Für Mercedes-Benz gehörte der Allradantrieb über Jahrzehnte in Geländewagen wie das G-Modell oder Nutzfahrzeuge wie den Unimog. Mercedes-Entwicklungsvorstand Friedrich van Winsen soll gesagt haben, dass Allradantrieb ein notwendiges Übel für übermotorisierte Fronttriebler sei.
Doch als Audi mit dem Quattro-Antrieb auf den Markt kam und der Erfolg ruchbar wurde, da musste auch Mercedes umdenken, zumal BMW mit dem iX-Allradantrieb bereits früh im Jahr 1985 vorlegte. An der IAA präsentierte Daimler-Benz dann ihre eigene Version, genannt “4Matic”. Kaufen konnte man sie sich zunächst aber nur in den Limousinen und Kombis der Baureihe W124.
Zentrale Stütze des Bauprogramms
Die viertürige Limousine der Baureihe W124 hatte man bereits im November 1984 nach fast acht Jahren Entwicklungsarbeit vorgestellt, sie musste die äusserst erfolgreichen Modelle der Vorgängerbaureihe W123 ablösen.
Die Käuferschaft reagierte zunächst trotzdem skeptisch, doch schliesslich gewöhnte man sich an den modernen und aerodynamisch geformten (cW-Wert 0.29) Wagen und die Verkäufe gingen schnell nach oben, nachdem anfängliche Kinderkrankheiten ausgeräumt werden konnten.
Neuheitenstrauss an der IAA 1985
An der 51. IAA im September 1985 präsentierte Mercedes-Benz nicht nur die Kombiversion der Baureihe W124 sondern auch ein komplett neues Fahrdynamik-Konzept, bestehend aus ASD (automatisches Sperrdifferential), ASR (Antriebs-Schlupf-Regelung) und 4Matic (automatisch schaltender Vierradantrieb).
Zu sehen war gleich alles in Kombination am auf Stelzen präsentierten 300 TE 4Matic mit darunterliegendem Spiegel.
Kombi mit Limousinenqualitäten
Der “T-Kombi” überzeugte auf Anhieb. Elegant und etwas länger als breiter als sein Vorgänger wies er ein überdurchschnittlich grosses Platzangebot auf. Alleine schon der Kofferraum im Normalzustand war mit minimal 530 Litern üppig, bei komplett heruntergeklappten Sitzen konnte eine Ladefläche von 106 cm x 290 cm bereitgestellt werden. Das Reserverad fand seinen Platz in der linken Seitenwand, so dass bei einem Plattfuss nicht der ganze Kofferraum geleert werden musste.
Als cW-Wert gab Mercedes-Benz 0.34 bis 0.35 je nach Motorisierung an, was zwar etwas schlechter war als bei der Limousine, aber immer sehr gut.
Angekündigt wurde der Kombi mit serienmässiger Dachreling als 200 T, 230 TE, 300 TE sowie als 200 TD, 250 TD und 300 TD.
Aufwändig konstruierter Allradantrieb
Beim Allradantrieb “4Matic” hatten die Mercedes-Benz keine Mühen gescheut. Sie wollten eine Lösung ohne Nachteile und mit maximaler Sicherheit bauen, schlicht das beste Vortriebssystem für extreme Fahrsituationen. Um dies zu erreichen, war nicht nur viel Mechanik, sondern auch einiges an Elektronik nötig. Ein selbstkonstruiertes Verteilergetriebe mit Planetengetriebe teilte die Motorkraft auf Vorder- und Hinterräder auf, normalerweise 35 Prozent nach vorne, 65 Prozent nach hinten.
Die Vorderachse konnte mittels Lamellenkupplung zugeschaltet werden, genauso wie ein zentrales Sperrdifferential. Für die nun angetriebenen Vorderräder mussten Antriebswellen verlegt werden, welche teilweise durch die Ölwanne geführt wurden. Auch die Radaufhängungen vorne mussten umfangreich angepasst werden. An der Raumlenker-Hinterachse wurde ein variabel vorspannbares Lamellen-Sperrdifferential montiert. Zur Ansteuerung der einzelnen Komponenten musste ein kompliziertes Hydrauliksystem installiert werden.
