Erwartet hatte man von Mercedes eigentlich einen kleinen Benz, die Zeitschriften waren Ende der Sechzigerjahre voll von entsprechenden Spekulationen, genährt noch durch Erlkönigaufnahmen der kommenden Limousine.
Doch, obschon der Strich-Acht, so inoffiziell wegen des Geburtsdatums 1968 benannt, war zwar kleiner als der zweieinhalb Jahre vorher präsentierte W108/109, löste aber den Mittelkasse-W110 ab, bekannt als “kleine Heckflosse”. Im Vergleich zu diesem wirkte er optisch aber wie von einem anderen Stern.
Schlichte Karosserie
Für die Linienführung war, wie bei der Oberklassenlimousine Paul Bracq verantwortlich. Im Vergleich zur ebenfalls von Bracq stammenden Oberklassen-Limousine war die Karosserie noch geradliniger gestaltet worden, die Scheinwerfer vorne waren eckiger und schlanker, die Heckleuchten geometrischer. Die Gürtellinie lag tief, die Fensterflächen waren gross. Zwischen den verschiedenen Motorisierungen gab es karosserieseitig nur minimale Unterschiede.
Der Radstand entsprach mit 2,75 Metern dem der Baureihe W108, dank kürzerer Überhänge war die Karosserie trotzdem 22 cm kürzer und zudem auch geringfügig schmäler. Optisch allerdings wirkte der Strich-Acht deutlich kompakter.
Nur keine Revolution
Eine Revolution wollte man aber trotz dem komplett neuen Karosseriekleid nicht anzetteln, schliesslich hatte man es mit einer eher konservativen Kundschaft zu tun, die nicht auf Experimente aus war.
So wurden die Motoren der Vorgängerbaureihe weitgehend komplett und mit kleinen Optimierungen übernommen. Angeboten wurden am Anfang zwei Vierzylinder, zwei Sechszylinder und zwei Vierzylinder-Diesel-Aggregate mit einem Leistungsspektrum von 55 bis 130 PS.
Die Getriebe, ein handgeschaltetes Vierganggetriebe und ein Getriebeautomat, waren neu.
Die Hinterachse war ebenfalls eine Neukonstruktion. Es handelte dabei um eine Schräglenkerachse, die aber aus Kontinuitätsgründen in Anlehnung an die bisherige Pendelachse “Diagonal-Pendelachse” genannt wurde.
Fortschritt unter dem Blech
Wie bei der grossen Baureihe hatte man auch für den kleineren Strich-Acht keine Kompromisse bei der Sicherheit gemacht: Eine formfeste Passagierzelle und verformbare Bug- und Heckpartien gehörten genauso dazu wie eine gepolsterte Flächen beim Armaturenbrett, ein grosser Pralltopf für das Lenkrad und nicht splitternde Ausstattungsteile im Innenraum.
Auch das Belüftungssystem war weiterentwickelt worden, die Lenkung gar neu entwickelt.
Platzhirsch
Der neue Mercedes-Benz überzeugte die Presse und die Kunden. Die Zeitschrift Auto Motor und Sport liess den Zweiliter-Vierzylinder gegen die Alfa Romeo Berlina 1750, den BMW 2000, den Ford 26M, den Audi 100 LS und den Opel Commodore antreten.
Der Mercedes-Benz 200 gewann das Karosseriekapitel, konnte im Motoren-/Leistungskapital aber nicht brillieren. Kein Wunder, wenn die Konkurrenz teilweise über zwei Zylinder mehr und generell über mehr Leistung generieren konnte. Der Mercedes-Benz hatte auch keinen Verbrauchsvorteil. Dafür siegte er wiederum beim Kapitel “Handlichkeit und Bedienung” und schwang auch beim Fahrkomfort und in der Fahrsicherheit obenauf. Damit war der Gesamtsieg sichergestellt.
Und der Strich Acht blieb über die kommenden Jahre der Wagen, der in seiner Klasse zu schlagen war.
Mit Sportmotorisierung
Ein Wunsch war allerdings während der ersten Jahre offen geblieben, der nach überlegener Motorleistung. Im Frühling 1972 war es soweit, Mercedes-Benz stellte einen neuen Reihen-Sechszylinder mit 2,8 Liter Hubraum und zwei obenliegenden Nockenwellen vor. Viele Mercedes-Kunden hatten sich zwar ein Wankelaggregat gewünscht, aber diesem Wunsch wollte und konnten die Sindelfinger nicht nachkommen.
