Der kleine Lancia Ardea hatte sich für den Turiner Autohersteller eine wichtige Stütze des Geschäfts erwiesen. Das Vorkriegsmodell wurde auch nach dem Krieg weitergebaut, wirkte aber ab Anfang der Fünfzigerjahre neben der modernen Aurelia doch etwas altbacken.
Ein Nachfolger musste her.
Tradition und Moderne
Vittorio Jano erhielt den Auftrag, eine neue kleine Limousine zu entwickeln. Das Ergebnis, im April 1953 auf dem Turiner Autosalon präsentiert, hiess Lancia Appia und sah optisch wie eine geschrumpfte Aurelia Limousine aus. Technisch schien sich der Neuling eng an den Vorgänger Ardea anzulehnen, trotzdem war eigentlich fast alles komplett neu konstruiert.
Zwar kam wiederum ein V4-Motor zum Einsatz, der Winkel zwischen den beiden Zylinderreihen war aber von 17 auf 10 Grad geschrumpft. Die zwei Nockenwellen sassen nicht etwa auf den Zylinderköpfen, sondern waren seitlich am Blick angeordnet und steuerten die Ventile über Stossstangen und Kipphebel an. 35 PS pro Liter leistete das Motörchen, das 1090 cm3 gross war, bei 4800 Umdrehungen.
Eingebaut wurde der V4, der mit einem Vierganggetriebe (Lenkradschaltung) verblockt war, in eine selbsttragende Karosserie, die dank Leichtbau und Verwendung von Leichtmetall für Kotflügeln und Hauben zu einem Trockengewicht (samt Mechanik) von nur 820 kg führte. Mit der gebotenen Leistung war die pfostenlose Limousine mit gegenläufig öffnenden Seitentüren durchaus ein munterer Kamerad.
Das Fahrwerk setzte vorne auf Einzelradaufhängungen, die in ihrer Ausgestaltung an die Konstruktion des Vorkriegs-Lambda zurückgingen, hinten kam eine Starrachse zum Einsatz. Damit lag die Appia-Limousine hervorragend auf der Strasse.
Die Automobil Revue jedenfalls zeigte sich nach einer Probefahrt im Frühling 1953 durchaus angetan vom gebotenen:
“Auf einer Probefahrt mit diesem neuesten Produkt der Lancia-Werke traten sehr beachtliche Fahreigenschaften zutage. Die Federung ist nicht übermässig weich, sondern eher sportlich, dabei aber ausgezeichnet gedämpft, so dass man sie als durchaus angenehm bezeichnen darf. Jedenfalls verfügt der Wagen über eine sichere Strassenlage bei geringer Kurvenneigung der Karosserie. Selbst beim Überfahren einer wirklich schlechten Schlaglochstrecke mit 60-70 km/h blieben Karosserie und Lenkung fast vollkommen ruhig.”
Rund 120 km/h Spitze wurden von Lancia versprochen, ein Verbrauch von etwa 8 Liter pro 100 km vorausgesagt. Damit lag im Vergleich zur Konkurrenz gut.
Trotzdem erfüllten die Verkaufszahlen die gesetzten Hoffnungen nicht ganz. Knapp über 20’000 Exemplare (etwa hälftig links- und rechtsgelenkt) konnten bis 1956 ausgeliefert werden.
Modernisierung zur Serie 2
Im März 1956 stellte Lancia in Genf die zweite Serie des Lancia Appia vor. Antonio Fessia hatte die Limousine gründlich überarbeitet, eigentlich fast ein neues Auto gebaut. Radstand und Länge waren vergrössert worden, der Kofferraum wurde voluminöser. Die Leistung des V4-Motors stieg durch viele Optimierungen auf 43,5 PS bei weiterhin 4800 Umdrehungen, womit auch die Höchstgeschwindigkeit auf 128 km/h angehoben wurde.
Die Einliterlimousine war attraktiver geworden, die Konkurrenz allerdings hatte auch aufgerüstet, so dass bis 1959 weitere 22’425 Exemplare gebaut werden konnten, nur noch eine Minderheit verfügte dabei über ein rechts angeordnetes Lenkrad.
Interessant war aber, dass es im Gegensatz von der Serie 1 bei der zweiten Serie auch eine Ausführung für Spezialkarosserien gab. Bisher waren zwar auch Umbauten entstanden, doch basierten diese immer auf der Limousine.
Eine Version für die Karosseriebauer
Im Jahr 1956 lieferte Lancia erstmals eine spezielle Plattformversion mit Typennummer 812.00 oder 812.01 des Appia-Grundaufbaus an einige Karosseriebauer wie Allemano, Boano, Ghia Aigle, Pinin Farina, Vignale oder Zagato. Diese machten sich sofort ans Werk. Auf dem Turiner Autosalon 1956, der kurz nach dem Genfer Salon im April/Mai stattfand, konnten erste Ergebnisse bereits präsentiert werden.