Ein neues Steuergerät berechnete auf Basis der Daten von Lenkwinkel- und Drehzahlsensoren die optimale Einstellung der Antriebstechnik aus, in Sekundenbruchteilen, wie damals betont wurde.
Stufenweise und elektronisch kontrolliert
Die ganze Technik wurde stufenweise scharfgemacht. Im Normalfall, sprich Stufe 1, wurden lediglich die Hinterräder angetrieben. In Stufe zwei kam der Vorderrad dazu, der 35 Prozent der Kraft übernahm. In Stufe 3 wurden Vorder- und Hinterradantrieb gekoppelt (längsgesperrt) und in Stufe 4 wurden zusätzlich die Hinterräder gleichmässig angetrieben (quergesperrt).
Je nach Notwendigkeit schaltete die Elektronik zwischen den Stufen hin und her. So wurde beim Anfahren der Vorderradantrieb immer zugeschaltet, beim Beschleunigen nach Bedarf. Beim Bremsen dann wurde der Vorderradantrieb wieder abgeschaltet, um dem ABS, das immer an Bord war, optimale Wirkungsbedingungen zu geben. Die Elektronik war lernfähig, so blieb etwa der Allrad drin, wenn vorher mehrfach hin- und hergeschaltet worden war. All dies sollte für den Fahrer möglichst unmerklich passieren, allerdings erinnerte ihn eine gelbe Leuchte an wechselnde Fahrsituationen.
Schwergewicht
Waren mit dem aufwändigen 4Matic-System alle Nachteile des Allradantriebs (z.B. negative Auswirkung auf Bremsleistung, Verhärtung des Antriebsstrangs, Mehrverbrauch, etc.) ausgeräumt? Nicht ganz, urteilte Gert Hack in “auto motor und sport” schon im Rahmen der ersten Vorstellung. Als Mehrgewicht wurden 95 kg ausgemacht, also fast ein Zentner, der sich wohl auf Fahrleistungen und Verbrauch auswirken würde.
Dies bestätigten die Tester der Automobil Revue, als sie im Dezember 1989 endlich über ausgedehnte Testfahrten berichten konnten. Dabei wurde sowohl die Limousine als auch der Kombi gemessen. Der 300 TE 4Matic mit dem 2960 cm3 grossen katalysatorgesäuberten Reihensechszylinder und 180 PS schaffte den Sprint von 0 bis 100 km/h in 9,6 Sekunden, die Limousine nahm sich wegen der längeren Gesamtübersetzung sechs Zehntel mehr Zeit, war dafür aber mit 215 km/h 13 km/h schneller als der Kombi. Auch beim Verbrauch forderte das Mehrgewicht (gemäss AR 120 kg) seinen Tribut, 14,4 Liter flossen beim Kombi, 13,0 Liter bei der Limousine pro 100 km durch die Bosch-Einspritzung.
Die AR-Redakteure zweigten sich ob der Wirkungsweise des Systems mehr als zufrieden:
“Auf trockener Strasse haben wir keinerlei Unterschiede zwischen einem hinterradgetriebenen W124 und einem mit 4Matic feststellen könne. Kein Wunder, wird doch bei normalen Verhältnissen sowieso nur mit dem gewohnten Hinterradantrieb gefahren. Bei Nässe stellt man unter Umständen fest, dass man weder beim brüsken Anfahren noch auf glitschigen Tramschienen je mit Traktionsproblemen konfrontiert wird. Auf Schnee und Eis ist ein immenser Gewinn an Traktion zu vermerken, und auch die größere Fahrstabilität in Biegungen und Wechselkurven fällt positiv auf. Aber auch der 4Matic bleibt noch ein Übersteuerer, das heisst, er schiebt mit dem Heck nach aussen, was durch das Sperren des hinteren Differentials bei niedrigen Geschwindigkeiten noch verstärkt wird. Und schliesslich gilt auch für die 4Matic die lapidare, aber dennoch oft vergessene Regel: Kürzere Bremswege oder wesentlich höhere Kurvengeschwindigkeiten gibt es auch für den Allrad-Mercedes nicht. Er ist denselben physikalischen Gesetzen unterworfen wie jedes andere Fahrzeug auch. Das Zu- und Abschalten des Vorderradantriebs ist nicht festzustellen, ebensowenig dasjenige der Sperren.”
