1949 kündigt die FIA für 1950 die Austragung einer ersten Automobil Weltmeisterschaft, der späteren Formel 1 an. Gleichzeitig dazu wurde auch das Regelwerk der Formel 2 für eine jeweils kleinere Hubraumklasse (500ccm aufgeladen/4500ccm Sauger) ausgeschrieben.
Auf diesem F2-Reglement entsteht hinter dem Eisernen Vorhang ein Rennwagen, eine völlige Neukonstruktion, während im übrigen Europa noch das vorhandene Material in irgend einer Weise aufgearbeitet wird. Den Spuren dieser Neukonstruktion folgt das Buch "Typ 650".
Die goldene Ära des Grand Prix sports war vorüber
Der Beginn des 2. Weltkriegs hatte sie jäh unterbrochen, die goldene Ära des Grand Prix Sports, geprägt durch die fast übermächtige Konkurrenz von Mercedes-Benz und der Auto Union. Wer hätte damit gerechnet, dass nur vier Monate nach Ende des 2. Weltkriegs am 9. September 1945 im Bois de Boulogne in Paris ein Automobilrennen gestartet werden soll? Auftakt für eine sich neu formierende Rennszene nach den Wirren des Krieges.
Bereits 1946 finden mehrere Veranstaltungen statt. Benzin war schwer zu organisieren und aus Kostengründen wurde in Städten oder Parks gefahren, damit die zahlenden Zuschauer auch die Strecke erreichen konnten. Auf den Pisten tummeln sich die Vorkriegskonstruktionen in einigen international ausgetragenen Grand Prix. Maserati, Delahaye, Talbot, Bugatti und besonders Alfa Rome, die irgendwo versteckt den Krieg überlebt hatten, bildeten die Starterfelder einer bunt zusammen gewürfelten Rennszene. Bereits 1947 zeichnet sich ein erstes Reglement ab und skizziert die 1949 ausgeschriebene Formel 1 und die darunter liegende Formel 2.
Unbekannt oder fast vergessen und doch irgendwie immer da gewesen.
Im selben Jahr der Ankündigung neuer Rennformeln erteilt die sowjetische Besatzungsmacht der ehemaligen Auto Union Entwicklungsabteilung in Chemnitz den Auftrag einen Rennwagen nach dieser Formel 2 zu entwickeln und zu bauen. Die unglaubliche Geschichte dieses Rennwagen erzählt uns Prof. Peter Kirchberg (Bild rechts), ausgewiesener Kenner der Auto Union Geschichte, Autor diverser Standardwerke zu diesem Thema als auch des Automobilbaus im Osten Deutschlands vor und nach dem 2. Weltkrieg in seinem Buch "Typ 650".
In Chemnitz, Sitz der alten Auto Union AG, verfügte das Unternehmen über eine Entwicklungsabteilung, die die Russen sofort nach der Besetzung für Reparationsleistungen heranzogen und in ihrem Auftrag entweder bereits bestehende Entwicklungen für Russland aufbereitet wurden oder aber Neuentwicklungen entstanden. Und eine Neuentwicklung war der Typ 650. Zwei Wagen und drei Motoren wurden gemäss dieses Auftrags vom 4. August 1949 konstruiert und fertig gestellt. Und sie existieren bis heute.
Wo fängt man an?
Wer die Geschichte dieses Rennwagens erzählen will, muss weit ausholen. Und das tut Kirchberg auch. Der 2.0 Liter-V12-Zylindermittelmotorrennwagen weisst verdammte Ähnlichkeit mit den Vorkriegsrennwagen der Auto Union auf.
Erste Designskizzen tragen allerdings die BMW Sonne und Auftragnehmer ist eine Sowjetische Aktiengesellschaft, Awtowelo genannt. Und so beginnt Kirchberg im Jahre 1939 bei der Rennabteilung der Auto Union, fasst die internen Entscheidungen der letzten Rennjahre, sowie die konstruktiven Absichten zusammen, geht nochmals dem Verbleib der Rennwagen in der Sowjetunion nach und skizziert das wirtschaftliche System der sowjetisch-besetzen Zone zwischenOder und Elbe. Allein diese akribische Aufarbeitung ist so spannend zu lesen als sei man dabei gewesen. Erfährt man doch, dass niemand geringerer als der Sohn Stalins den Bau der Wagen veranlasste und diese für seine eigenen Interessen fertig stellen liess.
Bauen ja, fahren njet
Konstruktion, Fertigung und Tests zogen sich von Herbst 1949 bis Frühjahr 1952 hin. Dann ging alles ganz schnell, eine kurze Testfahrt auf dem Teilstück einer Autobahn bei Chemnitz und wurden die Rennwagen ohne Begleitung nach Moskau verladen, wo sie bei einem Rennen im Mai starten sollten. Ein existierendes Bild belegt zwar eine Test- oder Trainingsfahrt, wohl mit dem Restbenzin aus Deutschland im Tank, dann aber verlassen sich die Russen auf das Beste, was sie vermeintlich haben. Flugbenzin.
Nur damit kann die deutsche Edelkonstruktion, die sich im wesentlichen an den Konstruktionsprinzipien der Vorkriegsrennwagen der Auto Union orientiert, nichts anfangen und versagt den Dienst. Und von nun an beginnt eine Odyssee, die erst in den letzten Jahren ein Ende fand.