Immerhin präsentierten sie mit dem neuen Sechszylindermotor gleichzeitig modernste und dauerhafte Technik. Die beiden Nockenwellen im Leichtmetallzylinderkopf wurden über eine Kette angetrieben, die Kurbelwelle lief in sieben Hauptlagern, insgesamt 12 Gegengewichte sorgten für einen runden Lauf.
Es gab eine Vergaser- (Doppel-Registervergaser von Zenith) und eine Einspritz-Version. Verwendet wurde eine elektronisch gesteuerte Einspritzung von Bosch, die via Steuergerät die Benzinmenge passend zur Drehzahl, zur Gaspedalstellung, zur Motortemperatur und zum Luftdruck (neben anderen Parametern) bestimmte. Auf diese Weise liessen sich 185 DIN-PS bei zivilen 6000 Umdrehungen produzieren.
Bei ersten Messungen schaffte es die Automobil Revue einen 280 E in 9,1 Sekunden von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen und 204 km/h Spitze zu erreichen.
Grosse Streuung
Die Wahl der Kraftübertragung spielte eine grosse Rolle, wenn es um Fahrleistungen ging. Auto Motor und Sport publizierte in der zweiten Hälfte des Jahres 1972 einen detaillierten Fahrtest des 280 E und verglich auch die Beschleunigungszeiten der handgeschalteten Version mit der Automatik-Variante. 9,5 versus 12,9 Sekunden dauerte der Spurt von 0 bis 100 km/h und auch 160 km/h wurden mit der Automatik-Version 6,1 Sekunden später erreicht (26,8 versus 32,9 Sekunden). Bei der Spitze allerdings liefern allerdings beide Versionen exakt 202,2 km/h.
Verbrauchsarm war der 280 E dabei nicht, 17,2 Liter liefen im Test durch die Einspritzdüsen. Trotz der sportlichen Fahrleistungen relativierte Reinhard Seiffert:
“Keineswegs ist der 280 E ein Sportwagen – nicht einmal eine sportliche Limousine. Er behielt den zivilen Charakter dieser Modellreihe bei. Daß er sehr schnell ist, merkt man erst beim Blick auf den Tacho oder — noch besser – beim Reproduzieren der Fahrleistungen in Form exakter Meßwerte. Dann zeigt sich unwiderlegbar, daß die Beschleunigung unter zehn Sekunden auf 100 km/h und die Höchstgeschwindigkeit über 200 km/h liegen. Diese Werte kommen unauffällig zustande – sie entstehen mit weniger Aufregung und Geräusch als ungünstigere Resultate bei anderen Autos, die dennoch als höchst sportlich gelten. Der 280 E kann auf unaufdringliche Weise mehr.”
Und dies war eigentlich exakt das, was die Mercedes-Kunden für DM 21’107 oder CHF 30’600 kaufen wollten.
Langläufer?
Wie sich der 280 E über längere Zeit verhielt, wollte die Zeitschrift Auto Motor und Sport im Jahr 1973 wissen und fuhr den schnellen Sechszylinder über 50’000 km. “Ein teures Auto erwies sich im Unterhalt als vergleichweise kostengünstig”, notierte Helmut Eicker in seinem Abschlussbericht. Ein ausserplanmässiger Garagenaufenthalt war über die ganze Distanz nötig geworden, weil der Motor nur noch auf fünf Zylindern lief (Einspritzventil). Ansonsten gaben nur die vergleichsweise früh abbauenden Stossdämpfer und die Synchronisierung im Getriebe zu kritisieren, während das Auto insgesamt problemlos fuhr und nur 3,84 Pfennig pro Kilometer für Wartung und Unterhalt (ohne Berücksichtigung von Öl, Benzin und Reifen) verschlang. Auch der Ölverbrauch von 0,2 Litern pro 1000 km darf als günstig betrachtet werden, der Verbrauch pendelte sich zwischen 11,9 und 21,6 Litern pro 100 km ein, im Schnitt waren es 15,7 Liter Durchschnittsverbrauch.
Sorgfältige Modellpflege
Wie bei Mercedes üblich, wurde auch der Strich-Acht, dessen Basismodelle sehr beliebte Taxi-Fahrzeuge waren, immer wieder modellgepflegt. 1972 wurde ein Vierspeichen-Sicherheitslenkrad eingebaut, die Frontscheibe war nun immer Verbundglas.