Vorsprung durch Technikeinsatz?
Mercedes-Benz verlangte in Deutschland (1986) einen Aufpreis von DM 13’224 für den 4Matic-Antrieb beim 300 TE, in der Schweiz wurden (1987) zusätzlich CHF 11’380 verlangt, allerdings kam in beiden Fällen etwas zusätzliche Ausstattung mit. Trotzdem war es schon damals möglich mit einigen weiteren Ausstattungsoptionen fast in sechsstellige Preisregionen zu kommen. Der Basispreis für den 300 TE 4Matic betrug 1987 in der Schweiz CHF 70’980, in Deutschland DM 70’680 (mit geringerem Ausstattungsumfang).
War der aufwändige Allradantrieb, der übrigens erst zur Wintersaison 1987/1988 erstmals lieferbar war, diesen Mehrpreis wert? Dies wollte auch die Zeitschrift “auto motor und sport” wissen und organisierte Ende 1986 einen aufwändigen Allradkonzeptvergleich mit Audi 80 Quattro, BMW 325 iX, Honda Civic Shuttle RT 4WD, Mercedes-Benz 300 E 4matic und VW.Golf Syncro.
Der Mercedes schlug sich gut in diesem Vergleich, er beschleunigte auf auf verschneiter Fahrbahn gut, Schwächen zeigte er überraschenderweise auf links/rechts unterschiedlichem Belag. Immerhin bot er aber überdurchschnittliche Sicherheitsreserven:
“Wer mit dem Mercedes trotz 4matic doch mal in den Graben rutscht, hat keinen Anlaß zur Verzweiflung. In dieser Situation gibt der hinten gesperrte Allradantrieb sein Bestes. Der Mercedes baggert sich am routiniertesten auf die Piste zurück. Die Kombination von 4matic und Antiblockier-System - bei Mercedes serienmäßig - funktioniert mit der an gestrebten Perfektion.”
Wer allerdings erwartet hatte, dass sich Mercedes mit der “4Matic” problemlos von der Konkurrenz absetzen konnte, sah sich nach dem Vergleich in AMS eines Besseren belehrt.
Die Vorzüge des Kombis
Und der neue Kombi, konnte der, unabhängig vom Antriebskonzept, überzeugen? Unbedingt, bezüglich Kofferraumvolumen und Ausgewogenheit war er das Mass aller Dinge, auch wenn die Konkurrenz durchaus interessante Alternativen zu präsentieren wusste. Sowohl BMW 525i Touring als auch der Audi A6 Avant hatten auch ihre Vorzüge, die sie sogar zu günstigeren Preisen in die Waagschale werfen konnten.
Der Mercedes-Benz 300 TE, der mit Handschaltgetriebe in 9,1 Sekunden auf 100 km/h spurten konnte und locker 220 km/h lief, hatte trotzdem viele Freunde und verkaufte sich gut. Sie schätzten die serienmässige Niveauregulierung, die elektrisch schliessende Heckklappe und die insgesamt hohe Komfortkompetenz des Sindelfingers.
Klaus Westrup schrieb schon 1985 für “auto motor und sport”:
“Rund 5000 Mark Aufpreis liegen zwischen den 300 E und dem neuen Kombi namens 300 TE. Für die klassische Käufer-Klientel dieses Autos, nämlich die zahlungskräftigen Mittvierziger, von denen nicht weniger als 25 Prozent Hochschulbildung haben, dürfte die Mehrausgabe selbst dann zu verkraften sein, wenn die Nützlichkeit dieses Autos nur ein Alibi dar stellt. Denn der neue Mercedes-Kombi ist, ganz besonders mit dem Sechszylindermotor, eine der besten Möglichkeiten, lange Etappen mühelos zu bewältigen, auch wenn das Gepäck nur aus der erwähnten karierten Decke besteht. Und wenn er nicht schon auf TE hörte, hier die andere Empfehlung: RW. Wie Reise-Wagen.”
