Selten hat ein Auto die Betrachter so entzweit wie der Studebaker Avanti. Noch heute ist es so, dass man ihn entweder liebt oder hasst. Wenn man aber bedenkt, dass die ersten Fahrzeuge 1962 produziert wurden, gleichzeitig mit Ponton-Mercedes-Limousinen oder dem Opel Rekord P2 kann man die zukunftsweisende Gestaltung nur bewundern.
Ein Auto statt einer Muschel
Raymond Loewy, seines Zeichens verantwortlich für das Markenemblem von Shell, zeigte sich verantwortlich für die Gestaltung der Karosserie. Ohne eine einzige gerade Linie sei sein Entwurf, frohlockte Loewy.
Den Kühler, sonst dominierendes Merkmal der meisten US-Autos, hatte der Designer unter die vordere Stossstange verbannt. Zierleisten und Beschläge bestanden aus Edelstahl anstatt verchromt zu sein. Über dem Innenraum spannte sich ein Überrollbügel, alle Leuchten waren schlicht gestaltet.
Kunststoff für die Aussenhaut
Die “freizügig modellierten Flächen” - sogar die Seitenscheiben waren gewölbt, was damals sehr unüblich war - zwangen neben Zeitknappheit und Budgetknappheit zur Kunststoffkarosserie, deren Vorteile die Presse damals denn auch nicht gross genug hervorheben konnte: Geringes Gewicht, absolute Korrosionsfreiheit und Widerstandsfähigkeit gegenüber leichten Karosserieschäden.
Immerhin 130 verschiedene Kunststoffteile wies der Wagenkörper des Avanti auf. Sie wurden auf einem Lehrgestell mit für die Stabilität nötigen Metallteilen fest verbunden. Anschliessend wurde die Karosserie in mehreren Arbeitsgängen geschliffen, lackiert und poliert.
Chassis aus der bestehenden Palette
Als Basis für den neuen Wagen nahm man ein bestehendes Chassis, nämlich dasjenige vom Lark Cabriolet. Dank zusätzlicher Verstärkungen und Verfeinerungen konnte die Steifheit substantiell erhöht werden.
Auch den Motor übernahm man aus dem Studebaker Lark. 228 SAE-PS erschienen aber als nicht ausreichend und man erhöhte die Leistung durch Erhöhung der Kompression, Vergrösserung der Ansaugkanäle und Änderung des Ventilhubes und der Ventilzeiten. Damit kam man auf rund 250 SAE-PS und etwa 440 Nm Drehmoment. Diesen Motor nannte man R-1.
Mehr Leistung dank Aufladung
Einen Schritt weiter ging man mit dem Einbau des riemengetriebenen Paxton-Kompressors. Das Ergebnis dieser Modifikation - diese Antriebsvariante wurde R-2 genannt - waren rund 300 PS und ein maximales Drehmoment von 600 Nm. Bei amerikanischen Messungen beschleunigte der Kompressor-Avanti in 7.4 Sekunden auf 60 Meilen (96 km/h) und nahm dabei der Normalvariante immerhin 1 Sekunde ab.
Fortschrittliche Attribute
Während die Aufhängungen dem Trend der Zeit entsprachen (Einzelradaufhängungen an Trapez-Dreieckslenkern vorne, Starrachse hinten) war man mit derVerwendung von hydraulischen Scheibenbremsen (Bendix-Dunlop) vorne der Konkurrenz voraus.
Im Inneren des Autos ging man ebenfalls neue Wege. So waren die Schalter für die Beleuchtung und Belüftung oben bei der Windschutzscheibe angeordnet und erinnerten an Lösungen in Flugzeugcockpits. Äusserst reichhaltig war die Instrumentensammlung im zentralen Träger, wo unter anderem auch der Druck im Kompressor (falls vorhanden) abgelesen werden konnte.
Es hat sich nichts geändert, oder doch?
Auch heute noch ist man beeindruckt, wenn man auf den Avanti zugeht. Er wirkt irgendwie zeitlos und gleichzeitig unmodern, doch teilnahmslos lässt er einen nicht. Viel Licht kommt von allen Seiten in den Innenraum, das Gestühl (ohne Kopfstützen) wirkt fast ein wenig niedlich. Geschmackvoll die Farben- und Musterkombination und definitiv nicht verwechselbar mit anderen Innenraumgestaltungen aus der Zeit.
Die Position hinter dem Lenkrad fühlt sich gut an, die Bedienungselemente des sehr funktionalen Fahrerplatzes sind problemlos erreichbar. Man kommt sofort mit dem Sportwagen zurecht, der einst als schnellster Produktionssportwagen der USA beworben wurde. Der Kompressor glänzt durch Unauffälligkeit, das Handschaltgetriebe - es gab auch eine Automatik - lässt sich gut schalten.
Ob man sich allerdings heute trauen würde, 250 km/h damit zu fahren, oder gar 316,36 km/h, wie es Andy Granatelli bei den Rekordfahrten in Bonneville schaffte, ist eine andere Frage. Wer ein steifes Fahrwerk und eine spielfreie direkte Lenkung erwartet, der ist beim Avanti eher an das falsche Fahrzeug gelangt.
Trotzdem beeindruckt, was die Jungs von Studebaker in knapp 12 Monaten aus dem Boden klopften. Hut ab!
Mit Seltenheitswert
Nur 4643 Avantis wurden in der kurzen Produktionszeit von 1962 bis 1963 hergestellt, wieviele Fahrzeuge davon mit dem Paxton-Kompressor ausgerüstet waren, ist nicht bekannt, doch kann davon ausgegangen werden, dass es sich dabei um eine Minderheit handelt. Gehandelt werden diese Autos in unseren Breitengraden allerdings selten.
Beim portraitierten Fahrzeuge handelt es sich um einen Studebaker Avanti mit Paxton-Kompressor aus dem Jahr 1963. Er wurde uns von der Oldtimer Galerie Toffen zur Verfügung gestellt. Wir danken.
Weitere Informationen
- AR-Zeitung Nr. 27/1962 vom 14. Juni 1962, Seite 47: Studebaker Avanti aus der Nähe betrachtet
- AR-Zeitung Nr. 46/1963 vom 24. Okt. 1963, ab Seite 37: Aus der Entwicklung des Studebaker Avanti GT
- Auto Motor und Sport Heft 10/1963, ab Seite 42: Fahrbericht Studebaker Avanti
- Oldtimer Markt Heft 5/1987, ab Seite 24: Studebaker Avanti
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