgabe Euro 7.55)
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