Auf den 1. Januar 1955 verliessen Colin Chapman und Mike Costin ihre sicheren Stellen bei der British Aluminium Company resp. bei der De Havilland Aircraft Company und wurden Vollzeit-Direktoren bei Lotus. Das war ein Meilenstein in der noch jungen Firma, deren Gründung am 25. September 1952 gerade etwas mehr als zwei Jahre zurück lag. Möglich gemacht wurde der Schritt durch den Erfolg mit dem Lotus Mark VI, das erste Auto der Marke, das keine Anleihen beim Austin Seven mehr machte. Von diesem Auto entstanden bis Ende 1954 rund 70 Fahrzeuge, als Kits oder montierte Autos mit dem vom Kunden aus Steuergründen beigestellten Motor, ausgeliefert.
Neben den Rennerfolgen, die Colin Chapman selbst und seine Kunden erzielten und die den Lotus Mark VI zu einem Fahrzeug machte, das man als Fahrer mit Ambitionen in der 1172ccm-Klasse haben musste, ist auch eine Struktur entstanden, die eine solche Nachfrage bewältigen konnte.
Es ist dieser Prozess, den Graham Capel in seinem neusten Buch in allen seinen Aspekten beschreibt. Dazu gehören:
- die Entwicklung vom Tuning-Spezialisten für Ford-Motoren zum Autobauer mit dem Mark III als erstem Auftrag;
- die Entwicklung vom Mark III zum Mark VI und weiter zum Mark VIII bis Mark X;
- die Bildung und Auflösung der Arbeitsgemeinschaft mit den Gebrüdern Nigel und Michael Allen;
- der Weg von der Garage der Familie Williams (Hazel Chapmans Eltern) über die Garage der Familie Allen in den Schopf des Railway Hotels in Hornsey (von Vater Chapman) an der Tottenham Lane;
- die Gründung von Lotus Engineering mit den Vätern Chapman und Allen, Colin Chapman, Nigel und Michael Allen als Besitzer, sowie die sukzessive Übernahme der Anteile durch Colin und Hazel Chapman;
- die Ablösung der vielen Freiwilligen durch drei fest angestellte Arbeiter, wovon zwei in Teilzeit;
- die Kooperation mit den Firmen Progress Chassis und Williams & Pritchard als Lieferanten der Rohrrahmen und der Aussenbleche;
- die Ausarbeitung des Logos;
- die Benennung der Renngemeinschaft als Team Lotus;
- die Einführung des Rohrrahmens durch die Verbindung von geraden Rohren in der Form von Dreiecken zuerst als einfache Lösung von Nigel Allen und nachher als durchdachte Konstruktionen von Colin Chapman;
- …. und so weiter
Dabei ist der Mark VI, seine Entwicklung, die Einsätze in den Rennen und der Aufbau der Produktionskapazitäten das Kernthema. Mit dieser Geschichte verbunden ist die Entwicklung der ersten Rennsportwagen, d.h. die Lotus Mark VIII bis X.
Dieser Abschnitt in der Firmengeschichte von Lotus findet mit dem Ende der Fertigung des Mark VI nach ca. 110 Einheiten Ende 1955 seinen Abschluss. 1956 folgten der Lotus Eleven als Rennsportwagen und 1957 der Lotus Seven als Strassensportwagen und Nachfolger des Mark VI. Vom Eleven wurden für einen Rennsportwagen erstaunliche 270 Einheiten produziert. Der Seven brachte es in der ersten Serie bis 1960 dann auf 242 Stück.
Umfangreiche Zeitschriftenrecherche
Grundlage für den Text von Graham Capel ist einmal eine Auswertung der wichtigsten Automobilsport-Zeitschriften aus der Zeit: Autosport, Motor Sport, Motor Racing, 750 Motor Club Bulletin, Sports Car and Lotus Owner, The Autocar, The Motor, Road & Track, Sports Cars Illustrated, etc. Dazu hat er viele Zeitzeugen befragt: Nigel and Michael Allen, Ernie Unger, Mike Costin, Fred Bushell, Hazel Chapman, John Teychenne und viele andere.
