War es zu Beginn des 20. Jahrhundert noch üblich, ein Chassis zu kaufen und dann zum Karossier der Wahl zu gehen und dort einen Aufbau herstellen zu lassen, begann in den Dreissigerjahren die Einführung von Standard-Aufbauten, die meist aus gepressten Stahlblechteilen bestanden, die zusammengeschweisst wurden. Wer es sich leisten konnte, führte allerdings die Tradition des durch einen Karosseriebauer individuell konstruierten Aufbaus fort.
Das Aufkommen der selbsttragenden Karosserie in den Fünfziger- und Sechzigerjahren schliesslich machte den meisten Karosseriebauern den Garaus. Doch bis heute bleiben ihre klingenden Namen - z.B. Franay, Figoni & Falaschi, Saoutchik, Chapron, Wendler, Rometsch, Reutter, Mulliner Park Ward, Pinin Farina, Frua, Touring, Tüscher, Worblaufen, Graber - in guter Erinnerung und die von ihnen eingekleideten Fahrzeuge gelten als Besonderheiten.
Die Erforschung des Werdegangs individuell karossierter Fahrzeuge bereitet allerdings oft grosse Schwierigkeiten, besonders wenn sie vor langer Zeit gebaut wurden. Oftmals existieren die Unternehmen, die für die Aufbauten verantwortlich waren, nicht mehr, Auftrags-Bücher und Unterlagen sind über die Jahrzehnte verloren gegangen oder wurden verstreut.
Glücksfall Schweiz: Hier findet man im Archiv des Swiss Car Register sehr viele Unterlagen zu Schweizer Spezial-Karosserien. So auch zu einem Einzel-Stück Hermann Grabers auf einem Bentley-Chassis mit interessanter Geschichte, die Dank der historischen Unterlagen zum Fahrgestell im Swiss Car Register rekonstruiert werden konnte.
Das Bentley Mk VI Chassis B138BH
Am 23. Juli 1947 lieferte die Firma Bentley in Crewe das Chassis mit der Nummer B138BH aus, eines von 832 Chassis mit dem 4,3-Liter-Sechszylindermotor (Nr. B69B), der von zwei SU-Vergasern mit Treibstoff versorgt wurde. Das Chassis wurde exportiert, um einem Karosseriebauer als Basis zu dienen.
Im September 1947 wurde das Fahrgestell gemäss dem Swiss Car Register vorliegenden Zoll-Informationen via den Grenzbahnhof Genf in die Schweiz eingeführt.
In einem Artikel in der Rolls-Royce Clubzeitung „Flying-Lady“ wird aber die Chassis-Nummer B138BH einem am Pariser Autosalon im Oktober 1948 ausgestellten glattflächigen Bentley Mk VI Cabriolet-Aufbau von Franay zugeordnet.
Tatsächlich vermerkt die Bentley-Chassis-Karte als Zieladresse die Bellevue Garage in Bern und als vorgesehenen Karossier ist Franay (in Frankreich) eingetragen. Dem widersprechen aber die durch das Swiss Car Register zusammengetragenen Fakten. Denn, warum hätte man das Chassis im September 1947 in die Schweiz einführen sollen, wenn es ein Jahr später fertig karossiert in Paris stehen sollte?
Das nächste gesicherte Datum ist der 11. März 1948. An diesem Tag trug Hermann Graber, der wohl berühmteste Schweizer Karossier jener Zeit, die Kommissionsnummer 592 zusammen mit der Chassis Nr. B138BH in sein berühmtes Auftragsbuch ein. Auftraggeber war die Garage “Perrot, Duval & Cie.”
Pontonförmig oder traditionell?
Im Mai 1949 wurde der inzwischen fahrfertige, rechtsgesteuerte Wagen an Dr. Leo Gentinetta, einem in Zermatt lebender Auto-Connaisseur, ausgeliefert. Es wird vermutet, dass der Aufbau im damals üblichen Stil mit herausragenden Kotflügeln erfolgte und noch keine Anzeichen der langsam in Mode kommenden Pontonform aufwies. Bisher konnte aber nicht zweifelsfrei geklärt werden, wie der Wagen wirklich die Graber-Werkstätte verliess.
Gentinetta fuhr den Wagen, der dem vorgängig dargestellten, hell lackierten Fahrzeug, welches aus der gleichen Schaffensperiode Hermann Grabers stammt, vermutlich ähnlich sah, viel und war wohl recht begeistert davon.
Graber zum Zweiten
Irgendwann im Jahr 1954 oder 1955 musste dem Herrn Gentinetta ein gröberes Malheur passiert sein, denn im ersten Quartal 1955 tauchte der Wagen dann wieder im Auftragsbestand von Graber auf. Ein offensichtlich erheblicher Unfallschaden war zu beseitigen und man entschied sich gemäss den vorhandenen Rechnungsunterlagen dafür, das Chassis mit einer neuen Karosserie zu versehen. In mehreren Monaten und mit viel Aufwand entstand ein äusserlich praktisch neuer Wagen, der nun eine moderne Pontonform aufwies und in einer hellen Farbe lackiert war.
Die Rechnung lautete auf über 25’000 Franken, was etwas weniger war, als ein neues Alvis TC 21 Cabriolet bei Graber gekostet hätte oder dem Wert von vier VW Käfer De Luxe entsprach. Neben dem Aufbau der neuen Karosserie schlug insbesondere das Herrichten des Chassis stark zu Buche.
Die Antwort auf die Frage, warum Herr Gentinetta soviel Geld bezahlte, um einen bereits acht Jahre alten Wagen zu erneuern, bleibt im Dunkeln. Vermutlich hatte er ihn einfach geliebt und natürlich was ein Bentley auch nach vielen Jahren noch ein zuverlässiges und angenehm zu fahrendes Fahrzeug. Hätte er sich für ein neues Chassis entschieden, so hätte Herr Gentinetta zwischen den Fahrgestellen des Typs R und des Typs S von Bentley wählen können.
Immer im gleichen Besitz
Auf einem Foto, das wohl bei der Ablieferung des neu aufgebauten Fahrzeugs gemacht wurde, sieht man Unterschiede zum Wagen, wie er heute dasteht.
In den Graber-Unterlagen im Swiss Car Register sind denn auch nach dem Jahr 1955 weitere Unfallreparaturen zu finden und es ist gut denkbar, dass anlässlich einer dieser Operationen die Nebelscheinwerfer nach vorne auf die Stossstangen gewandert sind.
Bis 2013 stand der Bentley Mk VI in den Diensten von Herrn und Frau Gentinetta, dann aber wurde der Wagen von Bonhams in Paris versteigert, und machte damit erstmals öffentlich auf sich aufmerksam, unrestauriert, so wie Graber ihn karossiert hatte. Man spricht heute ja gerne vom Oldtimer als Kulturgut, nun, hier liegt ein Beispiel vor, das tatsächlich einmalig ist in seiner Entstehungsgeschichte und erhaltenen Originalität.
Noch sind aber nicht alle Geheimnisse des Bentley Mk VI mit Chassis-Nummer B138BH gelüftet, dem allfälligen neuen Besitzer wird geraten, sich mit dem Swiss Car Register in Verbindung zu setzen, um die Geschichtsschreibung zu komplettieren.
Zwischengas bedankt sich beim Swiss Car Register für die gute Zusammenarbeit bei den Recherchen zu diesem Artikel.
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