Vor 50 Jahren trug man als Mann von Welt noch einen Hut. Und dieser war kein Hindernis, wenn man sich in seinen Ponton-Mercedes setzte, Im Gegenteil, auch über dem Hut war noch Luft. Nur das Schiebedach musste man geschlossen halten, sonst war er dann weg, der Hut.
Einfach zu fahren
Das Fahren im Mercedes Benz 190 von 1960 verlangt kaum nach besonderen Vorkenntnissen. Für Neulinge ist zwar die Lenkradschaltung gewöhnungsbedürftig, aber sie funktioniert exakt und ohne Kraftaufwand. Das Schaltschema ist analog zur anderswo praktizierten Mittelschaltung.
Ist der Motor mit gefühlsvollem Choke-Einsatz zum Laufen gebracht und warmgefahren, dann dreht er willig hoch und schiebt den immerhin 1260 kg schweren 190-er kraftvoll nach vorne. Natürlich kann man mit 80 PS keine Beschleunigungsorgien feiern, aber wer möchte das schon im rundlichen Mercedes von anno dazumal.
Die Zeitschrift Auto Motor und Sport stoppte den Mercedes 190 im Jahr 1960 mit 17.9 Sekunden für die Beschleunigung von 0 bis 100 km/h und einer Höchstgeschwindigkeit von 144,5 km/h. Diese Fahrleistungen reichen auch heute aus, und bei 120 km/h lässt man es gerne bewenden. Der Ponton-Mercedes wird zum Stress-Abbaumittel und zudem hat man ja einen Hut auf ...
Aus der Blumenvasenzeit
Das Innere des Mercedes Benz 190 wirkt aufgeräumt und das schlicht gezeichnete Armaturenbrett mit einem Rundinstrument für die Geschwindigkeit und rechteckigen Anzeigen für Benzinmenge, Wassertemperatur und dergleichen sieht schmuck aus. Vor allem natürlich auch, weil es mit einem historisch korrekten Radio, einer Zeituhr und einer Blumenvase (!) ausstaffiert ist.
Man sitzt hoch und aufrecht und realisiert gar nicht, dass der Ponton-Mercedes eigentlich grösser ist, als man gedacht hätte. Die Grundmasse betragen 4,5 x 1,74 x 1,56 Meter, der spätere Baby-Benz 190 E unterbot diese in der Höhe deutlich, in Länge und Breite jeweils um einige Zentimeter.
Die Raumökonomie ist aber gut, vor allem in der Breite und selbst hinten sitzt man bequem. Und welches moderne Auto schafft es schon, sechs Personen in zwei Reihen unterzubringen, ohne wie ein Raumfahrzeug auszusehen?
Der erste Erlkönig
Die Geschichte des Mercedes Benz 190 begann mit der Präsentation seines kleineren Bruder, dem 180 als W 120 im August 1953. Doch eigentlich begann sie noch ein bisschen früher, denn bereits ein Jahr zuvor hatte die Zeitschrift “Auto Motor und Sport” ein Bild des heiss erwarteten Modells publiziert und zwar zusammen mit einem an Goethes Erlkönig erinnerndes Gedicht:
“Wer fährt da so rasch durch Regen und Wind?
Ist es ein Straßenkreuzer von drüben, der nur im Umfang zurückgeblieben
oder gar Daimlers jüngstes Kind?
Der stille Betrachter wär gar nicht verwundert,
wenn jenes durchgreifend neue Modell, das selbst dem Fotografen zu schnell,
nichts anderes wär als der Sohn vom »Dreihundert«“.
Der Hersteller Daimler-Benz war darüber gar nicht erfreut, aber die Öffentlichkeit und vor allem die Presselandschaft liess sich die Erlkönig-Bilder, denn so wurden hernach Abbildungen von Vorserienautos und Prototypen gemeinhin genannt, nicht mehr nehmen.