Für heutige Begriffe war der T kompakt, 4765 mm Länge, 1740 mm Breite und 1490 mm Höhe betrugen seine Dimensionen und an Glassscheiben wurde damals auch nicht gespart, was zu einem hellen Innenraum und zu einer formidablen Rundumsicht führte, die auch knifflige Parkmanöver ohne Piepser zuliess.
Modellpflege im Einklang mit der Limousine
Im September 1989 stand auf der IAA in Frankfurt eine komplett überarbeitete Baureihe W124. Statt der seitlichen Gummileistungen gab es nun die berühmten “Sacco-Bretter”, Mercedes nannte diese “seitliche Flankenschutz-Leisten mit integrierten Längsschweller-Verkleidungen”. Es gab auch etwas zusätzlichen Chrom und mehr Karosserieteile in Wagenfarbe. Motorenseitig kam eine Vierventilvariante des Dreiliters dazu, 220 PS stark und neuer Spitzenantrieb im Kombi.
Im September 1992 wurde erneut Veränderungen, dieses Mal eher technischer Natur, angekündigt. Vierventil-Motoren nahmen Einsitz im Bug, für den Kombi gab es nun als Sechszylinder die Varianten mit 2,8 und 3,2 Liter Hubraum. Nur die 4Matic-Version musste weiterhin mit dem alten Dreiliter Vorlieb nehmen.
Der 300 TE 4-Matic wurde vom August 1986 bis zum April 1995 gebaut. Insgesamt 12’094 Exemplare verliessen die Fabrik, vor allem die Schweizer waren grosse Freunde des allradangetriebenen Kombis.
Praktischer Alltagsbegleiter
Wer andere Mercedes-Modelle der Achtzigerjahre kennt, fühlt sich auch im 300 TE 4Matic sofort heimisch. Auf den Allradantrieb macht kaum etwas aufmerksam, man merkt von ihm auch kaum etwas. Die Automatik schaltet sanft, die Servolenkung unterstützt angenehm, einzig das Mehrgewicht macht den Wagen irgendwie ein wenig behäbiger.
Der Wagen wirkt wegen der grosszügig bemessenen Fensterflächen kompakter als er ist. Jedenfalls erzeugt auch das Befahren enger Strässchen keine Schweisstropfen auf der Stirne.
Was damals schon gesagt wurde, stimmt auch heute noch. Der 300 TE ist ein komfortables Alltagsauto, mit dem man gerne auf die grosse Reise geht und dabei dank grossem und variablem Kofferraum auch noch einiges mitschleppen kann.
Wir danken der Oldtimer Galerie Toffen, die den Mercedes-Benz am 28. März 2020 versteigert , für die Gelegenheit zur Probefahrt.
Weitere Informationen
- AR-Zeitung Nr. 37 / 1985 vom 05.Sep.1985 - Seite 19: Attraktive Neuheiten bei Mercedes-Benz
- auto motor und sport / Nr. 24 / 1985 - Seite 104: T-Wagen - Test Mercedes-Benz 300 TE
- auto motor und sport / Nr. 4 / 1986 - Seite 8: Zugzwang - Mercedes-Benz 300E 4matic Fahrbericht
- auto motor und sport / Nr. 1 / 1987 - Seite 18: Schneetreiben - Allradkonzeptvergleich
- AR-Zeitung Nr. 51 / 1989 vom 14.Dez.1989 - Seite 25: Test Mercedes-Benz 300 E/TE 4Matic
- auto motor und sport / Nr. 25 / 1991 - Seite 55: Lust am Laster - Mercedes-Benz 300 TE gegen BMW 525i Touring
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Auf nasser Fahrbahn oder im Schnee merkt man beim Fronttriebler sofort,
ob genug Grip da ist.
Beim Hecktriebler muss man fahren können . . .
Na, ja, jeder wie er mag oder Erfahrungen gesammelt hat.
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