Erst vor wenigen Tagen haben wir hier vom selben Autor das Buch über den Jaguar XJ-S vorgestellt. Umso gespannter waren wir zu erfahren, wie der britische Autor Brian Long mit einem deutschen Thema umgeht. Immerhin ist die W 123 Monographie sein drittes in Deutsche übersetzte Buch, das sich einem Mercedes widmet. Wir haben es gründlich für Sie gelesen.
Die Geschichte des letzten echten Mercedes
Nicht nur für Enthusiasten der Marke ist und bleibt der zwischen 1976 und 1986 gebaute Mercedes W 123 der letzte echte Mercedes. Ein schwerer Wagen par excellence, in Stuttgart konstruiert für die Fahrt in die Ewigkeit. Niemand reckte in den 80er Jahren den Kühler so kühn gegen den Wind, mit Ausnahme von Rolls Royce. Das funktionslose Relikt aus den Anfängen des Automobils war ein prägendes Designelement des Mercedes-Stils.
Schon als Kind gelang es einem auf Bildern von fremden Ländern den VW Käfer oder eben den Mercedes zu identifizieren. Satte Geräusche beim Türen schliessen, mit Federkernsitzen um hohe Qualität bemüht, jedoch dafür ohne jede Seitenführung und zudem leider unbequem, der W 123 war begehrt. Jahrelange Wartezeiten eröffneten einen Parallelmarkt für Jahreswagen, Gebrauchtwagen und selbst Verträge wurden gehandelt wie Aktien. DM 5'000,- waren für solch einen Vertrag Ende der Siebzigerjahre zu erzielen.

So etwas hat es weder vorher noch nachher jemals bei einem Automobil gegeben. Und dann eröffnete der W 123 mit dem T-Modell die Nische der Lifestyle-Kombis in einer feinen Art. Wem das zu viel war, der griff lieber nach dem stilistisch gelungenen Coupé, das als 280 CE durchaus eine distinguierte Art sein konnte, einen teuren Mercedes zu fahren, auch wenn es nach aussen nicht gar so aussah. Kam nur drauf an, wieviele Kreuze man in der seitenlangen Aufpreisliste verteilte.
Das Buch zur Legende
Mehr als 190 Seiten hielt der Autor für nötig um die Geschichte des W 123 zu transportieren. Typisch für Brian Long beginnt er mit der Vorstellung des Unternehmens und reiht den W 123 in seine Vorgängermodelle ein. Sowohl die Unternehmensgeschichte als auch die Abhandlung der Vorgängermodelle W 111, W 112, W 114, W 115 sind umfassend und bieten einen interessanten Einblick in das Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Mit der Entwicklungsgeschichte des W 123 wird klar, wo sich das Unternehmen in den Siebzigerjahren befand. Wahrscheinlich auf dem Zenith innerhalb seines gesamten Bestehens. Unzweifelhaft stand fest, was aus Stuttgart-Untertürkheim kam, war das beste, was man sich als Autofahrer leisten konnte. Der W 116 und der R 107 hatten zu Beginn der 70er Jahre den Anspruch die besten Automobile zu bauen, manifestiert.
Der W 123 war nun die Lösung war den schmaleren Geldbeutel. Keine amerikanische TV-Serie kam ohne diese Modelle aus. Man denke an Dallas, wo gefühlt nur Mercedes gefahren wurde. Während BMW gerade zaghaft mit dem 5er (E 12) und 7er (E 27) wieder an Fahrt in Richtung Oberklasse-Anspruch aufnahm, war man in Ingolstadt bemüht, sich von den Fängen von VW zu befreien. Man hatte Frontantrieb und Fünfzylinder. Von quattro, Turbo und Windkanal wagte man bei der Vorstellung des W 123 in Ingolstadt aber nicht mal zu träumen.
Stuttgart war die Benchmark. Auch im Verkauf. Zeitweise lag der Mittelklasse-Mercedes vor dem Golf auf Platz in der deutschen Zulassungsstatistik. Für Gebrauchtwagen wurden Preise über Neuwagenniveau erreicht und die Welt war - sofern sie es sich leisten konnte - süchtig nach diesem Fahrzeug, das sich in 10 Jahren über 2,7 Millionen verkaufen sollte.
Eine solide Ausgangsbasis für ein Buch und Long nimmt die Herausforderung an und stellt die Entwicklung sowie die Einführung des "letzten echten Mercedes" breit und ausführlich vor. Dabei geht er sowohl auf die vielfältigen Motorisierungen als Benziner und Diesel ein, kommentiert wo immer möglich die komplexe weil variantenreiche Ausstattungsvielfalt von Mercedes und räumt sowohl den T-Modellen als auch den Coupés genügend Platz ein.
Der unbekannte W 123
Spannend und interessant wird es in den Kapiteln Motorsport und Tuning. Der eher unsportliche W 123 war als 280 E durchaus für Langstreckenrallysiege zu haben. Dank Werkstuning auf über 200 PS und mit Käfig und Offroadfeatures versehen, meisterten so manche Semi-Werksteams 30'000 Km Strapazen um die halbe Welt. Anfangs der 80er Jahre übernehmen Tuner dann das Geschäft der Fahrzeugindividualisierung. Brabus, Lorinser oder AMG sorgen für optisches Aufsehen innen und aussen und legen auch unter Haube Hand an. Tuning nannte man damals noch veredeln, das kam auch in mancher Szene gut an.
