Bis in die Fünfzigerjahre verkauften Fahrzeughersteller nicht nur ganze Autos, sondern auch einzelne Fahrgestellte, damit Karossiers ihre eigenen Kreationen daraufsetzen konnten. Dass dabei auch verschiedene Aufbauten hintereinander auf dasselbe Chassis fanden, ist keine Ausnahme, umso spannender die Geschichte, die sich um eine Graber-Karosserie rankt.
Tony Lagos Talbot
Die Marke Talbot war bereits 1902 in England gegründet worden und sie erarbeitete sich einen hervorragenden Ruf, der nicht zuletzt auf erfolgreichen Motorsporteinsätzen fusste. Talbot gelangte in die Hand von Darracq, wurde mit Sunbeam kombiniert und es wurden beidseitig des Ärmelkanals Fahrzeuge gebaut.
Als William und Reginal Rootes ihr Autoimperium im Jahr 1934 erweiterten, übernahmen sie unter anderem auch den Hersteller Talbot, hatten aber kein Interesse am französischen Ableger, der in der Folge von Tony Lago gekauft wurde. Lago, ein gebürtiger Italiener, wollte Fahrzeuge bauen, die in ihrer Art einmalig, sportlich, elegant und schnell waren. Und er war damit erfolgreich und gehörte zur damaligen Elite der Autohersteller.
Das oder der Baby
Im Oktober 1934 stellte Talbot-Lago, wie die Firma nun hiess, auf dem Pariser Autosalon neue kompakte Modelle vor. Sie wurden T120 und T150 oder auch Baby genannt und wiesen einen Reihensechszylindermotor mit drei oder vier Litern Hubraum auf. Die Kurbelwelle war vierfach gelagert, die obenliegenden Ventile wurden über Stössel angesteuert. Rund 90 PS leistete die Dreilitervariante, was für eine Spitzengeschwindigkeit von 130 bis 140 km/h ausreichend war.
Die Gänge wurden über ein Vierganggetriebe oder gegen Aufpreis bequem über ein Wilson-Preselector-Getriebe gewechselt.
Bis 1939 wurden die T120/T150-Varianten gebaut, die meisten erhielten zweitürige Limousinen-Karosserien aus Stahl, einige verliessen die Fabrik auch mit teureren zweitürigen Cabriolet-Aufbauten.
Die Fahrgestelle samt Motor konnten aber auch von unabhängigen Karosseriebauern eingekleidet werden und so entstanden einmalige Coupé- und Cabriolet Varianten zum Beispiel bei Figoni et Falaschi oder auch bei Herrmann Graber in Wichtrach.
Hermann Grabers Talbot-Karosserien
Den 1904 geborenen gelernten Wagner Hermann Graber hatten seine Wanderjahre nach der Lehre in die Seine-Stadt Paris geführt, wo er intensiv mit dem Automobil in Kontakt kam. Kein Wunder, wandte er sich der Motorfahrzeugkarosserie zu, als er Mitte der Zwanzigerjahre das Geschäft von seinem verstorbenen Vater übernehmen musste. Er entwickelte die Karosseriebaukunst stetig weiter und stellte nach dem Weltkrieg schon beim ersten Genfer Salon 1947 eigene Kreationen vor, u.a. einen Delahaye 135 MS. Im selben Jahr karossierte er einen Talbot-Lago T150.
Später folgten mit dem T26 Grand Sport und dem Record weitere Aufbauten auf Fahrgestellen der Marke Talbot-Lago.
Hier interessiert aber die Karosserie für ein vermutlich verunfalltes Coupé mit Baujahr 1937. Es erhielt eine charakteristische Cabriolet-Linie mit noch gut sichtbaren vorderen und hinteren Kotflügeln und vergleichsweise tief stehenden Lampen an der Front.
Über 40 Jahre verkehrte der Wagen dann mit der eleganten Karosserie in der Schweiz.
Wandlungen
In den Neunzigerjahren entschied der Besitzer des Talbot-Lago T150, dass sein Chassis doch wieder die originalgetreue ursprüngliche Karosserie erhalten solle.
Also wurde der Graber-Aufbau sorgfältig vom Unterbau getrennt und zur Seite gestellt. Dort wartete sie geduldig auf ihre nächste Chance.
Diese kam ein paar Jahre später, als ein noch restaurierbares Fahrgestellt eines Talbot T120 mit Baujahr 1936 gefunden wurde, das sich als Unterbau für die Graberkarosserie schon deshalb eignete, weil es artverwandt war und weil die damals noch montierte Karosserie nicht restaurierbar schien.
Von 2004 bis 2009 wurden dann Fahrgestell und Karosserie in Frankreich komplett renoviert und dann kombiniert, 2012 gelangte der Wagen zurück in die Schweiz, wo der revidierte Motor mit einer zeitgemässen Solex-Dreivergaser-Anlage komplettiert und eingebaut wurde.
Schalten mit den Fingerspitzen
Setzt man sich in den vor drei Jahren fertiggestellten Talbot-Lago T120 von 1936 mit Graber-Aufbau, dann spürt man sofort den Vorkriegscharakter des Fahrzeugs. Doch sobald man mit wenig Kraftaufwand den ersten Gang in der Wilson-Schaltkulisse einlegt und das Gangwechselpedal - es ist kein Kupplungspedal vorhanden - loslässt, staunt man über die komfortable Getriebelösung im Talbot-Lago.
Der Wagen gewinnt flüssig an Fahrt, die rechte Hand hat bereits den zweiten Gang vorgewählt, mit kurzem Niedertreten und Lösen des Gangwechselpedals wird er aktiviert. Und so geht es weiter bis zum vierten und wieder hinunter bis zum ersten Gang. Kein Wunder, waren damals auch zierliche Damen in der Lage, diese Fahrzeuge an Concours-Veranstaltungen zu präsentieren.
Natürlich verlangt die Lenkung und auch das nicht unerhebliche Gewicht des Wagens nach etwas Bizeps-Training, aber übermässig schweisstreibend ist das Bewegen des Talbot-Lago nicht. Im Gegenteil, der Wagen strahlt eine gewisse Überlegenheit aus, die es einem leicht macht, sich nicht von anderen Autofahrern herausfordern zu lassen.
Man geniess die schöne Aussicht nach allen Seiten und über die herrlich verrippte Motorhaube und lässt sich vom schönen Motorklang verwöhnen. Da wäre selbst eine weitere Anreise zur nächsten Schönheitskonkurrenz, wo der elegante Talbot das Publikum sicherlich beeindrucken dürfte, kein Problem.
Wir danken der Oldtimer Galerie Toffen für die Gelegenheit zum Kennenlernen des Talbot T120 mit Graber-Karosserie.
Weitere Informationen
- SwissClassics Revue Nummer 11/3-2006, ab Seite 52: Meisterliche Cabriolets aus Wichtrach
- SwissClassics Revue Nummer 12/4-2006, ab Seite 56: Graber - Klasse und Qualität bis zuletzt
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