Ein Meilenstein
Die Autokäufer hatten allerdings guten Grund, sich auf die neue Mercedes-Limousine zu freuen. Die Baureihe W120 war der Eintritt von Mercedes in die Moderne. Im Gegensatz zu den Vorgängern wies der neue Wagen eine selbsttragende Karosserie auf, deren Design sich an den aktuellen Designströmungen orientierte.
Mercedes wäre aber nicht Mercedes gewesen, wenn man nicht das Beste aus zwei Welten kombiniert hätte. In diesem Falle hiess das Ergebnis “Rahmenbodenanlage” und auf diese war dann die Karosserie geschweisst worden. Dies hatte eine hohe Verwindungssteifigkeit zur Folge und mehr Geräuschkomfort, als sie die selbsttragenden Karosserien der Konkurrenz boten. Motor, Getriebe und Vorderachse waren auf einem sogenannten “Fahrschemel” angeordnet, die Hinterräder waren an einer Pendelachse mit Längsträgern aufgehängt.
Keine halben Sachen
50 kg leichter war die neue Karosserie im Vergleich zur Chassis-Konstruktion des Vorgängers 170 S geworden, sie wie über einen Fünftel mehr Innenraum aus und schuf Platz für 75% mehr Gepäckvolumen.
Das Ergebnis war überaus stabil, das zeigte dann auch absichtliche und unabsichtliche Unfallversuche. Die Rahmen-Karosseriekombination überzeugte derart, dass alle folgenden Fahrzeuge bis und mit zum Mercedes Benz 600 der gleichen Bauweise folgten.
Die Automobil Revue jedenfalls zeigte sich beim Langstreckentest des Mercedes Benz 180 im Jahr 1954, der über rund 5000 km führte, sichtlich begeistert und kritisierte nur Geringfügiges, zum Beispiel:
“Einige Kleinigkeiten könnten noch verbessert werden - so wünscht sich der Raucher einen automatisch herausspringenden Zigarrenanzünder sowie einen besser zugänglichen Aschenbecher.”
Das Fazit des Tests lautete denn auch:
“Zusammenfassend lautet das Urteil über den Mercedes-Benz 180 um so positiver, je länger man ihn fährt und je besser man ihn kennt. In seiner Kategorie gehört er nicht zu den preisgünstigsten Modellen, bietet jedoch punkto Fahrsicherheit, Fahrkomfort und Qualität wesentlich mehr als der Durchschnitt und auch als sein Vorgänger.”
Nur etwas mehr Leistung hätten sich die AR-Tester wohl gewünscht und die konnte der vom Vorgänger übernommene seitengesteuerte Motor halt nicht bieten.
Stärker und schneller
Abhilfe kam 1956 mit dem Mercedes Benz 190. Er trug den Motor mit obenliegender Nockenwelle aus dem 190 SL hinter dem Kühler, ausgerüstet mit allerdings nur einem Solexvergaser. 75 PS leistete der Vierzylinder und er ermöglichte deutlich gesteigerte Fahrleistungen.
Der Unterschied erschien zusammen mit den verrippten "turbogekühlten" Bremstrommeln sowie breiteren Bremsbacken auch den Stuttgartern so bedeutend, dass man ihn intern W 121 nannte.
Die optischen Differenzen zum leistungsschwächeren Modell fielen bescheiden aus, mit einem anderen Typenschild und ein paar Chromapplikationen hätte man den 750 DM günstigeren 180-er im Do-it-yourself-Verfahren zum 190-er aufpeppen können.
1959 hatte man nochmals nachgeschärft und dem Motor mit höherer Verdichtung zu 80 PS verholfen. Gleichzeit wurden auch Retouchen an der Karosserie durchgeführt. DM 9450 oder CHF 13900 kostete jetzt der 190b genannte Wagen.