Lobenswert ist der Blick des Autos auf die Forschungsfahrzeuge mit Methanol-, Elektro-, Wasserstoff-, oder LPG-Antrieb, der W 123 war mehrere Jahre das rollende Forschungslabor im Unternehmen.
2,7 Millionen Fahrzeuge in 10 Jahren
Brian Long weiss um das Wesen des Erfolgs beim W 123. Solide Technik, höchster Sicherheitsanspruch und eine für damalige Verhältnisse einzigartige Möglichkeit, sich sein Fahrzeug dank der dicken Aufpreisliste zusammenzustellen. Dazu eine eine grosse Typenbreite mit Coupé und Kombi, sowie den Fahrgestellen mit langem Radstand für Limousinen- oder Sonderaufbauten. Ergibt unter dem Strich die bis dahin erfolgreichste Modellreihe bei Mercedes, von der in 10 Jahren mehr Fahrzeuge abgesetzt werden als davor von allen Modellen seit 1945.
Gleichzeitig, und das schwingt in der hervorragenden und in vielen Aspekten an die Erwartungen des deutschen Lesers angepassten Übersetzung von Thomas Imhof immer mit, ist der W 123 der in Karosse gepresste Ausdruck seiner Zeit. Zumindest aus deutscher Sicht. In allem eher konservativ. Aus der Distanz betrachtet, beschert das der Baureihe den Nimbus, der letzte echte Mercedes gewesen zu sein. Der W 126 und der W 124 verlassen die Mercedes Tugenden und damit beginnt etwas, wovon die Mercedes Manager in den 80er Jahren in ihren kühnsten Albträumen nicht gerechnet hätten.
Mercedes verliert den Status der Staatskarosse. In den 80er Jahren zieht zunächst BMW mit dem 7er (E 32) und dem ersten deutschen 12-Zylinder vorbei. Der W 140 ist dann nur noch die Antwort von Goliath auf den Angriff von David. Zu gross, zu unzeitgemäss zu saturiert.
Der Nachfolger des W 123 macht es etwas besser. Als W 124 greift er nochmals auf die Ausgangsbasis seines Vorgängers zurück, gilt allerdings als weniger solide und steht für den einzigartigen "Bonanza-Effekt" bei den Dieseln, für den die Taxifahrer vor dem Stuttgarter Hauptsitz protestierten. Moderne Mittelklasse wurde Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre in Ingolstadt definiert: TDI, Cw-Wert, Quattro und hervorragende Verarbeitung kamen nun aus Ingolstadt. Und mit Einführung der A8-Reihe auch staatstragend in der Oberklasse. Da war der W 123 aber schon Geschichte und lebte sein zweites und drittes Leben in Nordafrika.
Das Fazit: Solide
Das Buch über den W 123 ist ein sauber geschriebener Typenband, der sowohl die Bedeutung der Unternehmensgeschichte als auch der Modellgeschichte genügend Raum einräumt, um den W 123 ausreichend zu würdigen. Unzählige Aspekte werden angegangen und vermitteln ein umfassenden Überblick zur Typengeschichte. Wie immer und das ist wohl dem Entstehen des Buches als englische Originalausgabe geschuldet, lässt der Autor den britischen Heimatmarkt nicht ausser Acht, wirft oft und häufig einen Blick nach Japan und den USA. Womit insbesondere den W 123 Fans sich nochmals eine neue Perspektive eröffnet.
Langweilig wird es nur schon für Puristen nicht, wenn Brian Long sich auf unzähligen Seiten über die Modelljahre auslässt und en Detail die Veränderungen, teilweise mit Preisen (häufig in £) herunterleiert. Farben, Bezüge, Radiomodelle und die Facelifts sind wirklich nur was für eingefleischte Fans der Marke und vermutlich dann doch nicht vollzählig. Das Buch ist sauber recherchiert und nur die Kenner der Modellreihe werden die wenigen Fehler nicht überlesen. Allerdings kann man auch getrost über sie hinwegsehen. Das Buch ist ein solides Werk für Kenner der Marke und des Modells. Man wünscht sich auch zu anderen Fahrzeugen so ein ausgereiftes Buch. Im Preis von € 39,90 sind die Sonderausstattung Hardcover und Schutzumschlag enthalten. Damit stellt es auch inhaltlich den Abstand zum hervorragenden XJ-S Buch wieder in die richtige Relation.
Bibliografische Angaben
- Titel: Mercedes Benz - Die Baureihe W 123 von 1976 bis 1986
- Autor: Brian Long
- Sprache: Deutsch
- Verlag: Delius Klasing, 1. Auflage 2016
- Format: 259 x 255 mm, Hardcover gebunden im Schutzumschlag,
- Umfang: 192 Seiten, 154 Farbfotos, 112 Schwarz-Weiß-Fotos und 32 farbige Abbildungen
- Preis: € 39,90
- ISBN: 978-3-667-10693-3
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