Herausgekommen ist ein detaillierter Bericht, der sich teilweise wie ein Roman liest und mit vielen Anekdoten gespickt ist. So hat John Teychenne bei Lotus aufgehört mitzuarbeiten und Progress Chassis gegründet, denn als Lieferant hatte er mehr Chancen, an sein Geld heranzukommen!
Verdankenswert ist der Versuch, alle Lotus Mark VI zu listen und auch ihre Geschichte, soweit nachvollziehbar, zu dokumentieren. Capel rechnet, dass noch ca. 80 Prozent der gebauten Fahrzeuge existieren.
Colin Chapman wird als Motor beschrieben, der sich nicht scheute, Wissen von anderen Leuten anzuzapfen. Frank Costin als Aerodynamiker und Mac Macintosh als Festigkeitsingenieur sind Beispiele. Als erfolgreicher Rennfahrer wusste er, worauf es bei den Autos ankam und hatte damit natürlicherweise eine Führungsrolle. Als Ingenieur mit Universitätsabschluss hatte er wohl auch den Horizont, solche Inputs produktiv zu verarbeiten. Hazel Chapmans Charakterisierung ihres Ehemannes als Problemlöser (Crombac, Colin Chapman, 1986, p. 335) wird hier greifbar.
Viele Abbildungen, aber …
Das Buch ist voll mit Bildern und Abdrucken von Artikeln über Lotus in den erwähnten Zeitschriften. Auch viele Inserate geben Auskunft über das Geschäft. So hat Lotus 1953 unter dem Titel „Ford 10 Special Builders“ ein Inserat geschaltet, wo der Umbau auf ein grösseres Einlassventil für £5-10-6, das Ausbalancieren der Kurbelwelle und des Schwungrads für £3-18-6, ein leichter Lotus-Rohrrahmen für Ford-Motoren und -Achsen für £110-0-0 und die Aussenbleche dazu für ein gefälliges Aussehen (smart appearance) für £75-0-0 angeboten wurde. Die Bilder sind meist als Kopien direkt aus den Vorlagen genommen und oft von mässiger Qualität (wofür sich der Autor schon im Vorwort entschuldigt). Dazu kommt, dass die Abdrucke durchwegs klein sind und vielfach an der Grenze zur Lesbarkeit.
Für den eingefleischten Lotus-Fan sind diese Mängel verkraftbar, denn Capels Buch muss als Vertiefung des Standardwerks von Smith, Lotus - The Story of the Marque, 1958, und auch von Gérard Crombac, Colin Chapman - The Man and his Cars, 1986, gesehen werden. Es ist als Arbeitsbuch zu verstehen und nicht zur Dekoration des Büchergestells. Deshalb ist es für Leute ohne das Lotus-Virus nur bedingt empfehlenswert.
Das Buch steht in einer Reihe mit früheren Büchern von Graham Capel, die gleich konzipiert und aufgemacht sind: Lotus - The Historic Years 1956-1958 (über den Lotus Eleven), 1995, und Lotus History 1962-1966 (über den Lotus 23), 2006.
Bibliografische Angaben
- Titel: Lotus History 1951-1955: The History of the Lotus VI including Mark III, Mark VIII, Mark IX, Mark X
- Autor: Graham Capel
- Verlag: Historic Lotus Books
- Auflage: 1. Auflage, 2015, 1000 nummerierte Exemplare
- Format: Gebunden, 25 x 19.5 cm
- Umfang: 222 Seiten, viele Schwarzweiss-Abbildungen
- ISBN: 978-0-9525732-0-3 (Achtung: ist identisch mit Capel’s Buch „Lotus - Historic Half Century 1948-1998“ von 1998!)
- Preis: ca. EUR 40.00 (beim Verlag, zuzüglich Porto und Verpackung)
- Bestellen/kaufen: Online beim Verlag oder z.B. bei Motor Books