From Russia with Love
Die Rennwagen werden wieder nach Chemnitz verbracht, dort kann sie niemand gebrauchen, der Alltag stellt andere Herausforderungen als Rennwagen zu unterhalten, so kommen sie zum Rennkollektiv nach Eisenach, nehmen vollkommen umgebaut als Protagonisten bei Filmaufnahmen zu einem Rennfilm teil, sind Anschauungs- und Lehrstücke an Technischen Hochschulen, wo sich die Wege der beiden Wagen trennen, einer wird anschliessend nach England in die Donington Kollektion verkauft und dort wider besseren Wissens als Auto Union Typ E ausgestellt, der andere Wagen dämmert vor sich hin. Und irgendwie und irgendwann geraten sie in Vergessenheit.
Kein Krimi aber viel Geschichte
Das Buch mit dem schlichten Titel "Typ 650" fasst auf gut 150 Seiten die unglaubliche Geschichte zweier Rennwagen zusammen, die in der Tradition der Auto Union Rennwagen auf Geheiss der sowjetischen Besatzer aufgebaut wurden. Nichts war zu teuer oder gar unmöglich.
Vergaser aus West-Deutschland, Rennreifen von Pirelli aus Italien, ja scheinbar wurde sogar der Motorblock in Westdeutschland gegossen. Unglaublich denkt man sich beim Lesen des Buches. Aber so unglaublich geht es weiter, wenn man an den Auftraggeber, den Sohn Stalins, denkt. Noch unglaublicher die anschliessende Odyssee der beiden Rennwagen, von Russland zurück, durch die DDR teilweise bis nach England verraten und verkauft - dann wieder zurück.
Gestern, heute, morgen
Der "Typ 650" ist nie ein Rennen gefahren. Er teilt das Schicksal mit seinem Stiefbruder, dem "Cisitalia" oder "Porsche Typ 360" und trotzdem sieht man diesem Rennwagen seine Ambitionen an. In guter alter Auto Union Manier konstruiert, stellt dieser Wagen neben dem ideellen Bruder "Cisitalia"eine der ersten neuen Rennwagenkonstruktionen nach den neuen Formeln der FIA dar. Und das nicht etwa aus Molsheim, Modena oder Mailand, sondern aus Chemnitz.
Wie er sich auf der Rennstrecke verhalten hätte, weist das Buch aus den aufgetauchten Konstruktionsunterlagen und Versuchsprotokollen zum Rennwagen nach. Ansaugwege zu klein und verwunden, Vergaserdurchsatz zu gering. Ein Sieg wäre wohl nicht zu holen gewesen. Aber darf eine Neukonstruktion, der die Russen nicht mehr als eine 60 km lange Testfahrt zusprachen, nicht noch Entwicklungspotential haben? Darf sie, der Vierventilkopf war schon geplant und gezeichnet… Was wäre gewesen, wenn der Hubraum auf 1,5 Liter verkleinert und der Motor mit Aufladung versehen worden wäre. Hätte der "Typ 650" das Zeug gehabt gegen den "Typ 360 " aus Stuttgart zu bestehen? Diese Frage wird sich leider nie beantworten lassen, aber die Aufarbeitung von Gechichte beginnt immer mit einer Fragestellung, hier nach der Bedeutung der beiden deutschen Rennwagenentwicklungen nach 1945.
Trotz der fehlenden Renngeschichte oder gerade deshalb gebührt diesem Buch ein Ehrenplatz in der Bibliothek. Aufwändig recherchiert, das wenige Fotomaterial gefunden, zusammen getragen und zugeordnet, sowie mit Beiträgen zu Technik, Aufbau, Restaurierung und dem Status Quo versehen, zeichnet das Buch die Geschichte einer Konstruktion nach, wie es wenige Bücher können oder gar wollen. Es ist daher nicht nur technisch wertvoll, sondern auch historisch von absoluter Klasse.
Wer soll dies lesen?
Selbst ausgewiesene Kenner der Auto Union Geschichte können bereits in den einleitenden Passagen zur Auto Union Renngeschichte von Prof. Kirchberg noch etwas lernen. Wer aber wissen will, wie ein Rennwagen aus deutscher Feder kurz nach Ende des Krieges unter den neuen Regularien hätte aussehen konnte, der wird hier fündig.
Und mit einem Seitenblick auf den Porsche "Typ 360"/ Cisitalia setzte man in Chemnitz ebenfalls und ein weiteres Mal auf die zukunftsträchtige Mittelmotoranordnung, während Mercedes die Formel 1 auch 1954 konventionell mit Frontmotor anging. Dass das Buch darüber den Eisernen Vorhang von einst auch noch ein wenig durchlässiger macht, ist vielleicht die grösste Fähigkeit dieses Buches. Denn es geht den Fragen nach, wer beauftragte den Rennwagen, wie hiessen die Konstrukteure und warum entstand unter dem BMW Logo ein Rennwagen, der sich die Auto Union zum Vorbild nahm. Zeitreise in eine unbekannte Facette der Geschichte des Motorsports und den Eisernen Vorhang ein wenig gelüftet.
Bibliografische Angaben
- Titel: Der Typ 650: Auto Union, BMW, Awtowelo - die Geschichte eines unbekannten Rennwagens
- Autoren: Peter Kirchberg, mit Beiträgen von Jens Conrad, Eberhard Kreßner, Detlef Neumann und Roland Reisig
- Verlag: Delius-Klasing 2014
- Format: 286 x 218, gebunden mit Schutzumschlag, 152 Seiten, 69 Farb-, 60 s/wFotos und 12 farbige sowie 13 s/w Abbildungen
- ISBN-10: 3768838765
- ISBN-13: 978-3-7688-3876-4
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