So zeigte Vignale ein zweisitziges Coupé mit ungewöhnlicher Linienführung, bei der die Kotflügelspitzen vorne direkt in die Stossfänger übergingen. Der Kühlergrill dazwischen war in die Breite gezogen und wies zwei integrierte Scheinwerfer auf.
Allemano stellte ein zweitüriges Coupé vor, dessen “weiche Linienführung” ein wenig an Fahrzeuge von Alfa Romeo erinnern liess. Boano zeigte ein Coupé, das deutlich konservativer, aber durchaus edel wirkte. Auch Pinin Farina war mit einer Appia-Fingerübung nach Turin gekommen.
Ein knappes Jahr später wurden dann in Genf diejenigen Spezialkarosserien gezeigt, die es ins offizielle Programm von Lancia schafften und entsprechend auch von der Vertriebsinfrastruktur des Turiner Herstellers profitieren konnten.
Vorgestellt wurden schliesslich Versionen von Pinin Farina (Coupé), Zagato (Coupé) und Vignale. Sie alle profitierten nun vom auf 52 PS (bei 5200 Umdrehungen) erstarkten V4-Motor, was in Zusammenarbeit mit den flacheren und aerodynamischeren Aufbauten für bis 150 km/h Spitze reichen sollte.
Das Vignale-Cabriolet wurde besonders gelobt:
“Das schönste Stück unter den von Vignale gezeigten Karosserien ist zweifellos das Lancia- Cabriolet, das in Serie gebaut wird.”
Design von Michelotti, Bau durch Vignale
Giovanni Michelott, der das Vignale-Cabriolet zeichnete, hatte keine Experimente gemacht und ein gradliniges Design vorgelegt. Das zunächst zweisitzig ausgeführte Sportcabriolet verfügte über ein komplett versenkbares Faltdach und einen breiten Kühlergrill mit separat aussen angeordneten Scheinwerfern. Gegenüber der Limousine waren die Dimensionen etwas grösser, das Cabriolet mass 4,25 Meter in der Länge und 1,51 Meter in der Breite. Es wog auch etwas mehr und kam gemäss Prospekt auf 950 kg Leergewicht. Als Höchstgeschwindigkeit waren über 140 km/h möglich. Gefertigt wurde das Cabriolet durch die Carrozzeria Alfredo Vignale.
Die Leistung stieg im Laufe der Bauzeit auf 54 PS, die Zahl der Sitze auf vier. “Ein geräumiger Wagen mit mannigfaltiger Verwandelbarkeit: Roadster, Cabriolet und – dank des leicht zu montierenden Hardtops – auch im Winter zu verwenden als Coupé”, stand 1962 im Verkaufsprospekt von Lancia.
Alternativen
Wer kein Cabriolet wollte konnte aus drei Coupés auswählen, wovon eines von Vignale stammte und im Prinzip als Coupé-Version des Convertibile entstand. Es hiess Appia Lusso Vignale.
Auch von Pinin Farina gab es ein Coupé, das vor allem durch seine Panorama-Heckscheibe herausstach. Der Verkaufsprospekt beschrieb die Version folgendermassen: “Ein Fahrzeug mit klassisch schöner italienischer Linie, in hervorragender Ausstattung und wohnlicher Geräumigkeit; ein Fahrzeug, das sich über den Durchschnitt erhebt.
Auf Sportlichkeit und Leichtbau war die Zagato Version ausgerichtet, die ab den Sechzigerjahren Appia GTE “Zagato” genannt wurde. “Ein Fahrzeug, das bei sportlichem Gepräge Eleganz und Komfort vereinigt, das den Genuss der höheren Geschwindigkeiten und der hohen Durchschnitte auf jeder Fahrstrecke vermittelt”, lobte der offizielle Lancia-Verkaufsprospekt.
Weiter mit Serie 3
Unterdessen hatte Lancia die Appia-Limousine nochmals verbessert. Das Ergebnis stand im März 1959 auf dem Genfer Autosalon.
Die Automobil Revue kommentierte:
“Das Modell Appia Serie 3 mit einem leistungsfähigeren Mo-or, verbesserten Vorderradbremsen, kleineren Rädern (14 statt 15 Zoll), abgesenktem Schwerpunkt und einer verbesserten Heizungs- und Defrosteranlage; äusserlich erkennt man den Appia 3 an seinem neuen Kühlergesicht, das anstelle der Lancia-Wappenkontur ein breitgozogenes Grill ähnlich jenem der zierlichen Spezialkarosserien nach Vignale und Pinin Farina zeigt. Da die Motorhaube aber kurz und gedrungen aussieht und nach vorn stark- abfällt, wirkt der neue Appia nicht mehr so zierlich wie bisher.”