Im August 1973 gab es dann umfangreichere Modifikationen, z.B. der Ersatz der hydraulischen Kupplung beim Automatikgetriebe durch einen Drehmomentwandler. Neu gab es auch beweglich gelagerte, von innen verstellbare Außenspiegel, schmutzabweisende Zierblenden an den A-Säulen, die die Seitenscheiben auch bei widrigen Witterungsverhältnissen sauber hielten, profilierte, verschmutzungsarme Rückleuchten sowie eine Regenrinne an der Heckscheibe.
Abgelöst wurden die Baureihen W114 und 115 dann im Januar 1976 durch die Baureihe 123. Die Produktion der "Strich-Acht"-Typen wurde nicht gleich eingestellt, sondern lief noch bis Dezember 1976, so dass beide Baureihen etwa ein Jahr parallel gefertigt wurden, um den traditionell denkenden Kunden die Wahl zu geben.
Insgesamt waren während neun Jahren rund 1,9 Millionen Strich-Acht-Modelle entstanden, die Produktion des Spitzenmodells nimmt sich dabei mit 22’836 Exemplaren relativ bescheiden aus.
Noch immer ein schneller Reisewagen
Setzt man sich heute in einen 280 E der Baureihe W 115, dann weiss man sofort, dass man in einem Mercedes sitzt. Vorne auf der Haube thront als Peilhilfe der Stern, dasselbe Motiv ist auch auf der Lenkradmitte verankert. Die Instrumente sind elegant und klar gezeichnet, ein Drehzahlmesser fehlt, dafür wird der Schalthebel der Automatik entlang der typischen gezackten Kulisse und über die Stufen P, R, N, D, S und L geführt.
Der Motor startet auf Schlüsseldreh und schon auf den ersten Meter fällt der leicht rasselnde und knurrige Ton auf, der aber nie unangenehm wird. Generell spürt man, dass der Strich-Acht ein komfortables Auto war und ist, das die Besatzung mit einer fast unbeschränkten Rundumsicht verwöhnt.
Mit einem modernen GTI möchte man es auf der Strasse zwar nicht aufnehmen, aber über Untermotorisierung braucht man nicht zu klagen, ein zügiges Mitschwimmen im Verkehr ist problemlos möglich und das Fahren dank grosszügiger Servounterstützung keine Anstrengung.
Überraschend an einer Fahrt im über 40 Jahre alten Mercedes ist, wie modern er sich anfühlt und wie wenig er im Verkehr auffällt, was vielleicht auch an der heute ja durchaus üblichen schwarzen Lackierung liegen könnte. Zum Aufriss taugt die Limousine also nur bedingt, zur gemütlichen und nervenschonenden Ausfahrt zu Viert aber jederzeit.
Der abgebildete rüstige Mercedes-Benz 280E /8 von 1975 wird am 20. Oktober 2018 von der Oldtimer Galerie Toffen versteigert .
Weitere Informationen
- AR-Zeitung Nr. 2 / 1968 vom 11.Jan.1968 - Seite 17: Vorstellung - neue Modelle von Mercedes-Benz
- AR-Zeitung Nr. 1 / 1969 vom 09.Jan.1969 - Seite 15: Langstreckenprüfung Mercedes-Benz 200/220/230/250
- auto motor und sport / Nr. 26 / 1969 - Seite 42: Gemischte Klasse - Sechs Autos im Vergleich (Teil 1)
- auto motor und sport / Nr. 1 / 1970 - Seite 28: Gemischte Klasse - Sechs Autos im Vergleich (Teil 2)
- AR-Zeitung Nr. 17 / 1971 vom 08.Apr.1971 - Seite 33: Welche Chancen hat der Diesel-Personenwagen heute?
- AR-Zeitung Nr. 19 / 1972 vom 27.Apr.1972 - Seite 33: Mercedes-Benz mit Zweinockenwellenmotor
- auto motor und sport / Nr. 10 / 1972 - Seite 32: Vorstellung Mercedes-Benz 280E
- auto motor und sport / Nr. 16 / 1972 - Seite 36: Guter Kern - Test Mercedes-Benz 280 E
- auto motor und sport / Nr. 4 / 1974 - Seite 68: Dauertest Mercedes-Benz 280E
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