Er war schon ein wenig in die Jahre gekommen, was sich zum Beispiel an den Äusserungen des Dipl-Ing. D. Korp in der Zeitschrift “Auto Motor und Sport” vom 12. März 1960 ablesen lässt:
“Nun, wer hart und gut arbeitet, möchte dafür auch entsprechend bedient werden. Diesem Qualitätsanspruch kommt Daimler-Benz durch solche Automobile entgegen, die Gediegenheit im Auftreten immer noch mit ausgezeichneter Verarbeitung vereinen. Setzt man sich hinter das Lenkrad eines Mercedes Benz und klopft, befühlt, kratzt oder begutachtet sonst irgendwie die verschiedenen Teile der Inneneinrichtung, so kann man sich diesem Eindruck nicht entziehen. Zweifellos tragen durchaus subjektive Eindrücke dazu bei, wie der typische Ledergeruch (obwohl das Leder weitgehend Kunstleder wurde), den Daimler-Benz-Personenwagen schon seit Urväterzeiten an sich haben, ferner die vorwiegend dunkle, manchmal schon makabre Farbgebung,d die von Menschen unserer Breitengrade so gern mit Zuverlässigkeit und Solidität identifiziert wird, und vielleicht das ebenfalls dunkle, nutzfahrzeuggrosse Lenkrad, das seinem Fahrer wirkliche Gewalt über seinen Wagen verspricht ....”
Doch auch im Jahr 1960 überzeugte der Wagen noch, darin waren sich die damaligen Tester einig. Zwei Jahre später wurde dann auch das letzte Ponton-Modell abgelöst, nach 437’310 produzierten Limousinen mit Benzin- und Dieselmotoren sowie 5653 Fahrgestellen. Damit war auch kommerziell die Rechnung für Mercedes mehr als nur aufgegangen.
Ideales Fahrzeug für den Kommissar
In einer Zeit, da fast in jedem Fernsehkrimi irgendein Hauptdarsteller im Oldtimer vorfährt, positioniert sich der Ponton-Mercedes als ideales Einsatzfahrzeug. Schon in seiner Jugend war er bei Film und Fernsehen gern gesehen, bei Franz Josef Waninger genauso wie in vielen anderen Produktionen, sei es als Polizeifahrzeug, Taxi oder als Fluchtwagen der Verbrecher. Der Ponton-Mercedes half den Guten wie den Schlechten und an einer Panne scheitere kaum je einer.
Beliebter Oldtimer
Der Ponton-Mercedes ist beliebt, seine exklusiven Schwestern mit Coupé- oder noch besser Cabriolet-Karosserie und Sechszylindermotor sind sogar sehr gesucht und dementsprechend teuer.
Bei den Limousinen geht es je nach Zustand deutlicher günstiger, schon um 20’000 bis 30’000 Euro oder das Äquivalent in Schweizer Franken gibt es sehr ansehnliche Ponton-Mercedes zu kaufen, wie die für diesen Bericht von der Ponton-Manufaktur in München zur Verfügung gestellte sehr gepflegte und originale Limousine aus ursprünglich schwedischem Besitz zeigt.
Weitere Informationen
- AR-Zeitung Nr. 6 / 1954 vom 10.Feb.1954 - Seite 15: Langstreckenprüfung Mercedes Benz 180
- AR-Zeitung Nr. 22 / 1956 vom 09.Mai.1956 - Seite 17: Neuwagenbeschreibung Mercedes-Benz 190, 219 und 220 S
- AR-Zeitung Nr. 17 / 1960 vom 07.Apr.1960 - Seite 21: Kurztest Mercedes Benz 190 und 190 D
- Hobby Heft 6/1956, ab Seite 62: Drei neue Typen aus dem Haus Daimler-Benz - 190, 219, 220S
- Auto Motor und Sport Heft 24/1958, ab Seite 18: Test Mercedes-Benz 190 Diesel
- Auto Motor und Sport Heft 6/1960, ab Seite 14: Test Mercedes-Benz 180 b und 190 b
- Oldtimer Markt Heft 7/1985, ab Seite 18: Mercedes 180/190 (Ponton)
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