Die Optik war natürlich Geschmacksache, beim Publikum jedenfalls kam die überarbeitete Appia-Version gut an. Immerhin konnten über 55’000 Serie-3-Limousinen bis 1963 verkauft werden, womit die ersten beiden Serien klar übertroffen wurden.
Ersetzt wurde der Lancia Appia 1963 durch den frontangetriebenen Lancia Fulvia, der zwar die enge V4-Motorkonfiguration erbte, sonst aber kaum etwas mit seinem Vorgänger gemeinsam hatte.
Beliebt, aber nicht wohlfeil
Von allen Spezialkarosserien – 5161 Chassis wurden an die Karosseriebauer ausgeliefert – war das Vignale-Cabriolet die beliebteste Variante mit 1584 zwischen 1957 und 1962 gebauten Exemplaren. Die Motoren leisteten am Schluss 60 PS und über die Bauzeit übernahm natürlich auch die offene Version die technischen Verbesserungen des Basis-Appia.
Schon von Anfang übrigens wurden die stärkeren Spezialversionen mit Weber- anstatt Solex-Vergasern ausgerüstet.
Preislich lag die offene Version des Appia rund 50 Prozent über der Limousine, 1960 kostete ein Appia Serie 3 CHF 10’950, das Vignale Cabriolet CHF 16’600. Für dieses Geld erhielt man auch einen Alfa Romeo Giulietta Spider mit etwas Wechselgeld, während ein Fiat 1200 Cabriolet nur CHF 12’500 kostete. Ein Mercedes-Benz 190 SL stand damals mit CHF 21’300 in der Preisliste, ein Porsche 356 1600 Cabriolet mit CHF 17’550, ein Triumph TR3 mit CHF 12’650.
Die Sonne im Nacken
Für die doch nennenswerte Summe erhielt man Ende der Fünfzigerjahre, als das gefahrene Vignale Cabriolet gebaut wurde, ein ausgereiftes und fortschrittliches Fahrzeug. Der Wagen ist sehr angenehm zu fahren, fühlt sich sportlich an und tönt auch so.
Die Übersichtlichkeit ist sowieso fast unschlagbar (zumindest bei geöffnetem Dach) und viele schöne Details zeigen die Liebe der Karosseriebauer zu ihrem Produkt.
Ein gut schaltbares Getriebe und ein überaus handliches Fahrzeug mit kleinen Abmessungen machen das Befahren von engen Landstrassen zu einem grossen Vergnügen.
Vielleicht würde man sich heute eine etwas exaltiertere und stimmigere Karosseriegestaltung wünschen und auch bei der Bedienung wären noch Verbesserungen (z.B. beschriftete Schalter) möglich gewesen.
Aber für ein inzwischen 60-jähriges Auto hat sich das Vignale-Cabriolet hervorragend gehalten und ihre Besitzer freuen sich sicherlich auf jede Ausfahrt.
Wir danken der Oldtimer Galerie Toffen , die uns die Gelegenheit zur Fotofahrt mit dem Lancia Appia Vignale Convertibile von 1959 bot.
Weitere Informationen
- AR-Zeitung Nr. 19 / 1953 vom 22.Apr.1953 - Seite 11: Ein neuer kleiner Lancia
- AR-Zeitung Nr. 10 / 1956 vom 07.Mrz.1956 - Seite 17: Lancia Appia in neuer Ausführung
- AR-Zeitung Nr. 21 / 1956 vom 02.Mai.1956 - Seite 17: Italienische Spezialkarosserien (Turiner Autosalon)
- AR-Zeitung Nr. 3 / 1957 vom 23.Jan.1957 - Seite 11: Lancia Appia auch mit Spezialkarosserien
- AR-Zeitung Nr. 13 / 1957 vom 20.Mrz.1957 - Seite 19: Präsentation in Genf
- AR-Zeitung Nr. 12 / 1959 vom 16.Mrz.1959 - Seite 15: Italienische Wagen im Blickfeld
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Der Appia Lusso ist ein äusserst seltenes Modell. In freier Wildbahn ist mir noch nie ein zweiter begegnet und ich denke das wird auch nicht so schnell passieren! Es wurden nur ca. 470 Stk. gebaut, alle in ausgezeicneter Qualität. Auch 60 Jahre nach seinem Bau knarrzt und quietscht bei meinem Lusso gar nichts!
Tolles und seltenes Auto!
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