Die wenigsten von uns dürften noch eigene Erinnerungen an die Anfänge des Motorsports haben. Tatsächlich liegen diese Anfänge ja auch schon über 100 Jahre zurück, da ist selbst der älteste Augenzeuge wohl bereits verstorben. Umso spannender ist es natürlich, gerade von diesen Pionierzeiten zu lesen.
Rennen, Liebe und Duelle
Carl F. Wagner, als Maschinenbauingenieur und Europakorrespondent ds "Automobile Quarterly" mit dem Themen eng verbunden, hat sich dem Thema angenommen, aber nicht, wie man vielleicht erwarten könnte, ein technisch orientiertes Zeitzeugnis verfasst, sondern einen Roman, der im Jahr 1904 spielt und ein fiktives Rennen von Wien nach Paris als zentrales Ereignis beschreibt. Wie es sich für einen guten Roman gehört, werden im 496 Seiten starken Buch nicht nur Maschinen und Motoren beschrieben, sondern es kommen auch die Liebe sowie der Kampf um Leben und Tod in Form eines Duells zur Sprache.
Roger Gloor übernahm die Mammutaufgabe, den ursprünglich in Englisch verfassten Text ins Deutsche zu übersetzen und er hat dies akribisch und mit viel technischem Sachverstand getan.
Nahe an der Realität
Zwar beschreibt Wagner ein Rennen um den Vier-Nationen-Preis von Wien über Salzburg, München, St. Gallen, Winterthur, Zürich, Genf, Nizza bis nach Paris das in dieser Form nie stattgefunden hat. Es folgt in der Fiktion auf das tatsächlich stattgefundene und wegen vieler Unfälle in Bordeaux abgebrochene Rennen von Paris nach Madrid.
Tatsächlich waren Fernfahrten in jener Zeit “en vogue”. Die noch junge Automobilindustrie schätzte den Promotionseffekt dieser Rennen, die allesamt auf öffentlichen Strassen und über Tausende von Kilometern stattfanden und die Zuverlässigkeit und Schnelligkeit der damaligen Autos beweisen sollten.
Wahre Monster wurden dafür gebaut, die aus kaum mehr als einem Chassis, einem riesigen Motor mit 20 Litern Hubraum, einem voluminösen Benzintank und zwei Sitzgelegenheiten ohne jeglichen Wetterschutz bestanden.
Bereits aber fuhr auch eine leichte Klasse bei diesen Rennen mit, welche die Zukunft weisen sollte. Dass Wagner dabei sogar noch einen Besuch Ettore Bugattis beim Startort Wien im Buch einbaut, welcher auf die grosse Zukunft der agileren und schnelleren leichten Wagen hinweist, sei hier nur am Rande erwähnt.
Von den Tatsachen zur Fiktion
Während viele der Teilnehmerfahrzeuge der damaligen Realität entsprechend und bekannte Namen wie Renault oder Benz tragen, sind die Rennwagen der Fiktionshelden erfunden - Autokutsche und A.V.M. Technisch entsprechend sie aber der Zeit oder waren ihr leicht voraus. Die Autokutsche weist einen Achtzylinder-Motor, zusammengesetzt aus zwei Vierzylinder-Blöcken, auf, der A.V.M. ist ein Dampfmobil, wie es sie damals gab.
Die Hauptdarsteller und Komparsen sind frei erfunden, entsprechen aber von Typ und Herkunft her den damaligen Leuten, die an derartigen Rennen teilnahmen. Automobil-Ingenieure, Unternehmer, Adlige und Journalisten bestritten zu jener Zeit diese anforderungsreichen Autorennen.
Selbst dass der Autor auch noch für den “women’s touch” sorgte und eine Gräfin beim Rennen mitfahren lässt, ist keine reine Phantasie, obschon die Bedienung der schweren und unhandlichen Fahrzeuge die junge Abenteuerin sicher an die Grenze ihrer Kräfte gebracht haben dürfte.
Anschaulich beschriebene Technik
Autor Wagner beschreibt die waghalsigen Konstruktionen, die nach der Jahrhundertwende entstanden, im Detail und mit viel Hingabe. Und er schildert auch minuziös, was es bedeutete derartige Fahrzeuge zu starten und am Limit zu bewegen. Man erfährt auch, dass der Beifahrer weniger Navigator, als vielmehr verlängerter Arm des Fahrers war und half die anfällige Technik während der Fahrt am Leben zu Erhalten und bei Pannen zu reparieren. Fremdhilfe war während des Rennens untersagt, so dass z.B. der Fahrer eines im Acker gestrandeten Fahrzeugs die Pferde, die den Wagen aus dem Dreck zogen, selber führen musste.
Spannend bis zum Schluss
Es ist wahrlich unterhaltsam, die Abenteuer der Romanfiguren - Herzog Emerich, Onkel Xaver, Henri Montouse, usw. - zu verfolgen. Bereits die Anfahrt zum Startort des Vier-Nationen-Preises ist gespickt mit Abenteuern, das Rennen selber von technischen und fahrerischen Schwierigkeiten gezeichnet. Selbst ein Gasballon wird von den Wettfahrern zu Hilfe gezogen. Und beinahe hintertreibt sogar noch die französische Politik mithilfe der Armee das Rennen. Und bis man weiss, wie die vereinigte Presse zusammen mit rennbegeisterten Militärangehörige der Wettfahrt doch noch zum Durchbruch verhelfen, ist es dem Leser fast unmöglich, das Buch wieder abzulegen.
Das Buch “An Pferden kein Mangel” von Carl L. Wagner ist sehr nüchtern gehalten und kommt ohne Bilder daher. Um unseren Lesern die Fahrzeuge der Rennsport-Frühzeit näher zu bringen, haben wir eine kleine Galerie mit Sport- und Rennfahrzeugen aus jener Zeit und den teilweise erwähnten Rennen (Paris-Madrid, Gordon Bennet, aber auch Herkomer-Konkurrenz, Targa Florio, GP de l’ACF, etc.) zusammengestellt. Sogar ein Dampffahrzeug ist abgebildet, sowie eine ganze Reihe von im Buch mehrfach erwähnten Benz-Fahrzeugen.
Bibliografische Angaben
- Titel: An Pferden kein Mangel
- Originaltitel: No dearth of horses
- Erschienen: 2012
- Umfang: 496 Seiten, keine Illustrationen
- Autor: Carl L. Wagner, Übersetzung durch Roger Gloor
- Verlag: Olgor-Edition, www.olgor-edition.ch
- ISBN: 978-3-033-03352-8
- Preis: ungefähr CHF 30, Euro 25
Das Buch kann direkt beim Verlag oder in gut assortierten Buchhandlungen (online und offline) bestellt/gekauft werden.